Für 25 Euro habe ich am Dienstag bei "Poseidon" direkt am Hafen einen Peugeot 107 gemietet. Beim Verleiher nebenan waren Kleinwagen ausgebucht, aber der nette Giannis von "Poseidon" hat mir den Peugeot schon am Vorabend reserviert. Ich hatte dabei fasziniert drei Griechinnen beobachtet, die gerade von der Fähre gekommen waren und sich nun ein Auto geliehen hatten: die älteste griechischblond und aufgebrezelt, aber offenbar kurz vor der Debilitätsgrenze . Sehr unterhaltsam, und ich werde sie heute noch mehrmals wiedersehen.
Anhand meiner Landkarte (Nakas Road Editions April 2015, 1:20.000) lasse ich mir von Giannis die befahrbaren Straßen zeigen, packe Wanderschuhe und Badeklamotten ein - beide werde ich nicht brauchen - und fahre los. Es soll gegen den Uhrzeigersinn eine Runde über die Insel werden.
Der erste Halt ist oberhalb von Psili Ammos. Der Strand dort soll sehr schön sein, und so marschiere ich mit meinen Badesachen den Treppenweg hinab. Sieht wirklich gut aus, feinsandig und mit reichlich Baumschatten, und wenn es nicht trotz strahlender Sonne aus wolkenlosem Himmel noch etwas kühl wäre, würde ich bestimmt reinhüpfen.
Ein Paar sitzt etwas weiter unter einer der Tamarisken, die den Strand säumen, sie scheinen hier zu campieren. Nicht der schlechteste Platz.
Ich gehe einmal bis zum nördlichen Ende und zurück. Der Strand ist eingerahmt von zwei Felsenkaps, auf denen sich einige Häuser verlieren. Bestimmt Feriendomizile. Eine düstere Reihe unverputzter Häuser thront auf den nördlichen Felsen. Eine Taverne gibt es auch, die ist aber noch geschlossen.
Weiter entlang der Küste vorbei an Agios Ioannis, das auch nur ein Strand mit ein paar Häuschen ist. Schöne Blicke auf die Küste und zurück zur Chora.
Kallitsos, früher Kentarchos, ist mein nächstes Ziel.
Von dem Dorf führt eine schöne Wanderung auf der Höhe nach Chora, wir sind sie vor Jahren gewandert, als es die Straße entlang der Ostküste noch nicht gab.
Das Dorf, das laut Zählung 2011 noch 58 Einwohner hat, war damals noch belebter als jetzt, wo ich von der Straße auf einem breiten Treppenweg hinab- und hineingehe. Nur noch ältere Menschen scheinen hier zu wohnen, sie grüßen freundlich-neugierig und eine Frau schenkt mir ein Bonbon. Nett!
Weniger nett die beiden großkalibrigen Hunde, die mich mitten im Ort kläffend anfallen. Zum Glück ist die Besitzerin nicht weit und kann sie zurückpfeifen. Fremde scheinen hier selten herzukommen.
Die schnell abgeschlossenen Dorfrunde ergibt: kein Kafenio, kein Laden, aber jede Menge Blumen und fruchtbare Terrassenfelder im Tal unterhalb des Ortes.
Von Kentarchos, ähm: Kallitsos führt die Straße vorbei an diversen Kapellen durch terrassierte, zunehmend ginstergelbe Landschaft. Akanthuskerzen recken sich in die Höhe. Ist das üppig und blühend hier! Der Inselnorden ist fruchtbarer als der Westen und Süden, ich bin eingehüllt in eine Duftwolke von Ginster. Wow!
Und dann diese blaubekuppelten Kapellen. Serifos ist Kykladen aus dem Bilderbuch.
Ich hatte überlegt, nach Platys Gialos hinabzufahren, entschließe mich aber, zunächst zum Kloster Taxiarches zu fahren, in der Hoffnung, dieses endlich besuchen zu können. Das große, festungsähnliche Gebäude leuchtet schon von Weitem in frischem Weiß.
Kurz vorher überhole ich zwei Wanderer, ein junges Paar, die ihr ganzes Gepäck inklusive Iso-Matten auf dem Rücken tragen. Ein Hund läuft schwanzwedelnd neben ihnen, ich muss aufpassen, dass er mir nicht unter die Räder kommt.
Beim Kloster haben ich wieder Pech: es ist verschlossen, auch Klopfen öffnet die Türe nicht. Der Mönch ist ausgegangen, falls er denn überhaupt noch da ist. Schade!
