Anávatos

 

Das Ruinendorf Anávatos ist heute unser Ziel. Das Wetter ist brauchbar: nahezu wolkenloser blauer Himmel, aber es weht ein kühler Wind. Die Badesachen packen wir trotzdem ein, das Auto trägt es ja.

Für den Hinweg nehmen wir die Route über Agios Giorgios Sykousis. Zum gefühlt hundertsten Mal fahren wir durch Vessa, das in der morgendlichen Beleuchtung freundlicher aussieht als zuletzt.

Agios Giorgios Sykousis ist ein hoch am Hang gelegener Ort, bekannt für seinen Feigenanbau (daher Sykousis, von Syko = Feige). Die Feigen werden vor allem in den inseltypischen Schnaps „Souma“ weiterverarbeitet, in dem kleinen Postlädchen in Mesta gab es selbstgebrannte Kostproben in Flaschen – milde oder feurig. Hat uns geschmeckt. Professionell abgefüllt und verkauft wird der Souma aber nicht, leider. Im Ort ist wenig los, aber er macht einen sympathischen Eindruck: ein oder zwei Tavernen, ein paar Lädchen, kaum Tourismus. Ein paar weiße Häuser erhellen das traditionelle Steingrau, in Blumenkästen blüht es violett. Weintrauben reifen in Netzen vor Vögel geschützt auf einer Veranda, Holzvorräte stapeln sich – der nächste Winter kommt bestimmt. Nur Feigen sehen wir keine – zum Leidwesen der Begleiterin. Zu meiner Freude aber ein rotes Dreirad vom eckigen Typus, Markenname keiner zu erkennen.

Die Aussicht auf Kambos und Richtung Chios-Stadt ist gut, auch die türkische Küste ist gut zu sehen.

Von hier geht es nach Norden auf einer kurvigen Straße durch ehemals waldiges Gebiet, nun von Bränden leider in Mitleidenschaft gezogen. Die Berggipfel rechts und links der Straße sind sechs- bis achthundert Meter hoch. Uns begegnet fast niemand.

 

Als wir auf die West-Ost-Verbindungsstraße treffen, biegen wir nach links ab, lassen die Klöster Nea Moni, Agii Pateres und Agios Markos rechts unten im Tal liegen – die wollen wir uns morgen anschauen. Unser Ziel ist zuerst Avgónima, das dann auch wie steinerne Würfel auf einer Hügelkuppe vor uns auftaucht. Wir streifen den Ort nur seitlich, fahren weiter nach Anávatos. Dieses spektakulär auf einem schmalen Bergrücken gelegene Ruinendorf ist einer der zahlreichen Höhepunkte beim touristischen Sightseeing auf Chios, und natürlich sind wir gespannt.

Der erste Anblick wenn man aus dem Wald kommt (zum Glück ist noch welcher da, obwohl das Feuer auch hier einige Baum-Opfer gefordert hat) ist beeindruckend! Auf einem Felsensporn liegen festungsähnlich die grauen Häuser. Der Name „Anavatos“ soll sich vom Griechischen „unzugänglich“ herleiten (? – eher von αναβάτης = Reiter, so wie der Ort auf dem Felsen liegt, oder ανάβαση = Aufstieg), und das war der Ort (mit 400 Häusern wahrlich nicht klein) auch beinahe – nur von Norden her trennen kein tiefes Tal und steile Felsenwände den Ort von der Umgebung ab. Was die im elften Jahrhundert von Holzfällern gegründete Siedlung trotzdem nicht vor Piratenüberfällen schützte.

1822 hatten sich viele Bewohner aus dem Umland in den schwer einnehmbaren Ort geflüchtet. Die osmanischen Soldaten belagerten den Ort und konnten ihn durch Verrat einnehmen. Zahlreiche Griechen sollen sich dann über die Felsen in den Tod gestürzt haben um der drohenden Sklaverei zu entkommen. Eleftheria i Thanatos – Freiheit oder Tod. Ein Mahnmal am Parkplatz erinnert an dieses Geschehen. Dann kam noch das schwere Erdbeben 1881 – der Ort wurde verlassen und erst nach der kleinasiatischen Katastrophe wieder zögerlich besiedelt. Heute hat Anavatos nur noch eine Bewohnerin, eine alte Frau, die getrocknete Feigen, Honig und Kräuter an Touristen verkauft.

 

Der große Parkplatz und die Taverne an der Georgskirche lassen es erahnen: manchmal kommen hier Busladungen mit Touristen. Heute sind es aber nur eine Handvoll Besucher, die die Ruinenstadt sehen wollen. Einige der Gebäude wurden oder werden aufwendig renoviert. Ein breit angelegter Weg führt hinauf in die Oberstadt, dort verliert sich der Weg etwas. Wer höher hinauf will muss über ein paar provisorisch wirkende Holzlatten weiter. Oder darf man das gar nicht? Es hat keinen Aufseher oder Aufpasser hier. Ich gehe trotzdem durch ein Tor auf das Plateau – alles natürlich auf eigene Gefahr.

Der Blick auf das tiefe Tal, das den Ort umgibt, ist beeindruckend. Eine ähnliche Lage hat der Ort Paleochora auf der Insel Kythira. Nur dass der dem Zerfall anheim gegeben ist.

