Sonne mit Zähnen

Ilka hat sich um einen Mietwagen für mich gekümmert, was insofern schwieriger war als gedacht, als die wenigen lokalen Fahrzeuge alle schon belegt sind und die Verleiherin ein Auto vom Festland für mich organisieren musste. Da trifft es sich gut, dass ich es gleich für zwei Tage nehme.

 

Es ist ein sonniger, aber kalter Montagmorgen. Ilka bringt mich nach dem Frühstück - heute Spiegelei und Speck - mit dem Auto in die Innenstadt zur Autoverleiherin. Ich bekomme einen Hyundai i20 mit gut 8000 Kilometern für 25 Euro am Tag, das ist günstig. Allerdings habe ich nur 200 Freikilometer, was knapp werden könnte. 40 Cent soll ich darüber hinaus pro Kilometer bezahlen, wobei die Verleiherin da großzügig zu sein verspricht. Alle Macken am Auto werden penibel im Leihvertrag eingezeichnet - ganz schön viele für ein so junges Auto. Dann fahre ich hinter Ilka her wieder aus dem Einbahnstraßenlabyrinth von Limenas hinaus zur Pension, lade Wanderstiefel und Notproviant ein und düse los.

 

Mein erstes Ziel ist Prinos, wo montags der Wochenmarkt stattfindet. Den will ich mir natürlich angucken. Prinos sind eigentlich vier Siedlungen: Skala Prinou - der Hafen, Neos Prinos - das heutige Prinos, Megalo und Mikro Kazaviti, die manchmal auch Megalos und Mikros Prinos heißen. Früher hat man lieber sicherer oben in den Bergen gewohnt als am gefährlichen Meer oder in der ungesunden Küstennähe.

 

Parkplätze sind rar wenn Markt in Prinos ist. Ich parke das Auto an der Straße nach Kazaviti und gehe zurück Richtung Ortskern. Schnell erreiche ich die ersten Ausläufer des Marktes. Ein typischer Wochenmarkt wie ich sie auf Kreta schon erlebt habe. Nicht so groß und vielfältig wie der von Mires, aber mit dieser knallbunten Mischung, die ich liebe. Orangen, Zitronen, Kraut, Kartoffeln, Rüben, Salat, Quitten, Nüsse, Trockenfrüchte, Oliven, Reis, Maronen - was die winterliche Landwirtschaft eben so hergibt. Den besten Honig natürlich auch, und Tahini und Erdnussbutter. Dazu Klamotten von Militärischem über Glitzer und wattierten Jacken bis zu Wäsche. Schuhe, Teppiche, Stoff, Drogerie- und Baumarktartikel. Plastikblumen. Und immer wieder in Klamotten. Billigqualität in grau, rosé oder schwarz, was die Griechin so liebt. Schlabberige Jogginghosen und Trainingsanzüge für den Mann, Lagerfeld würde verzweifeln. Um diese Jahreszeit sieht man hier selten gutgekleidete Männer.

Ich entdecke nur ein Café, vor dem die Leute sitzen. Thassos ist eben kälter als Kreta, da bleibt man mehr drinnen.

Offensiv preisen die Händler ihre Waren an. Ich brauche eigentlich nichts, bin noch zu satt vom Frühstück als dass mich etwas anmachen würde. Eine kleine Flasche Tsipouro wandert dann doch über die Theke in meine Tasche.

Eine wimpelgeschmückte Kirche steht am Rand des Marktes. Wir haben den 13. Januar, welcher Heilige ist denn jetzt dran?

Zurück zum Auto und weiter nach Kazaviti. Durch Mikro Kazaviti bin ich schon durch kaum dass ich den Ort also solchen wahrgenommen habe. Megalo Kazaviti ist größer und soll im Sommer ein beliebtes Ausflugsziel sein weil der Dorfplatz unter riesigen Platanen so schön schattig ist. Tavernen hat es dann natürlich auch welche. Jetzt ist der Ort nahezu verlassen. Ich stelle das Auto etwas unterhalb an der Straße ab, eher diese nach einer Kurve steil und gepflastert wird. Schöne Häuser hat es hier, in der thassostypischen Bauweise mit Holzbalkonen. Erinnert mich nicht zum ersten Mal an Skopelos und ist komplett anders als an der Südägäis. Nicht nur wegen der Ziegeldächer.

 

Der Dorfplatz ist heute weder schattig noch besucht: die Platanen knorren blattlos in die Luft, die Terrassen der umstehenden Häuser sind verschlossen. Irgendwo huscht eine Frau ins Hinterhaus.