Ich versuche, das Gebäude ins Bild zu bannen, gehe darum herum. Die beiden Wanderer sind jetzt da, sie haben sich in den Schatten des Baumes des gegenüberliegenden Friedhofes zurückgezogen. Es sind Franzosen, und auf einem Weg unterhalb des Klosters treffe ich noch zwei Wandrerinnen, ebenfalls aus Frankreich. Da muss irgendwo ein Nest sein - Franzosen trifft man in der Vorsaison wesentlich häufiger auf den Kykladen als Deutsche.
Mit einer rudimentären Landkarte versuchen sie, den weiteren Weg nach Sykamia zu eruieren. Sie sind in der Früh mit dem Bus nach Kentarchos gefahren und ab dort hierher gewandert. Ich zeige ihnen meine Landkarte, wir kommen ins Gespräch. Mein Französisch ist ziemlich eingerostet und vom Griechisch überlagert, aber die beiden älteren Frauen sprechen auch etwas Englisch, und sie sind nett und so mache ich ihnen das Angebot, sie nach Sykamia mitzunehmen. Da will ich ja auch hin.
Martine und Hélène sind das erste Mal in Griechenland, und Serifos ist ihre erste griechische Insel. Eine gute Wahl, finde ich, und witzigerweise haben sie die gleichen Inseln im Programm wie ich, nur in anderer Reihenfolge: Morgen soll es nach Sifnos gehen, dann Milos, und zum Schluss Santorini. Es gefällt ihnen sehr gut hier, allerdings befürchte ich, dass sie am Schluss auf Santorini ihr blaues Wunder erleben werden, nach der Ruhe der Westkykladen.
Auf alle Fälle nehmen sie mein Angebot an und steigen ein. Und ich verpasse, das Kloster nochmals richtig von vorne zu fotografieren....
Wir kurven zunächst nach Galani, einem weiteren Dorf, in dem nur noch Ältere zu leben scheinen, verfahren uns etwas, und erwischen dann die richtige Straße hinab zum Strand
von Sykamia. Die kurvt ziemlich, ist aber ausreichend gut ausgebaut und zu beiden Seiten von blühendem Ginster und anderen Gesträuch eingefasst. Schön! Von Galani würde auch ein Wanderweg hinab
führen, und westlich des Tales wieder hinauf. Das junge Paar wird ihn nehmen. Wo ist eigentlich der Hund hin? Er gehört wohl zum Kloster.
Ein üppiges Tal ist das unten in Sykamia. Wir stellen das Auto am Ende der Straße ab und laufen das Stück vor zum Strand. Ein sehr schöner Strand, erinnert mich ein bißchen an Agia Theodoti auf Ios (na, nur ein bißchen). Es ist völlig einsam hier, hat aber ein paar Bänke im Schatten von Tamarisken, die darauf schließen lassen, dass das später im Jahr nicht mehr er Fall ist. Das Meer lockt zum Bade, und wir würden das gerne naturiste machen, aber da ist dieses Fischerbot, das draußen in der Bucht ankert. Die Besatzung ist beschäftigt (bilden wir uns ein), und so stürzen wir schnell ins herrliche Meer. Kalt, aber schön!
Und kaum sind wir drin, da kommen auch schon die beiden jungen Franzosen angewandert. Die suchen sich aber ein Plätzchen für sich, der Strand ist breit genug.
Danach noch ein schnelles Vesper. Ich hab nur Chips dabei, da ich hoffte, auf eine geöffnete Taverne zu treffen, was aber bisher nicht der Fall war. Martine und Hélène versorgen mich mit Tomaten und Orangen. Sie meinen, sie würden nun nach Panagiá hinaufwandern, von dort mit dem Bus nach Livadi fahren, dort zwei Mopeds mieten und noch in den Inselwesten fahren. Das können sie einfacher haben: sie sollen doch einfach bei mir mitfahren, denn ich will ja auch in den Westen. Pas de problème - machen wir. Und so fahren wir, erfrischt vom Bade, wieder hinauf, nach Panagiá. Die Straße ist ein paar Mal recht steil, aber der Peugeot packt das auch mit drei Personen.
In der Hoffnung auf ein kühles Getränk sehen wir uns Panagia an. Ein nettes Dorf mit siebzig Einwohnern, aber zu Mittagszeit - es ist inzwischen halb zwei - völlig ausgestorben.
