Über Anogia nach Rethymno

Als wir in Tilisos mitten in eine Beerdigung geraten, überlege ich, ob das ein schlechtes Omen für unseren diesjährigen Kreta-Eisvogeltage-Urlaub sein könnte. Und wenig später, in Anogia, wird auch gestorben und beerdigt. Liegt es am Freitag, oder schafft der Januar die Kreter?

Aber die Sonne scheint, und wir haben gerade Iraklio hinter uns gelassen. Zehn Tage Mittelkreta liegen vor uns und ich freue mich, dem mitteleuropäischen Pseudo-Winter mit wenig Schnee und Sonne entkommen zu sein.

 

Unsere Parea ist im Gegensatz zum Vorjahrsjanuar um eine Person gewachsen: meine Cousine Barbara aus Zürich hat sich Theo und mir angeschlossen. Gestern Abend sind wir in Iraklio eingetrudelt, haben unseren Mietwagen von "The Best Cars" in Empfang genommen - den Fiat Bravo kennen wir schon von vor zwei Jahren - und uns für eine Nacht im bewährten Hotel "Kronos" eingemietet. 50 Cent Übernachtungspauschale pro Zimmer fallen an - zum Glück habe man nur zwei Sterne, sonst wäre die Taxe 1,50 pro Zimmer entschuldigt sich die nette Rezeptionistin. Nicht wirklich ein Problem, versichern wir ihr: in der Schweiz oder Deutschland sind Kurtaxe oder Übernachtungssteuer wesentlich höher, und pro Person. Allerdings fließt die griechische Übernachtungssteuer an den Staat, und nicht in die lokale Infrastruktur. Der Staat braucht das Geld dringender.

 

Das Abendessen im "Ligo krasi... ligo thalassa" mit Fava, Keftedakia, Salat und Tirokafteri ließ auch keine Wünsche offen. Und ob das verschlossene 100-Milliliter-Fläschchen Olivenöl auf dem Tisch schon der neuen Verordnung zu etikettiertem und versiegeltem Olivenöl geschuldet war? Zum Glück haben wir dergleichen nicht wieder gesehen.

 

Nach dem Frühstück mussten Barbara und ich uns dann noch schnell das archäologische Museum ansehen - seit der Renovierung hatte ich dazu noch keine Zeit gefunden, und die Cousine war vor 30 Jahren das letzte Mal auf Kreta. Im winterleeren Museum werden wir so überschwänglich willkommen geheißen, dass ich mich erst mal umsehe, ob wirklich wir gemeint sind. Doch, da ist niemand sonst.

Der Eintrittspreis beträgt im Winter nur die Hälfte (5 Euro), und wir sind die einzigen Besucher. Die neue Sammlungspräsentation gefällt uns gut, viele der Exponate sind echt ein Traum. Wenn ich an die lieblos gefüllten Vitrinen von früher denke ... die Renovierung hat aber auch echt lange gedauert.

Und weil wir heute noch ein Stück des Weges vor uns haben, finden wir es auch gar nicht schlimm, dass das obere Stockwerk geschlossen ist.

 

Trotzdem ist es schon elf Uhr, als wir Iraklio verlassen.

Wir bauen noch eine Fehlfahrtschleife ein und stellen gegen zwölf Uhr das Auto in Anogia, Ortsteil Armí, ab. Anogia also, das Dorf, in dem der Widerstand blühte. Das Dorf, in dem die deutsche Besatzungsmacht 1944 keinen Stein auf dem anderen ließ und 117 Einwohner umbrachte. Und das Dorf der Musiker, der Familien Xylouris und von Vassilis Skoulas.

Jetzt, in der Januarsonne, ist aber vor allem ein langgestrecktes Dorf mit zahlreichen schwarzgekleideten Männern (ohne Sariki - das trägt man wohl nur noch für Touristen) auf den Stühlen vor den Cafés und Kafenia. Erstaunlich belebt, und den Grund sehe ich wenig später in der Kirche Agios Ioannis (eines der wenigen alten Gebäude, das die Racheaktion der Besatzer überstanden hat): um ein Uhr wird hier ein Trauergottesdienst stattfinden, für einen 44-jährig verstorbenen Kreter. Offenbar keine unwichtige Person, denn der Zustrom der Trauergäste ist groß, Autos und Pickups verstopfen zunehmend die Ortsdurchfahrt.

 

Wir bummeln bergwärts durch den Ort (und verpassen deshalb das Xylouris-Haus), vorbei am großen Denkmal für die Opfer der Besatzungen, vorbei an der schattigen Platia Meïntani mit der Kapelle Agios Giorgos, die überraschenderweise eine Reihe Ikonen von griechischen Freiheitskämpfern und -kämpferinnen (Laskarina Bouboulina) beinhaltet.

