Grammata

Pünktlich um halb zehn stehe ich am Sonntagmorgen vor meiner Pension, und pünktlich sind auch Lothar und Therese da. Und Silvia und Stefan, ein Schweizer Paar, das seit vielen Jahren in Finikas lebt. Silvia ist auch Reiseleiterin für einen Schweizer Veranstalter von Wanderreisen (genau: mit einer deren Gruppen hatten wir vor Jahren auf Karpathos ein unerfreuliches Zusammentreffen. Aber Silvia kann das wettmachen....) und kennt die Wanderwege auf Syros sehr gut.

Wir quetschen uns in ein Auto, und dann schlägt Silvia zwei Wandermöglichkeiten vor: entweder in Nordosten, bis Kastri, oder in den Nordwesten, nach Grammata.

 

Kastri ist die bronzezeitliche Siedlung, die Theo hier erwähnt, beziehungsweise die Fundamente davon. Soll nicht soo beeindruckend sein (besser wäre es aus der Luft), und so entschließen wir uns zur zweiten Wanderung, von Kambos nach Gria Spilia und weiter nach Grammata. Dann wieder zurück und zur Bucht von Lia, ehe sich die Runde in Kambos schließt. Anschließend natürlich ein Einkehrschwung, der leider nicht im "T'Aloni" in Papouri erfolgen kann, weil Meike auf Kreta weilt und die Taverne geschlossen hat. Schade!

 

Von der Straße aus werfen wir einen Blick auf den Kastri-Hügel. Die Siedlungsmauern liegen allerdings auf der anderen, von hier nicht einsehbaren Hügelseite. Eine Woche später, im archäologischen Nationalmuseum in Athen, wird sich erneut ein Kreis für mich schließen: dort gibt es zahlreiche Fundstücke aus Kastri, unter anderem einen megasüßen bronzezeitlichen Igelkatzenbären in Gefäßform.

Das Wetter ist hervorragend, fast wolkenlos. Ich hätte nicht gedacht, dass es an einem 22. Oktober so warm sein könnte. Es hat seit Juni nicht nennenswert geregnet (was sich in den nächsten Tagen ändern soll), und so zeigt sich der Inselnorden in einem goldbrau-verbrannten Farbton. Ich mag sowas ja, auch wenn es hier schon ziemlich extrem ist.

Viertel nach zehn ist es als wir das Auto in Kambos abstellen. Kambos ist, wie fast alle Orte des Inselnordens, nicht wirklich einer, sondern nur eine lose Ansammlung einiger Höfe und Häuser.

 

Sechzig Minute zeigt der Wegweiser bis Grammata an, was ich im Nachhinein für ambitioniert halte. Wir werden länger brauchen, aber natürlich auch Pausen machen.

 

Auf einem Monopati wandern wir sanft bergab, finden in einer Bodenplatte eine moderne Bitte an Gott Apollon. Ob er hilft wenn er so mit Füßen getreten wird?

Vor und unter uns schneiden sich zwei tiefe Buchten in das Inselgrau. Ein paar Mauern und zwei weiße Punkte sorgen für Struktur. Und in der Ferne, das sind doch zwei hellgrüne Streifen? Bäume? Hier in der trockenen Öde des Nordens?

Nach einer Dreiviertelstunde haben wir das Grün erreicht, und Silvia erzählt uns dazu die Geschichte des Amerikano. John H.G. Pierson hieß er, und er war Wirtschaftswissenschaftler bei der US-Verwaltung und den Vereinten Nationen. Er hatte Homer gelesen, und besuchte 1962 zum ersten Mal die griechischen Inseln. Überrascht von deren Kargheit und in dem Wissen, dass dies früher (also ganz früher) anders war, setzte er sich in den Kopf, auf einer der Inseln ein Aufforstungsprojekt zu starten. 1964 kehrte er mit seinem Sohn John junior zurück und erwarb ein 320 Hektar großes Grundstück in der Ano Meria im Norden von Syros. 18.000 Bäume verschiedener Sorten - die meisten waren Kiefern - ließ er anpflanzen, einzeln in Mulden um das Regenwasser und den Tau aufzufangen. Dazu kam ein Haus für die Arbeiter, poetisch "Gärtnerhaus" genannt, und ein einfaches Haus für den Amerikano selbst. Ein Brunnen dazu und Zäune versperrten den hungrigen Ziegen die Zugang.

Etwa 5.000 der Bäume überlebten.

