Kurz nach zwölf Uhr senkt sich die Ladeklappe in Karavostassis, dem Hafen von Folegandros. Wir verabschieden uns von Susanne, die Naxos und Tinos als weitere Reiseziele hat – auf Tinos wird der dort verstärkt wehende Wind sie nerven und letztendlich zur Flucht veranlassen. Jeder erlebt die Inseln halt ganz anders, und mit Kreuzweh ist es eh ein Kreuz!
Die Mutter hatte erwogen, ein Quartier in Karavostassis zu beziehen da wir nur eine Nacht bleiben wollen, ich bin dagegen, weil wir eh hoch in die Chora wollen um Richi und U. treffen. Die Beiden erwarten uns netterweise am Anleger, sind von der Chora heruntergefahren, wollen bei der Gelegenheit unten ein wenig wandern. Schön, sich wiederzusehen! Sie wohnen in den edlen „Folegandros Apartments“, in denen wir vor vier Jahren auch waren. Für eine Nacht ist uns das zu feudal und teuer, und außerdem kann es sich der Vermieter leisten, am 22. September 2011 keine neuen Gäste mehr aufzunehmen – die Saison muss hier gut verlaufen sein. Warum, das werden wir ab Abend oben sehen.
Richi empfiehlt uns das „Meltemi“, und das hatte ich eh im Auge. Wir verabreden uns für halb acht Uhr im „Chic“ und fahren dann mit dem Bus hinauf nach Chora. Auch hier kostet diese Fahrt 1,60 Euro (ebenso auf Sifnos für die Fahrt vom Hafen nach Apollonia – der kykladische Standardpreis). Der Bus hält oben auf der Platia Pounta, und bevor ich zur Pension abbiege, werfe ich einen Blick auf die Steilküste unterhalb des Kastroviertels. Bei dieser Beleuchtung absolut genial!! Man kann zum Folegandros-Rummel stehen wie man will – grundlos existiert der nicht! Es gibt wenige Inseln, die für das Auge und das Objektiv mehr bieten.
Nachdem wir im „Meltemi“ ein sehr nettes und sauberes Doppelzimmer für 35 Euro die Nacht (bei längerem Aufenthalt wäre es günstiger geworden) bezogen haben, ziehen wir los, die Veränderung in der Chora während der letzten vier Jahre zu erkunden. Die „Innenstadt“ entlang der Platies finden wir weitgehend unverändert, einige Lokale haben schon geschlossen, andere machen Kehraus. Das bezaubernde Kastroviertel ist auch unverändert, zum Glück ungestreift von der Edel-Unterkunft-Bauwut. Heute ist Waschtag – überall hängt dekorativ und fotogen Wäsche an der Leine. Ein besonderer Blickfang ist eine Wäscheleine mit lauter roter Wäsche – Absicht oder ein Waschunfall? Schön komplementär vor den grünen Fensterläden – welcher Fotograf kann da schon nein sagen?
Wir essen im „Piatsa“ einen griechischen Salat und einen typischen Käsekuchen – das Lieblingslokal unseres ersten Folegandros-Aufenthaltes hat sich sehr verändert, man kann jetzt auf dem Dach sitzen (und einen Blick in einen riesigen, leicht verwahrlosten Hinterhof werfen – wann wird hier ein Hotel stehen?), aber das Essen war früher besser (ich denk nur an die Juwarlakia!). Am Nachbartisch sitzt eine griechische Familie – wäre eigentlich weiter nicht erwähnenswert, aber inzwischen ist das zur Seltenheit geworden – und auch auf Folegandros dominieren deutlich die ausländischen Touristen.
Dann ziehen wir eine weitere Runde, kaufen absolut super mega leckeres 5–Sterne-Gebäck (Koulourakia und Ähnliches ) in der Bäckerei, so mürbe, so frisch – morgen holen wir nochmals Nachschlag – das gibt es auf Kimolos bestimmt nicht! (Nein, wird es nicht geben).
Nochmals 5 Sterne gibt es kurz darauf: das 5-Sterne-Luxushotel „Chora Resort Hotel & Spa“ am südwestlichen Ortsrand. Ehrlich gesagt: ich hatte mir das Teil imposanter vorgestellt, den Pool (500 Quadratmeter) größer. Aber mit einem guten Weitwinkel-Foto kann man gut tricksen, trau keinem Werbefoto! Die Lage ist eher bescheiden, gegenüber ist die Tankstelle, und ein Moped-und Quadverleiher.
Eine hohe Mauer schützt vor dem Einbruch der banalen Realität und vor allzu neugierigen Blicken, kein Blick ist möglich auf das „Amphitheatre with waterfall“. Aber ich glaube, der Minigolf-Platz ist der erste, den ich auf den Kykladen sehe. Wie ich ihn fotografiere, und eine besonders schöne Hibiskusblüte, kommt ein Mann herangewetzt, guckt misstrauisch was ich da mache. Security – welche Promis urlauben denn hier? Von den Luxusgästen sehen wir niemanden, die Anlage wirkt unbewohnt – vielleicht ist die Saison schon beendet.