An der Taverne "Aetos" wird eine Ziege zerteilt. Gibt es auf Kreta eigentlich auch einen Leichenschmaus (für Nichtschwaben: kein kannibalistisches Essen, sondern eine Mahlzeit, zu der die Trauergäste eingeladen werden)? Die vielgerühmten Läden mit (mehr oder weniger) selbstproduzierten Webereien sind alle geschlossen. Im Winter bleibt Anogia unter sich, und da braucht niemand selbstgewebtes.

 

Dafür steht man auf Bronzedenkmäler: der blinde Lyraspieler Manolis Pasparakis Stravos, der Freiheitsheld Manolis Skoulas, und einmal auch eine Frau. Unter dem Uhrturm beim Gesundheitszentrum, brav in zweiter Reihe und diskret im Schatten steht sie - typisch Kreta eben.

Bevor der Ort durch die Beerdigung endgültig verstopft ist, fliehen wir auf der unteren Straße zurück, ostwärts. Dort unten spielt sich das Alternativprogramm ab: Schulschluss, und die Eltern holen ihre Sprösslinge mit dem Auto, überwiegend Pickups, ab. Wieder die Straße verstopft, aber jünger, lebendiger. Ein lebendiger Ort, wirklich. Außerhalb von Iraklio, Rethymno und Mires werden wir nicht wieder so viele Menschen antreffen. Und dieser kurze Streifzug durch Anogia wird dem Ort natürlich nicht gerecht. Wie man überhaupt für Kreta viel Zeit braucht. Aber die mag ich der Großinsel nicht gönnen - zu überlaufen ist die Insel im Sommerhalbjahr, zu knapp meine Urlaubszeit, und zu schön locken die ägäischen Inseln. Aber im Winter hat es schon was.

 

Unser nächstes Ziel ist die Nida-Hochebene. Letztes und vorletztes Jahr waren wir auf der Omalos- und auf der Lassithi-Hochebene (die tief verschneite Katharo nicht zu vergessen), nun will ich meine "Sammlung" komplettieren. 22 Kilometer sind es von Anogia aus, und wir hoffen, dass sie alle schneefrei sind. Hinter dem großen "Delina Mountain Ressort" beginnt eine zunehmend felsige Landschaft, über der sich weißleuchtend die Höhen des Psiloritis erheben. Ein toller Anblick wenn man Berge und Felsen mag. Die Cousine würde Grüneres vorziehen und erhebt kurz Einspruch, aber da muss sie jetzt durch.

 

Wir haben Glück: nur auf der 1.500 Meter hohen Passhöhe säumt mehr Schnee die Straßenränder, ein Schneemann inklusive. Trockene Büsche sprenkeln die weißen Hänge. Dann geht es wieder hinab entlang des flachen Talkessel der Nida-Ebene, 1.300 Meter hoch gelegen und ungefähr eineinhalb Kilometer im Durchmesser. In einer Kurve steht das Auto einer Gruppe kretischer Jungmänner mit Bechern, uns zuwinkend. Sie feiern den Ausflug in den Schnee. Mit heißem Tee? Oder Raki?

An einem großen Parkplatz bei einem Rohbau endet die asphaltierte Straße. Der auf einem Schild angekündigte Verkauf lokaler Produkte findet im Winter nicht statt, und auch unsere Hoffnung auf einen heißen Kaffee erfüllt sich nicht. Es ist saukalt hier oben. Eine Gruppe Griechinnen jodelt auf einem Weg oberhalb, nicht mit dem richtigen Schuhwerk für den Schnee ausgestattet und fröhlich rutschend. Die weibliche Begleitung der Jungmänner?

 

Die Nida-Hochebene ist, im Gegensatz zur Lassithi oder Katharo, nicht bewirtschaftet und dient nur Schafen und Ziegen nebst deren Betreuung als Aufenthaltsort. Außerhalb des Winters. Jetzt ist außer uns paar Touristen kein Leben zu entdecken. Leider auch keine Geier. Schade!

Die Kälte und der aufsteigende Hunger sowie die fortgeschrittene Zeit drängen uns wieder talwärts.