Genauso verschlossen ist die interessante Kirche der Apostel. Damit habe ich gerechnet, aber nicht damit, dass auch der Kirchhof verschlossen ist und mir damit kein Zugang zu dem freskengeschmückten Vorraum und dem hinter der Kirche liegenden Beinhaus möglich ist. Ich versuche, die Drahtgitter zu überwinden, die provisorisch wirken, ihren Zweck aber völlig erfüllen: da komme ich nicht rein. So umschleiche ich eben das Gotteshaus und bewundere von oben das riesige schiefergedeckte Dach und den massiven Glockenturm. Die Architektur wirkt wie in den Südalpen und gefällt mir. Ich schlendere noch etwas durch das leere Dorf, in dem es nicht mal einen Laden zu geben scheint. Laut Zählung 2011 leben hier auch nur noch 26 Menschen, vier weniger als in Mikro Kazaviti.

Dort an der scheunenähnlichen Agios-Georgios-Kirche ist mein nächster Halt.

Unter riesigen Zypressen in einem kleinen Garten liegt das massive Steingebäude ohne Turm, aber dafür mit moosgrünem Dach, das sich auch über dem Eingang als Walmdach herabzieht, an der Apsisseite aber der Mauer Platz macht. Auch das kleinen Apsisdach ist grün bemoost. Natürlich ist die Kirche geschlossen. Interessant ein kleiner, offener Anbau, in dem hinter Gittern drei große glänzenden Kochtöpfe auf einer langen Feuerstelle stehen. Scheint beim Panigiri am 23. April gut was los zu sein.

Am Nachbarhaus liegt ein Dutzend Katzen auf Fensterbrettern und Boden und genießt die Sonne. Thassos ist eine Katzeninsel.

Die Straße zum Kloster Agios Panteleimonos biegt hier ab. Auf den ersten Metern ist sie steil und in schlechtem Zustand, was sich aber kurz darauf ändert. Zwei Kilometer lang schlängelt sich ein breites Asphaltband durch offene Landschaft in die Höhe, mit freien Blicken auf Berge und Küste. Hinter Kazaviti steigt ein baumloser Berg auf über 1100 Meter hoch - das grüne Thassos ist hier offenbar nur ein Mythos. Die Hänge, in denen ich mich befinde, sind von niedrigen Büschen bewachsen, Schafe und Ziegen flüchten beim Näherkommen.

Es ist kalt, trotz Sonne. "Die Sonne hat Zähne" (ήλιο με δόντια) sagt man auf Griechisch.

 

Es ist eins vorbei als ich das Auto vor dem Kloster Agios Panteleimon abstelle, das auf 700 Metern über dem Meer liegt. Ein großer Parkplatz, aber mein Auto ist das einzige hier.

 

Das Kloster ist laut Schild von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang geöffnet, das Tor auch, und so sehe ich keinen Grund, die Klingel an der Pforte zu läuten, sondern betreten das Klostergelände. Die Anlage liegt am Hang, recht ist ein längeres, niedriges Gebäude, aus dem Musik herausklingt. Links ein großes langes Haus, ziegelgedeckt, das mich architektonisch an einen Bahnhof erinnert. Davor im Gras liegt (mal wieder) eine Reihe blonder Katzen in der Sonne, und Hühner hat es auch. Mönche sehe ich aber keine, drei soll es hier geben.

Ich gucke vorsichtig in das niedrige Haus, aus dem die Musik kommt. Ein wildes Sammelsurium befindet sich im ersten Raum, daneben ist der Klosterladen. Allerlei Ikonen, Devotionalien, Salben, alles vom Berg Athos. Auch hier stört mich niemand, als ich mir das Angebot ansehe. Nö, brauche ich nichts davon. Und ich will die Mönche ja auch nicht stören - zu oft schlechter Erfahrungen gemacht.

 

Weiter vorne steht die kleine Kirche, ein unscheinbares Haus mit moosgrünem Schieferdach und vergitterten Fenstern. Sie ist verschlossen. Offenbar die namensgebende des heiligen Panteleimon. Nochmal das Angebot, zu klingeln.

Ein Wegweiser zur Höhlenkapelle, zu der ein paar Schritte weiter eine Treppe hinab führt. Hier wurde eine wundertätige Ikone des Heiligen gefunden.

