Vigla

Am Donnerstagabend wird die "Prevelis", von Karpathos kommend, meine frühere Reisebekanntschaft Jörg mitbringen. Gemeinsam wollen wir wandern. Jörg war in den letzten Jahren öfters hier und kennt sich gut aus, im Gegensatz zu mir. Und da er ein ausdauernder Wanderer mit sehr langen Beinen ist, hab ich etwas Muffe ob ich mithalten kann, zumal nach dem gezwungenermaßen weniger aktiven Corona-Winter und -Frühjahr. Falls mein absolviertes Treppensteigprogramm nicht gewünschten Effekt zeigt.

 

Zum Einstieg haben ich mir gleich den Vigla ausgesucht. Oder die Vigla, wie Jörg richtigerweise korrigieren wird. Der höchste Inselberg, 582 Meter hoch, heißt hier nicht Profitis Ilias, und da die Chora schon auf zweihundert Metern liegt, sollte es eine überschaubare Herausforderung sein, die ich lieber im eigenen Tempo absolviere. Wenn es einen Weg gibt.

Ich habe die Landkarte von Anavasi im Gepäck, Maßstab 1:25.000, Ausgabe 2017. In ihr sind sechs Wanderwege eingezeichnet, mal sehen, ob die Realität der Karte standhält. Wanderung Nr. 5 führt in den Norden der Insel, mit einem Abstecher auf den zentral im Inselinneren gelegen Gipfel. Der Pfad führt von Norden her hinauf, ich muss also den Berg erst halb umrunden. Kein Problem.

 

Das Wetter ist perfekt: Sonne, Wind, klare Sicht.

Ich habe auf meinem Balkon gefrühstückt mit dem wunderbaren Blick über die vorgelagerten Inselchen Ftena, Rachia und Makra. Dahinter Kretas weiße Bergketten. Nein, die bilde ich mir nur ein. Aber der Kalamos grüßt ganz real von links. Du kommst schon auch noch dran, siga siga.

 

Um Viertel vor elf verlasse ich die Chora an der Zuckerbäckerkapelle Agios Spyridonas vorbei Richtung Norden. Die kargen und verbrannten Inselhänge beeindrucken mich, und der Felsenkamm darüber, das muss der Vigla sein. Die Vigla, signomi. Sicht machbar aus.

 

Der Fußweg führt sanft bergauf und ist sehr gelegentlich bezeichnet, aber überraschend gut freigeräumt (wie fast alle Wanderweg auf Anafi, ich bin überrascht) und damit kaum zu verfehlen. Blicke zurück lohnen wegen der schönen Aussicht auf die Chora. Nach 15 Minuten erreicht der Weg bei einer aus einem Hof, der Kapelle Agios Andreas und zwei Ferienanlagen bestehenden Siedlung namens Psathi eine Piste, von der ich hinter der Siedlung nach rechts wieder auf ein Monopati abbiege.

Der Weg führt nun oben entlang eines baumlosen und flachen Tales. Ich schrecke Steinhühner auf und eine ohrlose Ziege mustert mich aus ihrem Gehege. Aber kein Mensch zu sehen. Auch nicht auf dem Hof, der am oberen Ende des Tales liegt und dessen spärlich verteilte hellgrüne Weinstöcke einen leuchtenden Kontrast zur grauen Landschaft bilden. Zaghaft trauen sich Ginsterbüsche zu etwas Gelb. Und immer wieder stehen diese für Anafi typischen kleinen weißen Kuppelhäuschen herum: Beinhäuser.

 

Nach fünfzig Minuten erreiche ich die Kapelle Stavros und gönne mir die erste Pause. Die Stavros-Kapelle ist aus byzantinischer Zeit, was man ihr aber weder von innen noch von außen ansieht - alles ist großzügig mit weißer Farbe übertüncht. Ein hübsches Gotteshaus ist es aber allemal.