Hübsch der kleine Dorfplatz vor der ältesten Inselkirche (11. Jahrhundert), überschattet von einem großen Olivenbaum, um den früher beim Xylopanagia am 15. August getanzt und mit Holz (bzw. Oleanderästen) geprügelt wurde. Die Kirche ist - wie alle auf Serifos - abgeschlossen, und auch mit einem Kaltgetränk im Kafenio wird es nichts: Es gibt zwar so etwas wie einen kleinen Laden mit Stühlen davor, aber der ist zu. Also fotografieren wir noch fleißig die blumengeschmückten Staffeln, die Wäsche mit dem einzigen sichtbaren Dorfbewohner, einem Hund, davor, und die Maikränze an den Hausfassaden. Doch, das ist hübsch hier. Aber gibt es auch ein geöffnetes Lokal irgendwo außerhalb von Livadi-Livadakia-Chora?
Die Straße schraubt sich nun hinauf auf einen Pass, 450 Meter über dem Meer. Nach Süden sieht man wieder Chora und Livadi, dahinter Sifnos. Kein blühender Ginster auf dieser Inselseite.
Wenig später biegt rechts die Straße nach Megalo Livadi ab. Wir befinden uns auf einer kargen, baumlosen Hochebene, eingefasst von schroffen Felsenbergen. Wieder eine ganz andere Landschaft.
Unvermittelt weist ein Schild auf den weißen Turm, den Aspros Pirgos hin. Den wollen wir uns natürlich anschauen. Vom Parkplatz sind es zweihundert Meter zu den weißen Turmstumpf, dessen Steine so weiß und glatt aussehen als wären sie gerade erst erbaut worden. Ähm, und das soll ein Wachturm aus hellenistischer Zeit, also aus dem 4. vorchristlichen Jahrhundert sein.
Der Turm misst zwölf Meter im Durchmesser und steht noch fünf Meter hoch. Er wurde wohl 2010 bis 2014 rekonstruiert, aber aus den Originalbauteilen. Viele davon liegen sauber aufgereiht neben dem Turm, außerdem gibt es die kleine Kapelle des Agios Charalambos mit verbauten Steinen, und einen Friedhof. Das Ganze auf einem Hügel mit Aussicht - klar, war ja ein Wachturm. Ähnliche gibt es auf Ikaria, Andros, Naxos oder Sifnos.
Keine zehn Minuten sind es von hier mit dem Auto hinab zum Meer bei Mega(lo) Livadi.
Hier und in der benachbarten Bucht von Koulatas wurde ab der zweiten Hälfte des 19. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhundert Eisenerz abgebaut. Und vorher schon jahrtausendelang ab der Frühbronzezeit.
Das führte dazu, dass Serifos 1912 etwa 4.400 Einwohner hatte (heute noch 1.420), von denen die Hälfte im Bergbau tätig waren.
Die seit 1912 in einer Gewerkschaft organisierten Bergarbeiter kämpften für bessere Arbeitsbedingungen und streikten im August 1916 u.a. für einen Achtstundentag. Der Streik eskalierte, das Ganze gipfelte am 21. August schließlich darin, dass Militär und Polizei auf die etwa 2.000 Arbeiter und deren Familien schossen, auch auf Befehl des deutschstämmigen Ingenieurs Georg Grohmann. Vier Arbeiter wurden getötet, dreißig verletzt. Die sich wehrenden Arbeiter töteten wiederum den befehlshabenden Leutnant, einen Unteroffizier und zwei Polizisten mit Steinen. Der Gewerkschaftschef Konstantinos Speras konnte schließlich zusammen mit dem Pappas die Wogen glätten.
1951 wurden die Minen geschlossen, der Bergbau wurde 1965 endgültig eingestellt, später die Ruinen des Bergbaus zu Kulturdenkmälern erklärt. Und gammeln seither vor sich hin.
Weil ich solche maroden Übrigbleibsel liebe, bin ich gespannt auf Mega Livadi. Und werde gleich fündig: Auf der Südseite der Bucht ragt eine rostige Verladerampe wie eine abgestürzte Brücke ins Meer. Darum herum gemauerte Pfeiler, verlotterte Rampen, rostige Loren. Ich erkläre den beiden Französinnen, dass die Griechen eine Neigung dazu haben, nicht mehr benötige Dinge einfach an Ort und Stelle liegen zu lassen, was Archäologen ebenso zu schätzen wissen wie neuzeitlicher Forscher und Fotografen. Nur die Naturschützer und Touristen haben gelegentlich ein Problem damit (vor allem wenn es sich um Müll handelt), aber hier wohl nicht.
Wir spazieren dort herum, alles offen, nichts abgesperrt.