 

Ein Bewegungsmelder sorgt für spärliches Licht, aber die nassen Wände sind im Dunkeln. Irgendwo ist Wasser, eine Steintheke mit einer Ikone und ein paar Plastikblumen (frisch vom Markt in Prinos?), außerdem kleine Plastikfläschchen um sich das Agiasma, das heilige Wasser abzufüllen. Bloß wo? Im Dunkeln glänzt es feucht, aber selbst im Licht der Lampe meines Smartphones kann ich nichts sehen. Weil es außerdem noch kalt ist hier unten, steige ich wieder ins Tageslicht hoch, streife noch über das Gelände. Eine weitere Kapelle im Rohbau über dem flachen Gebäude, es wird expandiert. Und immer noch lässt sich kein Mönch blicken. Na gut, dann störe ich nicht weiter und gehe wieder. Ilka wird mir dann morgen sagen, dass ich unbedingt hätte klingeln sollen, da die Mönche hier - sie sind vor noch nicht so lange Zeit vom Athos gekommen - sich über Besuch freuen würden.

Und jetzt? Soll ich mir die Industrieruinen von Limenaria angucken, wie ursprünglich geplant, oder nach Theologos, dem größten Inseldorf? Ich fahre zunächst wieder hinab nach Prinos und dann entlang der Küste nach Süden. Kleiner Stopp in Skala Sotiros am Hafen: Palmen und Bötchen. Ein Angler. Nicht spektakuläres. Skala Kallirachis sieht ähnlich aus. Bei Skala Marion wird die Küste steiler, und dann bin ich auch schon in Limenaria. Fahre vorbei: jetzt doch nach Theologos. In Potos zweigt die neun Kilometer lange Stichstraße ins Inselinnere ab. Entlang eines Bachlaufes ein hübsches Tal mit Olivenbäumen. Links in dem Bergzug ist irgendwo eine Malachitmine. Wäre einen Besuch wert. Beim nächsten Mal. Thassos hat noch viel mehr Steine zu bieten außer Marmor und Schiefer.

 

Theologos (Agios Ioannis Theologos) ist das größte Bergdorf von Thassos und war bis 1840 der Hauptort der Insel, dann wurde es Panagia, und später Limenas. Nach dem 2. Weltkrieg zogen die Menschen hier weg, hinab zur Küste, wo es Arbeit gab. 630 Einwohner wurden 2011 gezählt, und auch wenn Theologos heute vor allem von Touristen besucht wird, so bin ich doch optimistisch, dass ich hier etwas zu essen bekomme. Es ist nämlich schon fast drei Uhr und mein Magen knurrt beträchtlich.

 

Der Ort zieht sich eineinhalb Kilometer entlang eines flachen Tales. Ich fahre ein Stück hinein, vorbei an einigen geschlossenen Tavernen und parke das Auto an der Straße kurz vor der Agios-Dimitrios-Kirche. Gehe Richtung Kirche. Die Straße ist immer wieder mit grauen Steinen gepflastert, die hübschen Häuser sehen sehr gepflegt aus. Und geschlossen. Ebenso geschlossen ist die Kirche Agios Dimitrios. Schiefergedeckt, mit einem niedrigen, moosgesprenkelten Dach in der für Thassos obligatorischen Scheunenoptik und mit einem überdachten, offenen Vorraum, in dessen Nischen gleiche mehrere heilige Dimitriosse über ungläubige Krieger reiten. Einen massiven Campanile gibt es auch.

Ich zweige in eine untere Gasse ab, wo ein Mühlrad an einem Haus klebt. Hübsch. Aber alles so leblos. Keine Taverne, kein Laden. Also wieder hinauf zur Hauptstraße, der ich nach Osten folge.

Der Ortsplan im Reiseführer weist hier eine Bäckerei aus. Nichts davon zu sehen. Gut, inzwischen ist es drei Uhr vorbei, da haben die zu. Genauso wie die Taverne Stelios, die selbstgezüchtete Tiere offeriert. Und Special Omelettes. Ja, würde ich nehmen. Aber die Türen sind verrammelt. Immerhin begegnet mir ein alter Mann am Stock, kaum grüßend. Es gibt hier also schon Menschen. Aber nix zu essen.

 

Dafür noch eine Kirche, die der heiligen Paraskevi. Etwas größer als die des Dimitrios, sehr gepflegt mit gepflastertem Hof, aber auch zu.