 

Die Wegweiser hier sind verwirrend: nach rechts soll es zur Vigla (in 25 Minuten!) und nach Christos gehen - hier ist in meiner Karte aber gar kein Weg eingezeichnet. Die Wegnummer 4 nach Livoskopos und Drapanos zweigt nach links ab, die Nummer 5 ist nicht markiert. Drapanos wäre aber meine Richtung, also entscheide ich mich für den schmalen Weg, der hinter der Kapelle zunächst bergwärts führt und merke schnell, dass dies der Weg Nr. 5 ist. Da bin ich also richtig. Zumindest gemäß der Karte.

 

Der Weg führt um den Berg herum und offeriert nun Aussichten nach Norden und Westen, bis Santorin und Amorgos. Aber hier auf der Insel, auf halber Höhe, was ist das denn? Sieht wie die Piste eines Flugplatzes aus. Nein, das kann nicht sein, Flugplatz und Anafi, das schließt sich doch aus. Oder war da nicht mal was? Grübelnd wandere ich weiter und sehe schon wenig später, dass es sich tatsächlich um eine langgestreckte Piste handelt. Ein Flugplatz für Anafi - mhh, wäre nicht eine zuverlässige Bootsverbindung nach Santorin die vernünftigere Lösung? Aber Vernunft, was zählt die schon, wenn einige Leute die Bodenhaftung verlieren und ins Träumen kommen? Und sind die Griechen nicht besonders gut in solchen Träumen? Ich recherchiere etwas und werde fündig: Hier (2018). Auch dass diese Bahn bei Wind kaum zu benutzen sein dürfte. Danach nichts mehr. Vielleicht doch eingeschlafen.

Nun, ich werde das verfolgen. Vielleicht gibt es in zehn Jahren Kurzstreckenflüge von Santorin nach Anafi. Ist auch nicht wesentlich weiter als der Flug von Kassos nach Karpathos. Wobei die Kassioten immerhin mit der "Kasos Princess" ein zuverlässiges Pendelboot haben.

Weiterwandernd bin ich auf der Nordseite der Vigla angelangt. Wo zweigt hier nun der Weg auf den Gipfel ab? Mein Blick bliebt etwas oberhalb des Weges hängen, wo ein überraschendes Gebilde steht: ein Sonnenschirm. Geschlossen zwar, aber definitiv ein Sonnenschirm.

Neugierig folge ich dem Pfad, der zu ihm hinauf führt. Der Schirm wird ergänzt durch eine Sitzgruppe aus zwei Stühlen und einem Tischchen, und ich treffe eine Frau mit einen freundlichen jungen Hund, die dort zugange ist. Keine verirrte Badenixe, sondern eine Hirtin. Maria, so stellt sie sich mir vor, und ihr Mann Panagiotis, der weiter vorne auf einem Felsenvorsprung sitzt, kümmern sich um ihr Ziegenherde und haben hier ein kleines Mitato. Täglich sind sie hier, kehren aber abends nach Chora zurück. Zwei Mulis haben sie auch, wie ich jetzt sehe. Das Paar freut sich über Gesellschaft und lädt mich zu einem Kaffee ein. Sie führen ein bescheidenes und mühsames, aber wie mir scheint, nicht unzufriedenes Leben. Maria ist etwa in meinem Alter und mir wird klar, wie viele Welten unser Leben trennen. Leider stößt mein Griechisch sowohl bei den vielen Dingen, die ich gerne über sie wissen würde, als auch beim Verständnis ihrer Antworten an Grenzen.

Die Ziegen bekomme ich gar nicht zu Gesicht, die beknabbern weiter unten die Frygana. Manchmal dringt das Läuten der Glocken zu uns herüber.

 

Als ich schließlich weiterwandern will, frage ich Panagiotis nach dem Weg zum Gipfel. Er zeigt mir den Ansatz, aber als ich wenig später verloren zwischen Steinen und Gestrüpp stehe, wird mir klar: er braucht keine Wege außer den Dutzenden von Ziegenpfaden, die den Hang überziehen. Da die spärliche Vegetation nur in seltenen Fälle mehr als knöchelhoch ist, beschließe ich, es ihm nachzutun und die Zeit nicht damit zu verschwenden, einen nicht vorhandenen Weg zu suchen. Einfach aufwärts kraxeln auf Sicht, irgendwann geht es dann schon nicht mehr weiter, und dann bin oben. Das klappt tatsächlich, und nach einer halben Stunde über Stock und Stein stehe ich auf dem Gipfel der Vigla, markiert durch einen soliden Betonpfosten. Keine Gipfelkapelle hier.

