Kreta-Allergie

Es war im letzten Herbst des ausklingenden Jahrtausends. Wir hatten einen preiswerten Flug nach Iraklion gewählt um in der Ägäis inselzuhoppen. Schon am Abend brachte uns eine Fähre nach Santorin, von wo aus wir nach zweistündiger Pause nächtens nach Anafi weiterfahren konnten. Und wunderbar ruhige Tage verbrachten, ehe wir nach Astypalea und später nach Amorgos weiterreisten.

 

So preiswert der Flug nach Kreta gewesen war, er hatte einen Schönheitsfehler: lediglich zwei bis drei Mal pro Woche verkehrte damals eine Fähre von den Kykladen nach Iraklion. Und so mussten wir schon drei Tage vor dem Rückflug auf die ungeliebte große Insel zurückkehren. Von Amorgos nach Naxos, dort ein paar Stunden verbummelt, und um 21.30 Uhr dann auf die „Milena“ der GA-Ferries mit Ziel Kreta. Wo wir morgens um halb sechs Uhr ankamen.

 

Und wohin nun?

Allzu weit sollte es nicht weg sein, und gute Busverbindungen nach Iraklion haben. In Pitsidia hatten wir im Vorjahr genächtigt, da wollten wir nicht wieder hin. In der lärmigen Großstadt Iraklion wollten wir auch nicht bleiben. Malia hatte ich früher mal ausprobiert, das hatte mir nicht besonders zugesagt. Reiseführer für Kreta hatte ich keinen dabei, und Plan auch keinen. Wieso wir dann ausgerechnet auf Chersonissos verfallen sind – ich kann es nicht sagen. Vielleicht weil viele Busse dorthin fuhren. Auf alle Fälle war es die schlechteste Wahl, die wir hätten treffen können.

 

Als wir mit dem Bus gegen halb neun in Chersonisos (eigentlich Limenas Chersonisou) ankamen fing der Ort erst allmählich an lebendig zu werden. Erste Bustouren starteten, kurzbehoste und rotgebrannte Rentner aus Mittel- und Nordeuropa starren uns verwundert an – mit unseren Rucksäcken auf dem Buckel fielen hier wir definitiv als Fremdkörper auf. Zaghaft hielten wir Ausschau nach dem Schild „Rooms to let“, oder hofften von einem Zimmervermieter angesprochen zu werden. Vergebens. Dabei waren wir umgeben von großdimensionierten Hotelanlagen. Unsere Versuche, uns dort einzumieten, scheiterten allerdings: ausgebucht, nicht spontan zu buchen – es waren noch goldene Tourismuszeiten auf Kreta.

 

Über eine Stunde zogen wir der Küste entlang durch die Straßen, was unsere Bemühungen nicht erleichterte, sahen wir doch zunehmend verschwitzt aus. Irgendwann dann die Rettung: in einem Reisebüro stand etwas von Zimmervermittlung, und da hatten wir Glück: für 10.000 Drachmen die Nacht könnten wir ein Zimmer bekommen. Wir würden gleich von einem PKW abgeholt. Und so landeten wir in der edlen kleinteiligen Anlage „Nine Muses“ in Hinterland auf dem Weg nach Piskopano. Aber nicht in einem der schicken Appartements, sondern im Untergeschoß in einer Art Dienstbotenwohnung mit einem Pool über uns. Immerhin war es ruhig, sauber und groß. Dass die Klobrille nur lose auf der Toilette auflag, was beim ersten „Besitzen“ dazu führte, dass ich samt derselben neben der Toilette landete, war nicht wirklich ein Problem. Oder die Schnaken, die sich in Scharen in den Kleiderschränken versteckten. Dafür gab es einen niedlichen Welpen namens Dodo, mit dem man herrlich herumspielen konnte.

 

Wir hätten es also schlimmer treffen können. Wir erholten uns am Vormittag in der Wohnung, und sahen uns am Nachmittag den Ort und den Strand an.