Richtung Westen, an der Straße nach Ano Meriá, ist nochmals ein ganzes Konglomerat an Pensionen entstanden, einige mit Pool. Und auch unterhalb der Straße wird gebaut. Ein Ende des Booms ist nicht in Sicht. Irgendwie geht mir das Verständnis für den Poolbedarf und damit verbundenen Wasserverbrauch auf einer derart wasserarmen Insel wie Folegandros ab. Aber die bequem erreichbaren Strände sind rar, und man muss den Leuten ja was bieten. Noch dazu den eher bewegungsabgeneigten Griechen. Nach dem überschaubaren, „vernünftigen“ Sikinos kommt mir der Bruch enorm vor. Vielleicht war Folegandros vor zwanzig Jahren so wie Sikinos heute. Hoffentlich kann Sikinos der Versuchung widerstehen! Aber klar, Folegandros lebt nicht schlecht davon. Nur die Gier – es reicht ja nie. Größer, mehr, teurer. Vielleicht kommt die Krise zum richtigen Zeitpunkt…
Ein Blick auf den Busfahrplan zeigt: zehn Mal täglich pendelt der Bus zwischen Chora und Hafen, vier Mal zum Strand von Angali (der inzwischen auch vom Bauboom „profitiert“ und sich zu einem Ort entwickelt ), und fünf Mal nach Ano Meria! Fünf Mal täglich in das langgestreckte Bauerndorf jenseits der geschleckten Kykladenarchitektur – wer um der alles will da denn hin?
Wir beschließen, noch zur Panagia-Kirche hinaufzugehen. Die reinste Völkerwanderung findet dort gerade statt! Wir sehnen uns zurück nach dem ruhigen Sikinos. Dafür finden wir die Kirche oben zum ersten Mal überhaupt geöffnet – der Ansturm hat auch sein Gutes. Das Innere des Gotteshauses gefällt uns gut, prunkvoll-streng: die weißem Wände, der geflieste Boden, die schöne Marmorikonostase, der blaue Sternenhimmel in der Kuppel. Die Höhe des Hauses dominiert auch im Inneren, es scheint doppelt so hoch wie breit. Außen dann wieder Würfelzucker und die verschachtelten Anbauten.
Und der Blick nach Süden, auf die trockene goldbraune Hochebene, unfruchtbar, durchzogen von Mäuerchen. Es lädt nicht ein zum Wandern, aber dazu fehlt uns sowieso die Zeit.
Die Sonne geht als fliegende Untertasse im diffusen Grau unter – keine uninteressante Variante. Am lässigsten (und nicht gerade preiswert) vom Pool des „Anemomilos“ zu genießen – da bleibt mir nur der Blick vom Parkplatz.
Um kurz halb acht sind wir im „Chic“, dem Lokal an der dritten Platia in der Chora, das von einer Deutschen geführt wird und leicht exotisch angehauchte Küche offeriert. Halb acht ist in Griechenland eigentlich zu früh um Essen zu gehen. Aber nicht hier: wer zu spät kommt, der bekommt keinen Platz mehr. Und da Mitteleuropäer hier die Essenszeiten bestimmen, geht es eben schon früher los. Gegen acht Uhr werden fast alle Tische an den Platies voll sein. Wahnsinn – was ein Rummel! Eine Nummer zu viel für uns.
U. und Richi haben aber zum Glück schon einen Tisch ergattert, und es wird ein richtig netter Abend bei Hühnchen mit Safranreis, Humus und Schwein in Senfsauce. Und dem flachsten Moussaka ever. Begleitet von einem gepflegten Erfahrungsaustausch über die Kykladen und vieles mehr. Für so ein anregendes Essen zwischen gleichgesinnten Hardcore-Inselspringern und Kykladomanen lasse ich jedes Massentreffen von In-Greecelern sausen – weniger ist mehr. Auch wenn das mancher anders sehen mag.