 

Der Amerikano , der von den Einheimischen schnell akzeptiert und Jannis genannt wurde, starb 2001 im hohen Alter von 95 Jahren. Seine Asche wurde gemäß seinem Wunsch auf dem Grundstück verstreut. Sein Sohn John junior kümmerte sich um das Waldstück, allerdings ist er inzwischen auch schon recht betagt. Und so finden wir die Zäune niedergerissen, die Bäume dem Verbiss der gierigen und nichts verschonenden Ziegenmäuler preisgegeben. Dennoch erstaunlich, wie die Bäume den Widrigkeiten des ägäischen Wetters trotzen können wenn sie eine gewisse Größe erreicht haben.

 

Am oberen Rand des Grundstückes finden wir den Ziehbrunnen, der tatsächlich noch Wasser enthält.

Zum Strand von Gria Spiliani (auch tou Amerikanou genannt) geht es nun durch einen Wald von Kiefern. Unten am Strand stehen sogar Palmen. Dort wird im Sommer gerne wild gecampt, eine Feuerstelle und ein Picknickplatz laden zur Verweil ein. Hoffentlich wird hier verantwortungsvoll mit offenem Feuer umgegangen, sonst geht der Rest von Piersons Traum in Rauch und Flammen auf!

Die Tamarisken weinen im Südwind salzige Tränen.

Wir genießen den schattigen Platz ehe wir entlang der Felsenküste weiter nach Grammata wandern. Eine halbe Stunde dauert das, und die grüne Farbe und Schichtung einiger Felsen beeindruckt fast so wie die Farbe des Meeres. In der Bucht ankert ein großes Fischerboot.

Nachdem wir den grobsandigen Strand in der tiefen Bucht von Grammata überquert haben, suchen wir auf den schrägen grauen Felsenplatten dahinter nach den Grammata, den Buchstaben, die diesem Ort den Namen gegeben haben.

Die Felsenschriften sind - zumindest teilweise, es gibt auch moderne Nachahmer - älteren Datums. Sie sollen aus dem Mittelalter oder sogar älter sein (römisch?), als Seeleute hier auf diese Weise um Segen für ihre Fahrten gebeten haben. Es gibt Schriften, die auf Christus verweisen (mit einem Kreuz versehen), und solche, in denen Asklepios angerufen wird. Auch der heilige Fokas wird genannt, er war der Schutzheilige der Seefahrer bevor der heilige Nikolaos ihn ablöste. Die Bucht bot nämlich einen sicheren, vor Nordwinden geschützten Ankerplatz.

Wind und Wetter haben die Ritzungen über die Jahrhunderte abgeschliffen, bald werden sie ganz verschwunden sein.

Silvia kennt sich aus, und kann auch dabei helfen, die alten Ritzungen von neuen zu unterscheiden. Die alten erkennt man oft am Rahmen mit dreieckigen "Griffen" rechts und links. Eine der Schriften ist mit einem neunarmigen Leuchter verziert.

Interessant das Ganze.

Über die rätselhaften Schriften sinnend wandern wir wieder zurück zur Gria-Spilia-Bucht. Jetzt wäre eigentlich Zeit für ein Bad, aber Silvia hat sich zur Abkühlung erst den Strand von Lia ausgesucht und um diesen zu erreichen müssen wir noch drei Hügelrücken überwandern. Die Wege sind nicht in meiner Anavasi-Karte eingezeichnet, und nicht zum ersten Mal finde ich es sehr bequem, eine wegkundige Führerin dabei zu haben. Überhaupt können Silvia und Stefan so manches erzählen, über Syros im Speziellen, aber auch über die griechische Inselwelt, auf der sie ganz gut herumgekommen sind. Nächstes Jahr wollen sie wieder in die Schweizer Heimat zurückkehren, und ich drücke ihnen ganz fest die Daumen, dass sie sich dort gut einleben. Leicht wird der Wechsel bestimmt nicht.

 

Die nächste Bucht, Marmari, wird von einigen Sonnenschirmskeletten geschmückt. Im Sommer ist hier offenbar durchaus Betrieb, es gibt Boote von Kini, die die Badehungrigen herbringen so sie den langen Fußweg scheuen.

 

Der kleine Strand von Megas Lakos ist schon durch ein Paar belegt, das sich schnell notdürftig mit Klamotten bedeckt. Keine Angst, wir stören nur ganz kurz. Eine Bretterhütte lässt hier auch auf Wildcamper schließen.

Danach müssen wir den Beginn des Weges etwas suchen, er führt oberhalb der schroffen Felsenküste entlang. Grünliche Felsenadern durchziehen die Landschaft.