Dort traf uns der Schock. Wir hatten ja schon am Vormittag gesehen, dass Chersonissos einer dieser klassischen, zu schnell gewachsenen Strandorte ist, wie es sie auf der ganzen Welt so oder ähnlich gibt. 30.000 Betten sollen hier zur Verfügung stehen! Dazu jede Menge Tavernen aller Preisklassen und Bars, die vielsprachig mit Fußballübertragungen im TV und Bier vom Faß warben. Die unvermeidlichen Souvenir- und Strandbedarfsläden, Shops mit geschmacklosen T-Shirts. Reiseveranstalter priesen „kretische Abende“ an. Alle Klischees derart auf einem Haufen erschlugen uns nahezu.

 

Ein Blick auf den Strand nahm uns jegliche Badelust: die Liegen standen so dicht an dicht, dass man nicht von einer Liege fallen konnte ohne die Nachbarliege zu treffen. Neben jeder Liege stand eine kleine Plastikschüssel, deren Zweck sich uns nicht erschloss (vielleicht dass er spärliche Sand nicht mitgenommen wurde?). Der Strand war nicht besonders groß, und danke der Liegendichte (und der Größe der Buchstaben) konnte man spielend die BLÖD-Zeitung des überübernächsten Nachbarn mitlesen. Uns gruselte…

Aber da es recht warm war, setzen wir uns durstig in eine der strandnahen Tavernen, Blick auf das Strandelend. Am Nachbartisch zwei nicht mehr junge holländische Paare, feist und rotverbrannt, nur notdürftig bekleidet die Frauen, nackter Oberkörper die Männer. Der Kellner schäkerte mit ihnen, ständig fasste er die Frauen an, denen das zu schmeicheln schien. Ich bekam einen Buckel, und falls der polyglotte Kellner mit mir einen ähnlichen Umgang hätte pflegen wollen, so hätte er von mir wohl eine gefangen. Aber dumm war er nicht, bemerkte meine Antipathie und wahrte Sicherheitsabstand: die kühlen Getränke bekamen wir unangetatscht.

 

Eine ähnliche Begegnung hatten wir in einer anderen Taverne am Abend. Die Bestellversuche auf Griechisch wurden auf Deutsch gekontert, samt dummen und anzüglichen Sprüchen.

Und dann erzählen die Leute nach vierzehntägigem Urlaub hier (inklusive landestypischer Tanzvorführungen samt Sirtaki und Gläserpyramiden), sie hätten Kreta gesehen! Ja, es ist auch Kreta, aber wenn das Kreta war, dann musste ich das nicht haben.

Dass dann am Flughafen in Iraklion das obligatorische Chaos und Überfüllung herrschten, mit Schlangen bis vor die Türe, und unser Flieger mit einstündiger Verspätung startet, rundete das negative Bild nur noch ab. Selten bin ich so gerne aus Griechenland abgereist wie damals. Dabei hatten wir drei wundervolle Inseln besucht. Kreta zählte nicht dazu.

 

Nur noch in „Notfällen“ buchte ich danach Flüge nach Iraklion. Wir übernachteten in der Stadt und sahen zu, dass wir so schnell wie möglich weg und so spät wie möglich zurück kamen.

 

Bis irgendwann in mir der Wunsch aufkam, Europas südlichste Insel Gavdos zu besuchen. Was nur über Kreta geht. Und zu einem unfreiwillig langen Aufenthalt in der Sfakia führte. Tja, und diese Ecke Kretas, die hat uns gefallen. Weil die Berge hier kahl und hoch sind, und weite Ausblicke ermöglichen. Weil man wundervoll (und auch manchmal weniger wundervoll) wandern kann. Weil man ein Stück Inselgefühl erhält dadurch dass es Fähren gibt, und Orte, die nur per Schiff zu erreichen sind. Weil die Einwohner ihren Stolz noch nicht völlig an die Touristen verloren haben, und sich nicht verbiegen. Weil die Tänze und die Musik hier wild und schnell sind. Wie die Menschen.

 

Kreta war mir immer viel zu groß. Ist es immer noch. Es gibt nur wenige Gegenden, die zu besuchen mich reizt. Und weil das auf Kosten anderer Inseln geht, muss Kreta warten.

Aber ich komme schon wieder, irgendwann.