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Unsere Fähre soll uns erst am frühen Freitagabend, nach 18 Uhr, nach Kimolos bringen. Nachdem ich geklärt habe, dass wir in unserem Zimmer bis 17 Uhr bleiben können – dann fährt der Bus hinab – überlegen wir, was wir mit dem Tag anfangen können. Es ist noch windiger geworden, und bewölkter – die Möglichkeit eines Badetages verliert da ihren Reiz. Die Wanderschuhe wollen wir auch nicht aus dem Gepäck holen. Beim üppigen Frühstück im „Ki Araxe“ auf der ersten Platia – Spiegelei, Joghurt mit Honig, Toast, frischgepresster Orangensaft – kommt uns die Idee, mit dem Bus nach Ano Meriá zu fahren und auf der Straße zurückzuwandern. Der Bus fährt um 11.30 Uhr, das müsste zeitlich gut reichen ohne in Stress auszuarten. Dann noch schnell zum Bäcker – Gebäcknachschlag holen, und zur Post, Briefmarken kaufen damit die Postkarten nach Deutschland endlich eingeworfen werden können (im Postkartenladen gibt es nur so viele Briefmarken wie man Postkarten kauft – er wäre ja nicht die Post, sagt der Verkäufer).
Um 11.30 Uhr kommen an der Platia Pounta gleich zwei Busse an - einer nach Ano Meria, einer nach Karavostassis - was auf der engen Zufahrt dank einiger im Parkverbot stehender Mopeds ein Räumkommando und etwas Rangiervermögen verlangt. Mir fällt ein – ich brauche ja noch die Schiffstickets für heute Abend! Im Reisebüro blockiert eine Amerikanerin mit tausend Fragen aber alles – man wird die Tickets sicher auch vor der Abfahrt am Hafen bekommen falls am Nachmittag die Agenturen der Chora zu sind (sie sind). Wir verabschieden uns von Richi und U., die heute auch wandern wollen, entlang der Südwestküste – schwitzen wird man dank des Windes kaum.
Der Bus nach Ano Meriá ist fast voll – und es sind keine Einheimischen, sondern ausschließlich Touristen, die mitfahren. Vor Jahren war das anders, da waren wir die einzigen Fahrgäste außer zwei einheimischen Bäuerinnen. Und da der Bus zum Angali-Strand inzwischen bis hinunter fährt, muss man auch nicht den Ano-Meria-Bus nehmen und dann zu Fuß hinab (und, schlimmer: wieder hinauf). Die Zeiten ändern sich, und auf Folegandros ändern sie sich mehr und schneller als anderswo.
Knapp zwanzig Minuten dauert die Busfahrt an das hintere Ende von Ano Meria. Taxiarchis heißt die Haltestelle. Upps, vielleicht hätten wir doch früher aussteigen sollen, scheint weiter zu sein als gedacht... Andererseits ist Folegandros ja nicht so groß. Die Busladung verteilt sich schnell: Einige wandern zu den ausgeschilderten Stränden nach Süden (Livadaki) und Westen (Ambeli, Valsamos, Ligaria), Andere schlendern unschlüssig herum.
Die Doppelkapelle ist geöffnet, das eine Kirchenschiff ist dem Erzengel Michael geweiht, das andere dem Hirtenheiligen Agios Mamas, seine Ikone ist mit Votivtafeln geschmückt. Neben der Kapelle guckt ein Esel über eine Mauer – kreuzen die hier Elche ein? Selten so einen hässlichen Esel gesehen!
Dann machen wir uns auf den Rückweg. An ausgesetzten Stellen bläst der Wind ordentlich, aber er schiebt – Rückenwind. Die Hauptkirche von Ano Meria, die Agios-Georgios-Kirche ist auch geöffnet, ein Pappas verschwindet gerade im Nachbarhaus. Der Wind klappert in den Fenstern.
Wir passieren geparkte Esel und Mulis, beeindruckende Windmühlenreste, bodendeckende Weinfelder und eine lebensechte Vogelscheuche. Immer noch sind wir in Ano Meria, dem gefühlt längsten Ort der Kykladen. Fünfzig Minuten werden wir zur Durchwanderung benötigen, diverse Fotostopps eingerechnet. Ein Kafenio, ein kleiner Laden, und durchaus auch einige Ferienhäuser. Wer es gerne abseits mag, etwas trostlos, und ein Fahrzeug hat – warum nicht?
Ein Ferienhaus ist das direkt an der Straße am Ortsausgang von Ano Meria stehende Gebäude nicht – es ist mit einer blauen Aufschrift (wenn mir jemand den Spruch richtig übersetzen könnte, und sagen woher er stammt, wäre es echt nett!) und Strichmännchen verziert, den Garten ziert Plastikmüll aller Art. Aussteiger, Künstler, Missionar, Spinner – wer mag schon sagen wo das eine aufhört und das andere anfängt?
In diesem Moment überholen uns zwei blonde Jogger. Und wenn wir gestern schon gedacht haben, dass Folegandros sich vollkommen den (ausländischen) Touristen überlässt, so fühlen wir uns nun endgültig bestätigt. Jogger! Auf einer griechischen Insel! Also ob wandernde Spinner oder spinnende Wanderer wie wir nicht schon genug wären. Demnächst sehen wir bestimmt noch eine Kegelbahn….
