Myrina + Panagia Kakaviotissa

Limnos gefällt mir. Viel besser als Samothraki. Denke ich, als ich ersten Nachmittag zur Panagia Kakaviotissa wandere. Nicht dass das eine besonders spannende Landschaft wäre. Im Gegenteil: sie ist geprägt vom stetig wehenden Wind, und niedrigen, ockerfarbenen Erhebungen mit wenig Bäumen. Der höchste Berg auf Limnos, die Vigla (der Name "Hochstand, Ausguck" ist Programm. Zumindest für das Militär) im Nordwesten, schafft gerade mal auf 430 Meter. Peanuts zum 1.611 Meter hohen Gipfel des Fengari auf Samothraki. Und Samothraki ist viel kleiner als Limnos, immerhin neuntgrößte griechische Insel. Und im Inselosten ist noch flacher. Dennoch öffnet sich mein Herz beim Anblick: so gefällt mit Griechenland! Die fernen Höhen, die meine Aufstiegsfähigkeiten überfordern, die bachdurchflossenen Platanen- und Eichenwälder - dafür brauche ich doch nicht nach Griechenland fahren. Der Rest von Ziegen zerfressen: nein, Samothraki war nicht meins. Weshalb ich nun für meine Berichte von sonstigen chronischen Gewohnheiten abweiche und Limnos vorziehe. Im doppelten Wortsinn.

 

Die uns von den Kykladen bekannte "Adamantios Korais" hatte Theo und mich am Donnerstagnachmittag pünktlich und in knapp drei Stunden nach Myrina gebracht, wo wir im Hotel "Lemnos" an der neu gestalteten und angenehm ruhigen Paralia zwischen altem Fähranleger und altem Hafen Quartier bezogen hatten. Fühlten wir uns nach den großzügig dimensionierten Zimmern auf Samothraki nun in den kleinen Räumen zunächst eingeengt, so merkten wir im Laufe der Tage, dass nicht nur die Aussicht auf die Bucht des Tourkikos Gialos mitsamt Fähranlegern und Fischerhafen, sondern auch die kurzen Wege vom "Lemnos" jeden Cent der 40 Euro pro Nacht wert waren. Und auch das Parken des Mietwagens am Fähranleger war problemlos.

 

Für fünf Euro zusätzlich gab es Frühstück, das allerdings an fünf Tagen keinerlei Variationen unterworfen war: heißes Wasser für Nescafé oder Tee, Orangensaft, pro Person zwei Brötchen und Scheiben Zwieback, Käse und Schinken, zwei Portionspackungen Butter, eine Honig und Marmelade und Marmorkuchen. Bleiben die Gäste sonst nicht so lange? Egal, es schmeckte und stärkte für den Tag, auch wenn doch etwas zu viel Müll zurück bleibt.

Am ersten Tag erkunden Theo und ich auf getrennten Wegen Myrina, die an der Westküste gelegenen Hauptstadt von Limnos und mit gut 5.000 Einwohner eine sympathische Kleinstadt, in der es alles gibt, was das griechische und auch das touristische Leben brauchen: einen schnuckeligen Fischerhafen mit Tavernen und Ouzerien, eine gepflegte, gepflasterte Marktgasse namens Kida mit Cafés und Läden des täglichen Bedarfes und auch dessen, man nicht unbedingt benötigt.
Dazu eine große Bischofskirche samt kirchlichem Museum, ein archäologisches Museum, eine Zweigstelle der Universität der Ägäis. Kein Bekanntschaft will man sicher mit dem großen Krankenhaus machen.

 

Neben zwei Stränden gibt es für die Optik ausreichend historische Bausubstanz, dazu wird das Ganze überragte von der imposanten Ruine der Burg auf dem mächtigen Kastrofelsen. Kurz und gut: eigentlich muss man Myrina nicht verlassen. Ob das der Grund ist, warum der Busfahrplan streng geheim ist? Es gibt zwar einen Busbahnhof, und dort stehen auch Busse. Aber auf meine Frage am Schalter erhalte ich die Antwort, dass es kein Fahrplan gäbe. Offenbar eine konzertierte Aktion der KTEL mit den Taxifahrern und Mietwagenverleihern. Nun gut, wir wollten uns eh ein Auto leihen. Morgen dann.