 

Am großen "Delina Mountain Resort" oberhalb Anogias stehen geparkte Autos - ein Zeichen für ein geöffnetes Lokal? Ja, aber nicht die riesige Taverne mit Platz für mindestens 500 Personen ist geöffnet, sondern das kleine Kafenio hinter dem künstlichen Teich. Einige Tische sind belegt, ein gutes Zeichen. Eigentlich. Wir finden einen Platz auf dem verglasten Balkon mit Blick auf einen fleißigen jungen Schäferhund und mit einem rußenden Ofen im Rücken. Der Kellner möchte uns am liebsten Gegrilltes verkaufen, ein Kilo Antikristo oder so. Wir wollen nur was Kleines und ordern Dakos, Loukanika und eine Chortopitta. Letztere kommt spät und schmeckt, während die Wurst sehr grob und klein ist und ohne Beilagen daherkommt. Theo hätte gerne ein griechisches Bier, aber das auf der Karte stehende Mythos ist alle, weshalb der Kellner Theo ein lokales Bier namens "Marea" empfiehlt. Dass die 0,33-Liter-Flasche mit einem häßlichen Etikett mit sechs Euro fünfzig zu Buche schlägt, hat der junge Mann wohlweislich verschwiegen. Die Rechnung ist aber mit dem Essen auf dem Tisch, so dass ich Theo mit der Verkündigung des Getränkepreises den Appetit verderben kann. Oder war es der Geschmack des Essens und des Bieres? Das Gebräu bleibt nur halb geleert zurück.

Nein, da werde ich Theo nicht zum Nachmittag mit Live-Musik am Sonntag in der großen Taverne überreden können.

Eigentlich sind wir um 17 Uhr in Rethymno in unserem Quartier verabredet, aber das ist nicht mehr zu schaffen. Ich schicke eine eMail an den Besitzer George, dass wir erst eine Stunde später eintreffen werden. Dann fahren wir über Anogia nach Zonianá. Das für Drogenanbau und Waffenhandel berüchtigte Dorf - 2007 fand hier eine folgenreiche Razzia statt (einer der Polizisten wurde angeschossen und ist Jahre später an den Folgen verstorben) - präsentiert sich friedlich und langweilig im tiefen Winterschlaf. Unsere Phantasie reicht nicht aus, sich hier ein Wildwest-Szenario vorzustellen. "Mythos oder einfach Kriminalität" - das fragt auch dieser Artikel in der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2010.

Am gefährlichsten sind noch die straßenversperrend geparkten Pickups, die aber das Ortsbild so vieler kretischen Dörfer prägen.

 

Es gibt keinen Grund für einen Halt, und so fahren wir zügig über Axos, Mourdzana und Perama nach Rethymno. Wo ich leider zu früh abzweige und im Feierabendverkehr die ganze Stadt durchqueren muss, statt sie auf der Nationalstraße elegant zu umfahren und durch die Hintertüre von Westen her zu betreten.

 

Rethymno - unser Standort für die nächsten Tage. Ich bin gespannt.

Es ist lange her, dass ich in Rethymno war. 1995 hatte ich mir die Stadt, von Plakias kommend, angesehen und war vor den aufdringlichen Aufreißern der Tavernen gleich wieder geflohen (auf die Wallfahrtsinsel Tinos, wo sich diese Unsitte leider auch durchgesetzt hat).

Vor zwei Jahren scheiterte ein Kurzbesuch Rethymnos auf der Fahrt nach Chania am Verkehr und den fehlenden Parkmöglichkeiten. Nun aber sollen es ein paar Tage hier sein.

 

Ich hatte die "Casa di Maria" als Quartier ausgewählt und direkt beim Vermieter George angefragt, da das Haus im Winter über booking nicht zur Verfügung stand. Für 55 Euro die Nacht war die Sache gebongt, und es gab auch keinen Zuschlag als ich die Cousine als dritten Gast nachmeldete. Nur bezahlen sollten wir doch bitte in bar. Kein Problem, gerne.

 

Die einstöckige "Casa di Maria" liegt direkt westlich der Fortezza auf einem Hügel mit herrlichem Blick auf Stadt, Berge und Meer. Abseits genug um nachts ungestört schlafen zu können, zentral genug um in wenigen Minuten zu Fuß in der Stadt zu sein, und mit einem kostenlosen und großen Parkplatz in drei Minuten Entfernung. Perfekt also, wobei sich das letzte Stück des Zuganges (mit dem Auto nicht zu befahren) wegen seiner Steilheit und bei Nässe als Herausforderung für Theo erweist. Die er aber souverän meistert.

Georges Frau Stella empfängt uns nach einem Telefonat wegen der Verspätung mit den Schlüsseln und einem gut gefüllten Kühlschrank nebst reichlich Kaffee, Honig, Toastbrot und Obst. Toll - danke!

 

Die Cousine und ich teilen uns das große Schlafzimmer während Theo im Kinderzimmer mit dem Einzelbett vorliebnimmt. Der Aufenthaltsraum mit gut eingerichteter Küche, Esstisch und Wohnecke ist nicht groß, aber ausreichend. Vorsicht mit der Stufe mitten im Raum! Dank funktionierender Klimaanlage ist das Beheizen der Zimmer kein Problem. Und vor dem Haus gibt es einen hübschen überdachten Sitzplatz, und dahinter einen schönen Garten mit Bäumen.

Hier kann man es gut aushalten für die nächsten Tage.