Uns ist ordentlich warm geworden, und als wir den langen Strand von Lia erreichen, an dessen einem Ende ein kleines Sommerhaus mit unmediterranen Leuchtturmdekos steht - mehr Schatten ist nicht - stürzen wir uns zügig in die kühlen Meeresfluten, unsere Badekleidung schonend. Mein Badethermometer, von Lothar mit Amüsement zur Kenntnis genommen, zeigt 21° Wassertemperatur an. Nicht schlecht für die zweite Oktoberhälfte.

Natürlich kommt genau als wir uns munter im Wasser tummeln, ein Paar den Strand entlang. Sie haben nach den Bienenstöcken geguckt und fahren nun mit einem kleinen Boot, das am Anleger vertäut ist, wieder weg.

Es ist schon halb drei, und weil wir nur wenig bis gar keinen Proviant dabei haben - irgendwie hatten wir irrtümlich vermutet, dass Silvia eine kürzere Tour ansetzen würde - wird es Zeit, eine Taverne aufzusuchen. Und weil es hier unten dergleichen nicht gibt, müssen wir wieder zum Auto hinauf nach Kambos.

 

Der Weg zieht sich vom Beginn des Strandes entlang eines Tales durch die sonnenverbrannte Landschaft. Und er zieht sich wirklich. Wirkt zu Beginn noch die Abkühlung im Meer nach, so sind wir nach einer halben Stunde ausreichend erhitzt um uns nach einer neuen Erfrischung zu sehnen. Da haben wir noch nicht mal die Hälfte der Strecke. Lothar bekämpft seinen Hungerast mit Silvias Traubenzucker. Da merkt man die erfahrene Wanderführerin.

Vorbei an Bienenstöcken, einigen bizarr geformten Felsen und einer zum Taubenschlag umgenutzten Höhle erreichen wir nach siebzig Minuten sanftem, aber unnachgiebigem Anstieg wieder das Auto bei Kambos.

Nun schnell nach Sa Michalis ins "Plakostroto". Natürlich hat sich Silvia vorher erkundigt, ob es geöffnet hat - es ist ja schließlich Nachsaison. Aber Sonntag, und so finden wir dort zahlreiche speisende Gäste im rustikal angehauchten Speiseraum, aber auch einen freien Tisch mit Blick übers Meer bis Jaros/Giaros, der Gefängnisinsel mit der bedrückenden Junta-Vergangenheit (wer sich vorstellen will wie es dort zugegangen sein könnte, dem sei der Roman "Mary" von Aris Fioretos empfohlen).

Die ersten beiden Flaschen Wasser verdunsten im Nu, die Auswahl der Speisen ist groß und daher schwierig, aber wir ordern einfach mal wonach uns der Sinn steht, und jeder probiert von allem. Die roten Bete mit Walnüssen sind so köstlich wie der rauchige Melitsanosalata oder die krossen Zucchiniküchlein, die gebratenen Paprika, der überbackenen Käse oder der Ruccolasalat. Ein gebratener Hahn vertreibt schließlich die letzten Hungerreste. Mir läuft jetzt beim Schreiben noch das Wasser im Munde zusammen.

Und natürlich bleibt es nicht beim Wasser.

Das haben wir uns auch echt verdient!

 

Nachdem jeder sich mit zwanzig Euro an der Rechnung beteiligt hat, reicht die Summe noch für einen Elliniko pro Person, ehe wir uns draußen bei der kleinen Kapelle Sa Michalis dem von rosafarbenen Wolken verzierten Sonnenuntergangshimmel widmen. Was für ein schöner Abschluss einer herrlichen Tages.

Danke an Silvia und Stefan, dass ich dabei sein durfte.

In Ermoupolis verabschiede ich mich von den beiden und von Lothar und Therese und gönne mir eine Dusche mit anschließender Ruhepause. Zu Abend essen muss ich heute nicht, dazu bin ich viel zu satt.

 

Aber als gegen halb zehn die "Blue Star Naxos" auf dem Weg nach Amorgos im Hafen anlegt, bin ich dabei. Gegen drei Uhr in der Nacht wird sie in Katapola sein, nur ein kurzer Hauch von Wehmut überkommt mich.

Und natürlich sind vier fliegenden Händler mit ihren großen Körben voller Loukoumia und Chalvadopittes schnell auf dem Schiff um en passant ihre Süßigkeiten zu verkaufen. Ich glaube, für diesen Job qualifiziert man sich vor allem durch täglichen Genuss der Ware und dem daraus resultierenden Körperumfang ...

 

Bei einem Viertel Rosé im "Amvix" lasse ich den Tag ausklingen.

Morgen möchte ich dann mit dem Auto die Insel erkunden.