Folegandros ist schön und fotogen, aber es entwickelt sich von dem weg, was wir auf den griechischen Inseln suchen – und zu unserem Glück oft auch finden. Mögen Andere glücklich werden damit, unsere Inselwelt ist das nicht (mehr).
Da können uns im weiteren Wegverlauf auch die hübschen Kapellen, die geschützähnlichen Windmühlen, der Blick nach Sikinos hinüber, und die Ansicht der Chora über der Steilküste nicht mehr so richtig versöhnen. Aber vielleicht bin ich ungerecht.
Um 14 Uhr sind wir wieder in Chora, haben also zwei Stunden gebraucht für die vielleicht sechs Kilometer.
Wir trinken noch einen Elleniko an der Platia, wollen eigentlich einen Galaktobureko dazu. Nur ist der leider aus, ein Orangenkuchen ist ein halbwegs brauchbarer Ersatz, bisschen sehr süß vielleicht. Das niedliche Kätzchen mit der Schleife um den Hals (heute in blau, gestern noch rot) spielt auf der vorderen Platia, die in der Nachmittagsruhe still daliegt.
Wir können uns Zeit lassen, erst um 17 Uhr fährt der Bus hinab zu Hafen, und die Trolleys sind schon gepackt. Sitzen noch auf der kleinen Terrasse vor dem Zimmer – wenn die Sonne herauskommt, sticht sie gleich, ohne ist es frisch. Herbst auf den Kykladen.
Dann mit dem Bus hinab. Noch kein Tickethäuschen ist geöffnet. Wir sitzen und warten. Der Hafenort Karavostassis sieht jetzt auch nicht einladender aus als gestern, die Betonpoller verschandeln den Anleger, der verlassene Strand sieht deprimierend aus. Im Vorbeifahren haben wir das Luxushotel „Anemi“ gesehen, leer und unbewohnt wirkend. Und die Tennisplätze, Tennisplätze auf den Kykladen… wer braucht das denn?
Ein schöner Zweimastsegler liegt am Pier, mit türkischer Flagge. Es ist wohl doch was dran, dass die Türken die benachbarten ägäischen Urlaubsziele entdecken. Ein Mann putzt Fische, umringt von erwartungsvollen Katzen.
Gegen halb sechs Uhr kommt ein älteres Ehepaar mit dem Auto, öffnet die Ticketagentur. Sieben Euro kostet die Überfahrt mit der „Aqua Jewel“ nach Kimolos. Aber noch kein Wasseredelstein in Sicht. Leute werden gebracht, Autos warten, der französische Wohnmobilist, der gestern mit uns gekommen ist, hat auch schon wieder genug von Folegandros. Es ist schon sechs Uhr vorbei, die Fähre hat Verspätung. Eine gute Dreiviertelstunde wird es werden, da werden wir auf Kimolos im Dunkeln ankommen, was ich gerne vermieden hätte. Nicht zu ändern.
Endlich kommt die Fähre in Sicht: quält sich hinter den vorgelagerten Inseln vorbei, nimmt in Schräglage Kurs auf Karavostassis, mächtig schaukelnd. Das kann ja eine heitere Überfahrt werden! Ich stecke mir schnell einen Kaugummi gegen Reisekrankheit in den Mund, vorsorglich.
Dann ist die Klappe unten, eine überschaubare Anzahl Menschen verlässt das Schiff, wir drängeln hinauf, schnell geht die Fahrt weiter, via Kimolos nach Milos, entlang der windgeschützten Südküste von Folegandros. Nicht viele Fahrgäste.
Der Wind bläst so stark und kühl, ein Foto von Angali oder später dem Leuchtturm bei Livadaki ist nur total verwackelt möglich. Schade. Aber auch das gehört zum Inselspringen.
Das Schiff schaukelt stärker als wir den Windschatten der Insel verlassen. Vor uns fächelt ein Mann während der gesamten Fahrt seiner Frau mit einem Fächer Luft zu. Hinter uns erklingen irgendwann Würggeräusche, eine Mitreisende übergibt sich lautstark in eine Plastiktüte. Ich kaue fleißig meinen Kaugummi. Es wird dunkel, ein paar Lichter in der Schwärze - Milos? Poliegos kann es nicht sein, das ist unbewohnt.
Ich sehne Kimolos herbei.
Gegen dreiviertel neun Uhr dann die erlösende Durchsage „in a few minutes we are arriving in the port of Kimolos. Passengers with destination Kimolos are kindly requested to get ready for disembarkation”. Viele Passengers sind es nicht, die desembarkieren wollen. Die Gruppe junge Leute, die schon unten stand, merkt gerade noch, dass das nicht ihr Ziel Milos ist. So verlässt außer uns nur noch ein Ehepaar das Schiff – die dauerkotzenden Mitreisende samt Mann und Auto.
Wir sind mächtig gespannt darauf.