In der Nacht regnet es. Und auch am Morgen sieht es trübe aus. Am Himmel, und bei Theos Knien. Eingesperrt von 71 Treppenstufen wird er es erst mal nicht riskieren, die Wohnung zu verlassen. Ich mache mich alleine nach Sitia auf, zu Fuß. Wird auch allerhöchste Zeit, sich Sitia tagsüber anzugucken, und Zeit für einen gepflegten Einkaufsbummel war auch noch nicht.
Ich nehme nicht die Straße nach Sitia, sondern gehe bei Petras eine Treppe hinunter und am Strand entlang. Der wird allerdings recht schmal und die Wellen toben unablässig heran (in der Nacht war das Meer so laut, dass ich das Fenster schließen musste), so dass eine Dusche droht. Die nächste Treppe hinauf endet aber in Beton und Zaun. So bleibe ich eben auf dem Strand, muss aber einen flachen Bach überqueren, der ins Meer fließt.
Mein erstes Ziel ist das archäologische Museum. Es ist geöffnet, ich bezahle den obligatorischen Wintereintrittspreis von einem Euro und habe das Museum für mich. Die beiden Frauen an der Kasse ratschen miteinander - womöglich bin ich heute die einzige Besucherin. Da an der Kasse zu arbeiten ist ein totlangweiliger Job. Aber immerhin ein Job.
Das Museum ist gut gemacht und sehenswert, auch wenn ich mir nicht jedes der zahlreichen Exponate im Detail ansehe. Aber wenn man die Fundorte kennt, bekommt man einen anderen Bezug dazu. Und merkt, dass einem diese Artefakte in den Ausgrabungsstätten gefehlt haben.
Nach einer halben Stunde habe ich genug gesehen und wechsle vom Museum hinüber zur venezianischen Kastell "Kasarma", das oben auf einem Hügel über der Altstadt liegt. Sitia ist keine besonders schöne Stadt, die mehrstöckigen Häuser entstammen dem Betonzeitalter, aber mir gefällt die Lebendigkeit, die liebevoll aufgestellten Blumenkübel, das bepflanzte Erdgeschoss einer Polikatikia. Und bin froh, dass wir außerhalb wohnen und ich nicht jeden Abend hier einen Parkplatz suchen muss. Treppenstufen gäbe es hier auch reichlich, Theo.
Mir ist warm geworden als ich vor dem Tor der breiten Festung stehe. Sie wurde schon von den Kreuzfahrern gebaut und später von den Genuesern und zum Schluss von den Venezianern ausgebaut. Die es 1651 auch wieder zerstörten, damit die Osmanen es nicht bekamen.
Das Kastell besteht deshalb heute vor allem aus einem großen Hof, der von einer zinnenbewehrten Mauer umgeben ist, und einem dreigeschossigen Wehrturm. Der Blick über die Stadt ist schön (auffällig das rot-weiß-gestreifte Haus an der Paralia, in dem die Fans des Sportvereines Olympiakos Piräus residieren. Das muss eine Art Bayern München Griechenlands sein, dass es auch so weit abseits des Vereinssitzes so viele Fans hat. Und mir fallen die feiernden Juve-Fans auf Salina ein.)
Das Grün des wild wuchernden, kleingelbblütigen Krautes, das den weiten Innenhof bedeckt, kontrastiert schön zum dunklen Himmel, der allerdings mit Regen droht.
In den Wehrturm kann man hinein, er hat drinnen keine Zwischenetagen, nur eine leere Hülle.
Als ich ihn verlasse, merkt eine Wächterin, die im Tickethäuschen daneben sitzt, dass da doch glatt eine Besucherin ist. Nachträglich muss ich noch den Eintritt von einem Euro bezahlen. Na, das ist zu verkraften.
Wohin nun? Hinunter zum Hafen. Die weiße Treppenkanten zeichnen ein wildes Muster auf den Weg hinab, ein Hündchen bellt vom Balkon herab.
An der nördlichen Paralia, wo es auch zum Fähranleger für die Fähre nach Karpathos geht, trennt ein Becken das Ufer und die Zufahrtsstraße. In der Antike soll das ein Becken zum Aufbewahren gefangener Fische gewesen sein. Jetzt tummeln sich hier Gänse und Enten. Weiter vorne sind ein paar Kaikia aufgebockt, und dann liegt da noch eine abgetakeltes Schiff namens "Dolgoruki". Für eine Fähre etwas klein, für ein Ausflugsschiff etwas groß. Was es wohl für eine Geschichte hat, die er hier hat enden lassen?