 

Myrina ist heute von grauen Wolken überdacht, und der Wind bläst mit Sturmstärke. Was er auf Limnos wohl oft tut. Mein erster Weg führt, nach einer Schleife zum vormittäglich noch recht verlassenen Fischerhafen, durch die Kida-Marktgasse unterhalb der Burg vorbei  in den nördlichen Ortsteil, am Roméikos-Strand gelegen. Von Palmen umstanden ist die Mitropolis-Kirche Agia Triada, die an einen großen Kindergarten und eine Grundschule grenzt. Myrina zeigt sich hier als junge Stadt, während die Senioren sich offenbar lieber am alten Hafen im Stadtsüden aufhalten - auch eine abendliche Teilung.

 

Mein Bummel endet jenseits des Omilos Naftikos Limnou - auf einem kleinen Felsenkap, das den Romeikos-Strand beendet, befindet sich die Offiziersmesse, streng abgesperrt. Militär ist hier nie weit, wie ich noch bald merken soll.

Zeit für einen Museumsbesuch. Nach Vorzeigen meines digitalen Impfzertifikates und Bezahlen von drei Euro Eintritt darf ich ins archäologische Museum, das nahe des Romeikos-Strandes in einem neoklassizistischen Haus untergebracht ist.  Zunächst bekomme ich einen Film über die wichtigsten antiken Stätten vorgespielt: das vielschichtige Poliochni an der Ostküste soll die älteste europäische Stadt sein, das Inselchen Koukonisi bei Moudros war ebenfalls schon sehr früh besiedelt. Dazu Myrina, Hephaisteia, Kaviri - auf Limnos scheint geradezu die Wiege der Ägäis gelegen zu haben. Eigentlich unglaublich, dass man dies nicht stärker touristisch vermarktet. Aber Limnos und Tourismus, das ist eine ambivalente Sache, denn die Militärpräsenz auf der Insel ist enorm, und durchaus auch historisch bedingt, und neugierige Touristen und Militärsperrgelände - das passt nicht so recht zusammen.

 

Präpariert durch den Film sehe ich mir nun die Exponate an. Diese sind nicht so spektakulär, aber gut aufbereitet. Leider ist der 2. Stock nach Schäden durch das Erdbeben von 2014 immer noch geschlossen, das Gebäude ist renovierungsbedürftig. Ein Umzug in das sogenannte Christodoulideio-Herrenhaus einige Meter weiter ist angedacht.

 

Ich passiere das Herrenhaus, als ich vom Museum Richtung Burghügel gehe. Die Promenade hier wird von Cafés und Bars dominiert. Die Ägäis brandet wuchtvoll an die Küste.
An der Übergangsstelle von Strand und Burghügel steht eine hübsche kleine Kapelle, der Agia Paraskevi geweiht. Daneben ein Café, und dahinter beginnt der Aufstieg zur Burg, den ich nun in Angriff nehme.

Schon im 3. vorchristlichen Jahrtausend siedelten hier die Pelasger, die Zyklopenmauern errichteten. In der Antike wurden sie zur Akropolis, zur Oberstadt ausgebaut. Später hatten von hier aus Byzantiner, Venezianer und Osmanen die Insel im Blick. Erst 1912 wurde Limnos griechisch.

Auf einer breiten Treppe wandere ich hoch bis zum verschachtelte Haupttor, ab hier verlieren sich zahlreiche Wege im weitläufigen Gelände. Ich halte mich unten, wo es windgeschützter ist, während auf der höchsten Zinne die griechische Flagge im Wind knattert. Der Blick nach Norden und Osten über die Bucht und Myrina ist beeindruckend. Auch die sich dahinter anschließende Hügellandschaft gefällt mir, obwohl oder gerade weil nahezu baumlos.

 

In einer weiten Runde gegen den Uhrzeigersinn nähere ich mich dem Leuchtturm, der am westlichen Rand des Burgberges steht. Immer in der Hoffnung, irgendwo Damwild zu sehen. Laut meines Reiseführers "Limnos" von Ulli Grundner und Peter Einhorn aus dem Jahr 2011 soll es etwa hundert der Tiere auf dem Burgberg geben, die einstmals ein Geschenk der Insel Rhodos waren. Aber weder heute noch bei zwei weiteren Kastrobesuchen und trotz systematischer Suche, auch mit dem Fernglas, werde ich einen der Damhirsche oder der kleineren und geweihlosen weiblichen Damtiere mit den hübschen weißen Tupfen zu Gesicht bekommen. Vielleicht sind sie nur noch ein Mythos?