Ein hübsches blaues Haus, schmuck. Ein weißes niedriges Reihenhaus, schiefergedeckt, mit vielen kleinen Schornsteinen. Eine Pforte mit gemalten Dekor verziert. Gehört alles zum Volkskundemuseum. Ein bombastisches Haus gegenüber. Ich wandere weiter nach Osten. Noch ein gepflegtes, hohes Haus, mit einer Marmorbüste davor. Es ist der Freiheitskämpfer und erste Bürgermeister von Thassos, Metaxas Chatzigiorgis. Interessant die Darstellung mit einer Pistole im Gürtel. Leicht zu übersehen gegenüber die unscheinbare Kirche des Erzengels Michael. Immer noch kein geöffnetes Lokal, und wenn ein Laden sich als solcher zu erkennen gibt, ist er geschlossen. Mittagspause. Oder Winterpause. Ich werde nicht lang genug da sein um das herauszubekommen. Gut, dass ich im Auto noch eine Tüte Chips habe.

Je weiter ich gehe, desto höher wird die Ruinendichte. Ich wechsele kurz vor dem Ortsausgang in die obere Parallelstraße und gehe oben zurück, aber dort ist noch weniger los. Menschen scheinen hier aber schon zu leben, das zeigen gepflegte Blumen und der Geruch nach Holzfeuer. Und frischgesägtes Holz, zwischen Schrott drapiert.

Ein großes Haus mit leeren Fenstern, eine ehemalige Fabrik? Ein VW-Bulli mit ausgehängter Türe, die Luke mit Stoff abgedeckt.

 

Ich kehre zum Auto zurück und knabbere Chips. Wie ich da so sitze, kommt ein Mütterchen aus einem Haus, räumt Müll weg, gießt Blumen und zieht dann langsam entlang der Straße davon. Ich folge ihr wenig später mit dem Auto. Offiziell ist die Straße wohl eine Einbahnstraße, aber im Winter kann das getrost ignoriert werden.

Wo die obere und untere Straße zusammentreffen, ist Endstation. Sowohl für Auto, die dann auf der oberen Straße zurück müssen, als auch für (einige) Menschen: hier ist der Friedhof. Und ein Schild weist einen Feldweg zur Wassermühle und zur Quelle der heiligen Vassiliki, was laut Reiseführer (MM Thassos und Samothraki, Ausgabe 2014) ein zehnminütiger Spaziergang und sehenswert ist. Das ist doch noch drin, auch wenn es inzwischen schon vier Uhr vorbei ist.

                                                                                                                                                     

Der Feldweg ist sandig und verläuft parallel zu einem Bachlauf. Er endet an einem Gebäude mit Mühlrad-Deko hinter einem Teich, im Sommer wohl eine Taverne. Vor dem Teich Schotterhaufen, vielleicht wurden die Folgen des Unwetters weggebaggert? Seitlich ein weißes Ikonostasi und daneben ein Tischchen, das man auch für einen Altar halten könnte. Hier entspringt offenbar der Bach, also wird es sich um die Quelle der heiligen Vassiliki handeln. Auf Griechisch und Deutsch erklärt ein Schild etwas zur Geschichte des Ortes. 1287 wurde Theologos demnach in einem Schreiben des byzantinischen Kaiser Andronikos II erstmalig und als Metochi des Kloster Philotheou auf dem Berg Athos erwähnt.

Nicht wirklich spektakulär, das Ganze, aber im Sommer bei größerer Hitze sicher nett.

Ich mache mich auf die lange Rückfahrt nach Limenas. Bei Skala Marion hat man einen wunderbaren Blick nach Westen zum Berg Athos, ich halte an der Steilküste und genieße die schöne Stimmung und den Sonnenuntergang mit der gleichmäßigen Pyramide des Agios Oros.

Eine knappe Dreiviertelstunde benötige ich dann noch bis Limenas, wo ich im Dunklen ankomme und mich an der Zufahrt verfahre. Wer sich hier bei der Suche nach den Anthos Apartments verläuft oder verfährt, der landet am Friedhof, hatte Ilka gesagt. Stimmt.

Von den 200 Freikilometern habe ich heute schon 130 gebraucht. Mit den verbleibenden 70 Kilometern werde ich morgen nicht weit kommen, denn ich möchte ja gerne noch nach Kastro. Egal, jetzt ist Urlaub, jetzt bin ich da.

 

Zum Abendessen bin ich heute wieder Gianna. Sie hat wunderbare Fassolada gekocht, und vorab gibt es eine schöne rauchige Melitzsanosalata, dazu einen herben Rotwein. Zwölf Euro alles zusammen - passt!

Und morgen soll es wieder sonnig werden.