Es ist etwa zwei Uhr mittags und ich habe eine gute Fernsicht, die von Santorin im Westen über Ios und die kleinen Kykladen (SMS und Winken nach Koufonisi), die sich nur leidlich von Naxos abzeichnen, bis zum langgestreckten Amorgos reicht. Mit dem Fernglas kann ich sogar das Kloster Chozoviotissa ausmachen. Und weiter östlich dann Astypalea. Im Süden meine ich die Zweitausender Kreta auszumachen. 130 bis 150 Kilometer? Ja, geht schon.

Auf Anafi leuchtet die Chora aus dem Graubraun. Und am östlichen Inselende der Kalamos mit der weißleuchtenden Gipfelkapelle der Panagia Kalamiotissa. Da will ich natürlich auch hin, morgen oder übermorgen. Und tatsächlich sehe ich die lange Startbahn im äußersten Inselwesten.

 

Ich habe Glück mit dem Wetter, denn an den folgenden Tagen ist die Fernsicht vom Dunst getrübt.

Für den Abstieg halte ich mich weiter östlich und versuche, dem Wegverlauf im GPS meines iPhones zu folgen. Ein richtiger Weg ist aber trotzdem nicht auszumachen, und es gibt einige sehr steile Passagen, die ich mit Hilfe meines Wanderstockes aber leidlich bewältige. Höchste Konzentration ist beim Solo-Wandern immer angebracht.

 

Bei einem Autowrack auf einem Bergsattel erreiche ich schließlich wieder den Ringweg und habe jetzt mehrere Möglichkeiten: ich kann auf diesem Weg nach Südwesten zurück zur Stavros-Kapelle. Muss nicht sein. Oder auf einer Piste vorbei an der Christos-Kapelle und dann auf der Straße bei Axina zurück nach Chora. Hatte ich so eigentlich geplant. Aber der Wegweiser bei Stavros nach Christos weist darauf hin, dass es da noch einen Weg gibt, der ab Christos am Südhang der Vigla entlang führt, und ich habe ihn auch gesehen. Der müsste doch auch von der andere Seite aus zu finden sein. Und so mache ich erst eine ganz kleine Schleife zur Kapelle der Panagia Vouvon - Kapellen gibt es hier reichlich, aber offenbar noch nicht genug, denn am Weg steht ein weiterer Rohbau - und dann auf einer breiten Piste nach Südosten, wo die Christos-Kapelle schon von weitem zu sehen ist. Ein Weinberg rechts des Weges lässt auf unverdrossene Landwirte schließen und gibt einen hübschen grünen Farbtupfer. Außerdem wird vor Bienen gewarnt (der Honig von Anafi soll ja der beste sein ... :-) ).

Die Sonne brennt jetzt gegen halb vier ordentlich vom Himmel und lässt mich nach Schatten lechzen. Aber den gibt es hier nicht, außer vor der Christos-Kapelle, die sich unterhalb der Piste malerisch an den Hang schmiegt, von blühendem Oleander und einer kleinen Zypresse eingerahmt. Ich teile für eine Weile den Schatten mit einer Eidechse, die flink über die gemauerte Sitzbank huscht.

 

Tatsächlich finde ich nur wenig oberhalb der Kapelle einen schmale Fußweg, der im spitzen Winkel nach rechts abzweigt. Er führt über die östliche Flanke der Vigla und dann gut sichtbar auf der Höhe oder leicht bergab nach Westen bis zur Stavros-Kapelle. Und tatsächlich gibt es hier irgendwo auch eine Abzweigung auf den Gipfel der Vigla, wie der MM-Reiseführer Kykladen in Wanderung 3 beschreibt. Aber das werde ich erst nach der Wanderung lesen. Ein Ikonostasi, das sich östlich des Gipfels befindet, kann ich von unten erkennen. Es ist den fünf Toten eines Hubschrauberabsturzes am 5. Juni 2002 geweiht.