(Ich habe ein wenig recherchiert: Am 10.12.2013 wurde das Schiff offenbar bei Ierapetra wegen Zigarettenschmuggels aufgegriffen und in den Hafen von Sitia gebracht. Auf alle Fälle will man das Wrack beseitigen, aber so etwas kann in Griechenland dauern, denn dafür muss man Geld in die Hand nehmen, und wer hat das schon?)
So, und nun ist endlich Zeit für den Einkaufsbummel. Es hat nette Lädchen, in denen ich die gewünschten Mitbringsel - getrocknete Feigen aus Kimi, Diktamos, Raki - bekomme. Besonders gut gefällt mir eine Nussrösterei, in der es Mandeln, Nüsse und Knabberzeug in zig Variaten gibt.
Der Stadt ist belebt, es ist jetzt Mittagszeit, die Cafés sind gut gefüllt. Ich brauche noch etwas zu Essen für Theo und mich, und erliege fast der riesigen Auswahl im "Krema Kanela". Eine Spinattasche wandert schließlich ebenso über den Tisch wie eine Käsetasche, dazu noch zwei kleine Cremetaschen und ein Brötchen. Inzwischen hab ich einiges zu schleppen. Theo hat noch eine Flasche Retsina bestellt, das gestaltet sich schwierig bis ich in einem besseren Periptero kretischen Retina in Halbliter-Plastikflaschen finde. Optimal!
In zwanzig Minuten schleppe ich meine schwere Einkaufstasche nach Petras zurück. Immerhin regnet es nicht, der Himmel hat jetzt sogar blaue Ecken. Mittagspause mit Spanakopitta. Schmeckt hervorragend, und sättigt.
So, und was nun mit dem angebrochenen Nachmittag? Theo will seine Kräfte für den Abend aufsparen, denn da will er nicht zuhause speisen. Und ich möchte noch zum Kloster Panagia Faneromeni, wo ich folglich alleine hinfahren werde. Zuvor noch ein kurzer Abstecher zum Hügel hinter unserer Unterkunft, wo es die große Ausgrabung einer minoischen Siedlung mit Zyklopenmauer gibt. Diese ist aber leider eingezäunt und abgeschlossen. Na, Winter eben.
Faneromeni liegt westlich von Sitia, und auf dem Weg dorthin fahre ich eine große Schleife um den Flughafen herum. Er wurde erst kürzlich vergrößert und modernisiert, man hofft auf einen touristischen Aufschwung im Osten. Mir präsentiert er sich in großer Verlassenheit, aber jetzt im Januar ist ja selbst in Iraklio auf dem Flughafen fast nix los, das ist also kein Maßstab für den Sommer.
Nach dem Flughafen verpasse ich die direkte Abzweigung zum Kloster, weil dieses nicht angeschrieben ist: der Wegweiser führt nur dich Schlucht Agii Pantes an. Macht nichts, weiter vorne kann man auch rechts abbiegen und über Papadiokambos zum Kloster fahren, sage ich mir. Und habe recht. Aber wenn ich gewusst hätte, was da auf mich zukommt, hätte ich direkt gewendet.
Ich lande auf der mehrspurigen Schnellstraße, die aber schon kurz darauf endet. Hier biege ich rechts ab. Eine gut ausgebaute Straße führt nach Norden, aber schon nach kurzer Zeit geht sie in einen guten Feldweg über, der über mehrere Kurven abwärts geht. Mhh, bin ich hier richtig? Ein Blick auf die Karte sagt ja, aber auch, dass die Piste schlechter wird. Umkehren? Kommt nicht in Frage, so schlimm kann es doch gar nicht sein.
Kann es doch.
Ein Stück gut befestige Piste in der Kurve nährt kurz die Illusion, dass der man hier auch ohne Allrad gut fahren kann. Diese Illusion löst sich aber hinter der nächsten Kurve in Wohlgefallen auf. Ich fahre noch ein Stück weiter bis ich sehe, dass hier nun ein kurviger Feldweg zur Küste hinabführt, mit knietiefen Löchern und ausgespülten Rinnen. Aber das Stück, das ich hinter mir habe, war auch nicht ohne. Und so fahre ich im Schritttempo weiter, genau wählend wohin ich steuere. Bin froh, dass das Fahrzeug hier nur durch mein Gewicht belastet ist und damit mehr Bodenfreiheit hat als mit Beifahrer. Das kann den entscheidenden Zentimeter ausmachen.