Groß ist meine Freude, als ich am Strand des Mini-Ortes Megalo Livadi gleich zwei geöffnete Tavernen sichte. Gelegenheit, meinen Mitfahrerinnen zu erklären was ein Frappé ist und einen solchen, begleitet von einem Käseomlett, zu genießen. Die Französinnen sind begeistert vom Frappé - erinnere an Irish Coffee, und ob das Alkohol drin sei. Nein, nur Wasser, Eis und löslicher Kaffee (sie trinken ihn sketo). Ich versuche, mich an meinen ersten Frappé zu erinnern, 1991 auf Korfu. Doch, das war auch besonders.
Die Nachbartische sind gut belegt, eine griechische Großfamilie, und da sind auch wieder meine drei Griechinnen von gestern. In der Bucht ankert ein Katamaran, im Wasser wird geschnorchelt - alles hier erinnert an Sommerfrische. Witzig an eine Dienstagnachmittag Mitte Mai.
Nach Norden hin wird der Ort, der eigentlich nur aus den Tavernen und wenigen Häusern besteht, von einem breiten Gebäude mit hohen Palmen davor abgeriegelt. Es handelt sich um das ehemalige Hauptquartier der französischen Minengesellschaft Societe des Mines de Spiliazzeza au Lavrium et de Seriphos, 1890 im neoklassizistischen Stil gebaut und inzwischen malerisch zerfallend. Wir trauen uns vorsichtig hinein in die Ruine und bestaunen korrodierte Utensilien, die dort herumliegen. Auch kleinere Nachbarhäuser präsentieren sich in verschiedenen Zersetzungszuständen, und alles wird umflattert von den omnipräsenten Schmetterlingen. Ein interessanter Ort.
An den Arbeiteraufstand von 1916 und die vier Gefallenen erinnert ein Denkmal, das ein paar Meter weiter steht. Die vier toten Polizisten/Militärs bleiben unerwähnt....
Aber die Büste der Gewerkschaftsführer Konstantinos Speras, der nach dem Streik ins Gefängnis nach Syros kam, später im Widerstand gegen die deutsche Besatzung aktiv war und 1943 von einem Mitglied der kommunistischen ELAS ermordet wurde, steht - Ironie des Schicksals - vor der ehemaligen Polizeistation südlich des Strandes.
Wir verlassen Mega Livadi und fahren in einer Schleife nach Koutalas, wo weitere Industrieruinen die Landschaft zieren. Offenbar gehören da auch zwei alte LKW und ein Bus dazu, die links und rechts der Straße im hohen Gras ihrer endgültigen Zersetzung harren. Außerdem zerfallende Häuser, in die Luft ragende Förderbänder und ein zweite, ins Meer ragende Verladestelle. Alles wunderbar morbide.
Dem Dorf Koutalás - so es ein solches gibt - statten wir so wenig einen Besuch ab wie der Nachbarsiedlung Gánema. Aber der Sand-Kies-Strand östlich davon lockt uns zum zweiten textilfreien Bad des Tages.
Dörfer, Ruinen und Strände - eine gute Mischung.
Die Straße entlang der Südküste zurück nach Livadi ist dann weniger reizvoll. Ab Vagia klettert sie wieder auf 150 Meter über Meer hinauf und ermöglich ein paar schöne Blicke. Wir sind da aber schon etwas erschöpft von den vielen Eindrücken des Tages und trudeln nach 18 Uhr wieder in Livadi ein.
Weil Hélène und Martine es irgendwie geschafft haben, bei ihrem gestrigen Chora-Besuch die malerische Pano Piatsa zu verpassen, fahren wir um halb acht nochmals hinauf nach Chora und gehen zur Fuß hinauf zur Kastrohügel. Die Chora ist da schon in hellblaue Schatten getaucht, und für spektakuläre Sonnenuntergänge liegt sie auf der Ostseite der Insel definitiv falsch. Trotzdem ist die Stimmung schön.
Ebenso wie das Abendessen auf der Piatsa im "Stou Stratou". Wir bestellen eine Pikilía zusammen nachdem der Kellner uns versichert hat, dass die groß genug für drei Personen sei. Groß ist sie, wenn auch nicht wirklich griechisch mit Käse, Salami, kleinen Würstchen, Apaki, Kartoffeln, Tomaten, Gurken, Oliven, Tsatsiki und Käsesalat. Aber im dämmrigen Licht einer trüben Tischlaterne ist es so ganz praktisch und wir werden satt. Ein gelungenes Ende eines schönen Tages voller Eindrücke.