 

Laut unserem MM-Reiseführer und einigen Internetquellen sollen 1980 Teile des James-Bond-Filmes „In tödlicher Mission“ (Originaltitel „For your eyes only“) in Anavatos gedreht worden sein. Ich halte das für ein modernes Internet-Märchen nachdem ich mir den Film angeguckt habe und nirgends Anavatos entdecken konnte und auch einschlägige Internet-Seiten keinen Drehort auf Chios erwähnen. Der Bond-Film wurde auf Korfu und in bzw. bei den Meteora-Klöstern gedreht – warum hätte man für eine Location in das damals noch total abgelegene (1980 gab es noch keine Straße) Anavatos fahren sollen? Fotogene Ruinen gab es sicher auch auf Korfu, im nahen Epirus oder im Umfeld der Meteora-Klöster genug…

 

Ja, also Anavatos ist schon einen Besuch wert. Mit mehreren Busladungen würde ich diesen Besuch aber ungern teilen. Die Georgskirche ist leider geschlossen. Vor der Taverne verkauft eine Frau selbstgemachten Schmuck – das muss sich lohnen, aber heute macht sie kein Geschäft, auch wenn sie uns auf das nahende Weihnachtsfest (Panajia mou – wir haben gerade mal den dritten Oktober!) hinweist, und dass man da immer Geschenke brauchen könnte.

So fahren wir nach Avgonima zurück, parken das Auto außerhalb und gehen in den überschaubaren Ort hinein. Auch dieser Ort war einst verlassen und wurde erst vor zehn, zwanzig Jahren wiederbesiedelt, vor allem als Touristendorf. Dadurch hat der Ort die Patina des Alten etwas verloren, wirkt aber ganz freundlich. Vierzehn Menschen wohnen wieder dort, und neben verschiedenen Ferienquartieren gibt es zwei Tavernen: „Pyrgos“ an der Platia, und „To Asteri“ am Ortsrand, mit schönem Ausblick auf die Westküste. In letztere kehren wir ein – sie ist gut belegt. Und auf der verglasten und dadurch windgeschützten Terrasse sitzt man schön. Das Essen dauert aber – wir haben gebackenen Mastelo-Käse bestellt, Kartoffelbällchen und Käsesalat. Da werden wir den Rest des Tages satt sein, was auch irgendwie schade ist.

Der Wind ist kalt geworden, der Herbst hat definitiv begonnen.

Entlang der Küste geht es Richtung Süden. Teilweise bis zum Meer reicht die Waldbrandfläche. Zum Glück ist die Gegend hier kaum besiedelt. Weiße Wachtürme und schöne Buchten wechseln sich ab. Besonders hübsch gelegen ist der Turm auf einer Halbinsel am Kap Trachili.

 

Unterhalb des Ortes Lithí liegt der schöne Sandstrand von Lithi samt touristischer Infrastruktur, bestehend aus einigen Pensionen, Fischtavernen und einer kleinen Marina mit Fischerbötchen und einem oder zwei Segelbooten. Es hat sogar ein paar Umkleidekabinen, und die Strandliegen scheinen jetzt gratis zu sein. Wenn das nicht DIE Gelegenheit zum Baden ist….

Alleine, der kalte Wind verdrängt jeden Gedanken an Badespaß, schon die Vorstellung, hier im Badeanzug zu stehen, lässt mich frieren. Vermutlich ist das Wasser wärmer als die Luft, man könnte schnell hinein, und noch schneller hinaus. Eine Schweizer Gruppe ringt ebenfalls mit sich, ein oder zwei Wagemutige gehen aber tatsächlich ins Wasser für ein schnelles Bad.

Wir tun es ihnen nicht nach, und frieren schon nach wenigen Minuten auf den Sonnenliegen obwohl wir Klamotten samt Softshell-Jacke anhaben.

 

Chios im Herbst – nix für Spaßbader. :-(

Den nächsten Stopp machen wir in Limenas Mesta. Auch von nahem ist der Ort alles andere als attraktiv – dieser riesige Anleger, die trostlose Häuserzeile entlang der Straße, die vollen Mülltonnen – verlassen wie ein Westerndorf. Aber etwas weiter vorne sitzen zwei Frauen – die eine ist Fischerin und arbeitet auf dem Boden sitzend an ihren Netzen. Die andere leistet ihr Gesellschaft auf einem Plastikstuhl. Ich habe in den vielen Jahren in Griechenland noch nie eine Fischerin gesehen. Ob sie wirklich hinausfährt, oder ob sie die Netze für ihren Mann flickt? Sie trägt schwarz – eine Witwe? Die beiden Frauen verstärken das surreale Bild von Limenas noch. Uns friert, und wir flüchten nach Mesta.

Morgen werden wir weiterziehen, und so sind wir am letzten Abend in Mesta wieder an der Platia im „O Meséonas“. Nicht dass wir wirklich Hunger hätten – das Mittagsessen wirkt noch nach. Aber ohne Abendessen ins Bett geht ja gar nicht, und für Bekri Meze und frittierten Hundshai (Galéos) mit Skordalia ist doch noch Platz. Und wer weiß wo und was wir morgen essen müssen!

Es ist noch weniger los als vor drei Tagen – irgendwie hatte ich mir den Oktober auf Chios stärker von Touristen frequentiert vorgestellt. Aber solange wir ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen finden macht uns das nichts aus.

Etwas wärmer dürfte es aber sein, wir müssen drinnen sitzen.