Ein Geländemotorad überholt mich, der Fahrer guckt etwas fassungslos. Ich lächle, vielleicht bin ich noch auf seine Hilfe angewiesen. Kurz darauf stehen mehrere Pickups und Männer am Wegrand, man ist in den Oliven zugange. Soll ich die jetzt noch fragen ob ich hier nach Papadiokambos komme? Nein, ich tue so als würde ich täglich solche Strecken fahren, grüße nur freundlich. Sie gucken mir nach.
Noch ein paar tief ausgefahrene Rinnen, zwei große Brocken auf der Straße, dann habe ich es geschafft: die Piste wird glatter. Tief Luft holen. Nochmals gut gegangen, das waren jetzt lange zwanzig Minuten. Nach Papadiokambos fahre ich nicht hinein (dort ist wieder Löcherstrecke angesagt), sondern biege nach rechts ab, die schöne Küste entlang. Das Ikonostasi hier hat vielleicht ein dankbarer Vorgänger aufgestellt.
Bei einem zweiten, sehr prächtigen Ikonostasi zweigt eine Straße rechts ab zum Kloster, der ich folge. An einigen barackenähnlichen Häuschen vorbei lade ich auf einem Platz, wo mich ein weißer Hund bellend empfängt und von einer weiblichen Stimme aus einem Haus erfolglos zurückgerufen wird. Hier soll ein Kloster sein?
Ein Schild weist den richtigen Weg, ein paar breite Treppen hinab stehe ich vor einer schmalen, an den Felsen gebauten Kapelle, umgeben von niedrigen Gebäuden und Dutzenden von Blumentöpfen. Das Kloster Panagia Faneromenis (nicht zu verwechseln mit einem gleichnamigen Kloster am Golf von Mirabello) stammt aus dem 15. Jahrhundert, sieht aber nicht so alt aus und ist nicht mehr bewirtschaftet. Aber jemand gibt sich offensichtlich Mühe, es zu pflegen. Die Kirche ist offen, es gibt eine tamatabehängte Ikone, und kaum zu erkennende Freskenreste an der Decke.
Kerzen darf man hier nicht anzünden, aber gegenüber in einem garagenähnlichen Bau mit Rauchabzug.
Das Ganze wirkt freundlich und unspektakulär. Dramatik erhält die Szenerie durch die die Beleuchtung, ein Spiel von Sonne und Wolken.
Dass es in der Umgebung noch eine kleine Höhle gibt, in der die Marien-Ikone von einem Hirten gefunden wurde, entgeht meiner Aufmerksamkeit. Ich bin immer noch angespannt von der Ruckelpistenfahrt.
Zurück nun auf der richtigen Straße, nach Osten entlang schönen, hellen und zerklüfteten Felsenküste. Hier biegt die Schlucht Agii Pantes ab, durch die man zum oberhalb gelegenen Dorf Skopi wandern könnte. Meine Straßenkarte verzeichnet hier ein gelbe Piste, die sich in real aber als so schlecht erweist, dass ich schon bei der malerischen Kirche Agii Pantes wieder umdrehen muss. Überhaupt verzeichnet meine Straßenkarte (Anavasi "Lassithi", 1:100 000) hier Unsinn.
Ich nehme also die andere Straße, die in drei Serpentinen hinauf auf die olivenbestandenen Ebene westlich des Flughafens führt, und kehre nach Petras zurück.
Theo hat seine Knie am Abend dank des Einsatzes von Schmerzmitteln und Ruhe so weit im Griff, dass wir es riskieren können, zum Abendessen wieder in "Fengaropsaro" zu gehen beziehungsweise fahren. Wir bestellen neben Chortopittes und Keftedakia eine lokale Spezialität namens "Omatiés": das ist eine Art Wurst, ein Darm, der mit Innereien, Kräutern und Reis gefüllt und gekocht wird. Das Ganze klingt exotischer als es schmeckt: ein bißchen fad. Trotzdem gefällt uns auch an unserem letzten Abend in Sitia diese Taverne am besten. Lustig, dass es als Zugabe aufs Haus heute ein Stück "Kalter Hund" gibt. Eine Scheibe dieser sättigenden Kekstorte gab es gestern auch im "Kritiko Spiti". Muss gerade irgendwo im Angebot sein.
Tja, und morgen müssen wir Abschied nehmen von Sitia, und nach Iraklio zurückkehren. Unser Winterurlaub geht seinem Ende entgegen.