 

Von Stavros geht es dann auf dem schon bekannten Weg nach Chora zurück. Auf dem Rückweg bieten sich doch wieder ganz andere Perspektiven, vor allem auf die näherkommenden Chora. Ich muss unbedingt dem Friedhof einen Besuch abstatten. Aber nicht jetzt.

 

Gegen viertel nach fünf bin ich wieder in meinem Quartier und genieße erst die Dusche und dann meinen Balkon.

Meine Tracking-App wird eine Entfernung von 13,2 Kilometern und einen Höhenunterschied von 534 Meter ausweisen, absolviert in 3 Stunden und 50 Minuten Gehzeit. Das war doch mehr als gedacht, und das zum Auftakt. Entsprechend müde fühle ich mich.

Eigentlich hatte ich gedacht, dass ich am Abend hinunter zum Hafen gehe, dort esse, die Ankunft der "Prevelis" und von Jörg abwarte. Aber das ist mir jetzt zu viel Action, und es fährt ja auch (noch?) kein Bus wieder hinauf. Außerdem kommt die Fähre erst gegen halb elf Uhr an. Sie scheint ziemlich pünktlich, hat kurz nach sechs Uhr Sitia verlassen. Mit Jörg bin ich per SMS in Kontakt so lange die Fähre sich im Empfangsbereich öffentlich zugänglicher Sender befindet. Wenn nicht mehr, kostet die SMS via Schiffsnetz drei Euro, wird Jörg erzählen.

Jörg hat sich in den Apartments der Taverne "Armanaki" einquartiert, was liegt also näher, als heute dort zu essen und auf ihn zu warten? Wenn das "Armenaki" geöffnet ist, gestern schien das ja noch nicht der Fall. Aber entweder hatte ich mich da verguckt, oder das Restaurant hatte da Ruhetag: heute ist es geöffnet.

Ich bin um halb neun dort, aber das ist offenbar früh für Anafi, denn es hat noch keine Gäste. So kann ich mir einen Platz am Rande der Aussichtsterrasse aussuchen, mit Blick hinab zum Hafen. Drinnen spielt der Wirt Markos zunächst auf dem Bouzouki, ein älterer Mann übernimmt die Bedienung und offeriert fangfrischen Thunfisch. Das klingt gut. Von der Fava vorab kann ich auch eine kleine Portion bekommen, sie schmeckt sehr gut. Der Thunfisch, sehr gut begleitet von Selleriepürree (interessante Kombination), ist eine große Scheibe und nicht so trocken wie man das bei diesem Fisch öfters mal bekommt. Ich bin zufrieden mit meiner Wahl. Das Essen auf Anafi ist doch nicht so schlecht wie befürchtet.

 

Das Lokal hat sich inzwischen sehr gefüllt und Jörg simst von der sich nun auch sichtbar als Leuchtpunkt nähernden "Prevelis", dass sein Gastgeber Markos ihn nicht am Hafen abholen kann wenn Gäste da sind. Nein signomi, da bin ich nicht alleine dran schuld!

Die "Prevelis" legt im Hafen an während Jörg und ich darüber sinnieren, was Markos mit seiner SMS an Jörg gemeint haben könnte: "Take it quickly with the white lighthouse.is waiting for you."  White lighthouse? Die Lösung ist einfach und naheliegend, wie ich mit dem Fernglas von oben sehen kann: Das Taxi hat ein "white lighthouse" auf dem Dach. Jörg nimmt also das Taxi hinauf in die Chora. Der Taxi-(und Bus)fahrer wird ihm dabei erzählen, dass der Bus morgen nicht fahren würde (was nicht stimmt) und zehn Euro für die Fahrt kassieren. Mhh, war da nicht mal von fünf Euro die Rede? Oder trügt mich mein Gedächtnis?

 

Auf alle Fälle stoßen Jörg und ich wenig später auf der Terrasse des "Armenaki" auf das Wiedersehen an. Endlich hat es mal wiedergeklappt, dass wir uns nicht nur en passant zuwinken. Bis Sonntagnachmittag möchten wir zusammen Anafi erwandern.

Morgen dann auf den Kalamos?