Wegen des starken Windes traue ich mich nicht auf die höchste Plattform der Burg, die nach Süden ausgerichtet ist. Aber auch etwas unterhalb hat man nun einen guten Blick auf die Bucht des Tourkiko Gialos, des südlichen Strandes, zum alten Hafen und hinüber zu neuen Fähranleger. Die Ai-Strati-Fähre fehlt - zu viel Wind für eine Überfahrt. Dafür versorgt ein Tankschiff Limnos mit Benzin.

 

Ich streune noch in der Burgruine herum, als mich ein SMS von Theo erreicht. Er ist inzwischen am Romeikos Gialos angekommen und hat Hunger. So treffen wir uns wenig später unten und kehren in der Ouzeri "To 11" ein. Gerade rechtzeitig: der hübsche Hof mit den farbfrohen Stühlen ist wenig später komplett belegt, aber da lassen wir uns schon Oktopus-Salat, Fava und knusprige Keftedakia samt Weißwein schmecken.

So gestärkt beschließe ich, den Nachmittag einem Nahziel zu widmen: der Panagia Kakaviotissa. Die Kapelle ohne Dach liegt etwa vier Kilometer östlich von Myrina. Bus gibt es keinen dahin, und zu Fuß ist es mir etwas zu weit, zumal ich den genauen Weg aus der Stadt heraus nicht weiß. Sieben Euro möchte der Taxifahrer, und warnt mich gleich, dass er mich nur bis zur Wegkreuzung bringen kann. Danach sei die Straße zu schlecht. In Ordnung. In wenigen Minuten erreichen wir die östliche Umgehungsstraße, dann biegt das Taxi rechts in eine Schotterstraße ein und hält nach wenigen Metern. Weiter könne er nicht fahren, ich müsse hier die Straße entlang, da ginge es zur Kapelle.

 

Ich stehe am unteren Ende eines flachen Hochtales, über das der Wind in heftigen Böen bläst. Bis zur Abzweigung (und dem Parkplatz) zur Kapelle sind es zweieinhalb Kilometer auf einer Schotterpiste, wie ich sie in den nächsten Tagen öfters unter die Räder unseres Mietwagen nehmen werden. Ganz schön empfindlich, die limnischen Taxifahrer und deren Karossen. Aber gut, bisher bin ich in diesem Urlaub noch nicht nennenswert gewandert, dann wird es mal Zeit.

 

Die Piste führt sanft bergauf und wenn mir nicht gerade ein Windstoß Staub in die Augen bläst, dann läuft es sich ganz angenehm. Auf der linken Seite ein paar spitze Hügelkuppen in Fels und Ocker und Felder in Hellgrün. Darüber getupft ein paar dunkle Bäume. Es gibt hier also doch Bäume, obwohl man uns auf Samothraki bedauerte, als wir unser nächstes Reiseziel verkündeten: schöne Strände dort auf Limnos, aber keine Bäume. Was mich überhaupt nicht störte, und nun, wo ich die Landschaft sehe, geradezu mit Glück erfüllt: gefällt mir! Und Bienenstöcke hat es auch, denn Limnos hat ja bekanntlich den besten Honig der Ägäis. :-)

Ein Felsen zu meiner Rechten ist mit einer Kapelle gekrönt, aber das ist die Panagia Vrachni und nicht mein Ziel.

Nach 35 Minuten erreichen ich den kleinen Parkplatz, von dem nun rechts ein Kalederimi, ein gepflasterter Treppenweg auf einen felsigen kleinen Berg, den Kakkavos, abzweigt.  Kurz darauf überschreite ich einen Mini-Pass und bin wieder auf einer kleinen, sehr windigen Ebene mit einem angelegten Picknickplatz, umrahmt von Felsen. Ein Paar kommt mir entgegen, der Mann lehnt sich demonstrativ in den Wind.

 

Der Blick nach Süden wird frei, auf die Bucht von Nevgatis, und dahinter die Fakos-Halbinsel. Über die Ebene nun wieder sanft bergab, und schon nach wenigen Minuten steht ich am Fuß eines Felsen, auf den eine steile Treppe führt. Ein Kreuz obendrauf. Mhh, ich dachte, die Kapelle wäre im Tal, unter einem Felsen.

Ist sie nicht. Sie liegt auf einem Felsenkamm, und hat kein Dach. Das heißt, sie hat schon ein Dach, aber ein natürliches aus Felsen, unter dem die puppenstubenartige Kapelle in einer Art halboffenen Höhle liegt. Die weißen Mauern sind ungefähr einen Meter hoch. Ein Vorraum, dahinter der Hauptraum, vollgestopft mit Ikönchen und Heiligenbildern aller Art. Das Ganze ist viel kleiner als ich mir vorgestellt hatte. Ob man da mal einen Stall umfunktioniert hat? Schon 1305 (oder 1416 nach anderen Quellen) sollen Mönche von Agios Efstratios hier Zuflucht vor den Türken gesucht haben. Das Panigiri findet jeweils am Dienstag nach Ostern statt, dann wird die Ikone von Kontias heraufgebracht, die der letzte Mönch einer Familie namens Moumtzis übergeben hatte und die sie bis heute hütet.

Es ist irgendwie ein niedlicher, und vielleicht auch beeindruckender Ort. Blöderweise bin ich aber nicht alleine hier. Vier junge Griechen, drei Mädchen und ein Junge, albern lautstark herum. Ob sie auch ihre Namen auf die Felsenwände gemalt haben, wie zahlreiche Vorgänger? Und was soll dieses Holzgestell mit Haarbändern, das außerhalb der Kapellenmauer steht? Votivgaben heiratswilliger junger Frauen, oder Liebesschwüre?

Zum Glück gehen die Jugendlichen, und ich kann die Panagia Kakaviotissa alleine genießen. Schon faszinierend, die Lage in den Felsen, abgeschirmt von der Außenwelt und auch recht windgeschützt. Was auf Limnos immer ein Pluspunkt ist.

Eine Stunde habe ich insgesamt für den Weg gebraucht, und nach einer Dreiviertelstunde Aufenthalt mache ich mich wieder auf den Rückweg. Es ist schon halb fünf. Es soll auch einen Weg nach Nevgatis hinab geben, aber zum Glück lasse ich den sein, denn Nevgatis ist kein wirklicher Ort,und die Straße von dort nach Myrina schlängelt und zieht sich ganz schön, etwa durch Thanos. Aber das werde ich erst am nächsten Tag sehen.

Es kommen mir nochmals zwei Wanderer entgegen, die nach dem Weg fragen. Ihr seid gleich da, kann ich antworten. Für mich geht es nun konstant bergab, erst der Fußweg, dann die Piste.

 

Vom Taxifahrer habe ich mir ein Kärtchen geben lassen, damit er mich für die Rückfahrt hier abholen kann. Aber als ich gegen fünf Uhr an der Einmündung zur Umgehungsstraße stehe und die Flagge auf der Burg von Myrina wehen sehe, finde ich das eigentlich recht nah. Zumal eine Straße direkt weiter bergab nach Westen zur Stadt führt, durch Gärten, Pferche und Hinterhöfe über den Tsas-oder auch Dapia-Hügel. Auf dem Weg kann ich im großen Masoutis-Supermarkt gleich noch etwas einkaufen, und um 18 Uhr bin ich im Hotel zurück.

Zehn Kilometer bin ich gewandert, und zufrieden mit mir und der Welt.

Zum Abendessen gehen wir ins "Limanaki" am alten Hafen. Es ist frisch, und so sitzen wir lieber drinnen. Wofür man 2-G braucht, und die Wirtin fragt tatsächlich nach unserem Impfzertifikat. Zeigen lässt sie es sich aber nicht. Wir bestellen Rote Bete und Tsatsiki als Vorspeisen, für mich dann Bujurti und für Theo Galeos. Die Portionen sind groß, die Qualität ordentlich. Ich bin ziemlich müde.

 

Morgen wollen wir ein Auto mieten und anfangen, die Insel zu erkunden. Hoffentlich kommt dann die Sonne raus und der Wind lässt nach.