Die Dimosaris-Schlucht

Am Samstag scheint die Sonne wieder. Gleichzeitig weht der Wind in Stärke sechs bis sieben von Norden. Bevor ich mich an die Nordküste aufmache, besuche ich das kleine archäologische Museum, das sich in dem breiten Gebäude gegenüber der Bourzi-Festung befindet. Vor dem Haus steht eine alte Dampfwalze, eingerahmt von liegenden römischen Säulen. Ein hinweisende Beschriftung zum Museum fehlt, auch Öffnungszeiten sind nirgends zu finden. Nur auf die Bibliothek der Giokalion-Stiftung wird hingewiesen (auch gut, sie ist im rechten Flügel des großen Gebäudes, wo es wohl auch noch ein Theater gibt). Zaghaft gucke ich durch unverschlossene Haupttüre, höre im linken Flügel hinter einer weiteren Türe Stimmen, und bin richtig. Zwei Euro kostet der Eintritt, dafür kann ich einen großen Raum mit steinernen und irdenen Fundstücken aus klassischer bis römischer Zeit besichtigen. Am besten gefällt mir die Figur eines kleinen Engels, der sich an etwas anlehnt.

Dazu ist allerlei interessantes zu lesen (in Griechisch und Englisch), auch über die Drachenhäuser .

Nach zwanzig Minuten bin ich mit meinem Museumsbesuch fertig und steige ins Auto. Wanderschuhe und Proviant habe ich ebenso dabei wie Badesachen.

Auf der Hauptstraße geht es zunächst nach Nordwesten. In Choni biege ich rechts Richtung Katsaroni und Agios Dimitrios ab. Die Fahrt geht durch hügelige Landschaft und verwinkelte Dörfer, grüne Büsche und herbstliche Laubbäume wechseln mit grauem Fels. Ein großer Steinbruch liegt an einem Hang, und kurz darauf stapeln sich Schieferplatten am Straßenrand oder liegen noch wild durcheinander.

 

Es wird bergiger. Nach einer Dreiviertelstunde Fahrt erreiche ich den Ort Agios Dimitrios, der am oberen Rand einer beeindruckenden Schlucht liegt. Es ist nicht die Dimosaris-Schlucht, sondern die Agios Dimitrios. Ich könnte das Auto hier abstellen und sie entlang bis zum Meer hinab wandern. Ein Fußweg ist in meiner Karte eingezeichnet, etwa 5 Kilometer und 300 Höhenmeter. Aber wie komme ich dann wieder zurück, wenn ich nicht wieder raufwandern möchte?

Eine Gruppe Touristen verteilt sich am Straßenrand. Wanderer oder Tagesausflügler? Zwei Frauen fragen mich auf Englisch, wo denn hier das alte Ortszentrum wäre. Ähm, keine Ahnung, gibt es hier so etwas? Auf alle Fälle führt eine Straße rechts hinauf in eine Art Oberdorf, und dort könnte eine Taverne sein. Merke ich mir für später.

 

Ich nehme aber die Straße, die auf der Höhe entlang des östlichen Randes der Schlucht führt und tolle Blicke auf die Schlucht und das dahinterliegenden Bergmassiv namens Pyrgos bietet. Das Tal mit wasserführendem Bach mündet in einem wunderschönen Strand, zu dem auch eine schmale Straße hinab geht. Badende sind aber, zumindest von oben, keine zu sehen, dafür tobt die Brandung im Nordwind zu sehr.

Dann biegt die Straße rechts ab und verläuft ein, zwei Kilometer auf der Höhe der schroffen und abweisenden Nordküste ehe sie schließlich in ein Tal landeinwärts abbiegt: der Ausgang der Dimosaris-Schlucht.

Links breitet sich ein weiter Strand aus während die Straße über eine kleine Brücke über ein wildromantisches Flüsschen führt, von Platanen und großen Kieselsteinen eingesäumt. Der Kallianos-Strand - das ist also das Ende der mehrstündigen Tour, die auf etwa tausend Metern am Berg Ochi beginnt.

Soll ich hier hinaufwandern? Mir fehlt irgendwie noch ein Bild des Schluchtverlaufes im Kopf. Und ich werde zunächst die Straße befahren so lang es noch geht. Bis Agatho sollte es möglich sein, und so folge ich der wieder ansteigenden Straße Richtung Kallianos.

 

Die Gegend wirkt einsam und verlassen. Keine Wanderer, Badenden oder Wildcamper. Kein Gegenverkehr, keine Einwohner. Rechts zweigt eine Schotterpiste nach Lenosei ab. Lenosei liegt in der Schlucht, hier wäre der Einstieg gut möglich. Wenn die Piste, zwei bis drei Kilometer lang, befahrbar ist. Ich werde es auf dem Rückweg probieren.

Kallianos liegt fast unbemerkt hinter den Platanen. Sind wohl nur ein paar verstreute Höfe. Aber in einer Spitzkehre steht plötzlich eine Kapelle vor mir. Ich parke das Auto und sehe mir das Gotteshaus, neben dem ein Friedhof liegt, aus der Nähe an. Die Kapelle ist geschlossen, aber ich kann einen Blick in das benachbarte Beinhaus werfen. Die Knochenkisten sind uneinheitlich aus Holz oder Metall, aber gepflegt.

Von der Terrasse vor der Kapelle hat man einen guten Blick in die Dimosaris-Schlucht, die sich nicht schroff-felsig wie viele kretischen Schluchten zeigt, sondern waldig-sanft. Mhh, nicht so mein Fall. Überhaupt hatte ich ganz vergessen, dass Schluchten naturgemäß einen beschränkten Horizont bieten. Aber näher ansehen möchte ich sie mir doch, deshalb bin ich ja da.

Drei Straßenkurven später liegt auf einer Kuppe ein paar Meter hinter der Straße mal wieder eine Kapelle. Müsste ein toller Aussichtspunkt sein, also halte ich und gehe die paar Meter hinüber.

 

Es ist eine Nikolaos-Kapelle, witzigerweise, obwohl sie nicht am Meer steht. Ein schmaler Bogen hält die Glocke und gibt einen guten Vordergrund für Fotos ab. Und die Kapelle ist offen, es gibt auch Kerzen. Brandgefahr besteht in diesem neuen Bau nicht, und so lasse ich sie brennen, ehe ich mich draußen wieder der Landschaft widme. Nicht schlecht, wirklich. Die nördlichen Vorgipfel des weit entfernten Ochi sind immerhin auch um tausend Meter hoch und baumlos. Davor ein gutes Dutzend Häuser: Agatho. Dort endete meine Fahrt wenige Minuten später an der östliche Ortsausfahrt, beobachtet von zwei misstrauischen schwarzen Hunden und einem Pferd: Ende der Ausbaustrecke, ab hier wird es holperig. Ich wende, gucke dann noch, ob ein Haus mit gestapelten Getränkekisten vielleicht ein Kafenion ist - könnte sein, sieht aber geschlossen aus. Und fotografiere noch ein paar Blumen (da hat dieser Herbst hier echt wenig zu bieten, rest recht im Vergleich zum üppigen Frühjahr) und einen hübsch gemauerten Brunnen samt Buswartehäuschen. Bus? Hier? Mhh, das hat wohl ein Optimist gebaut.

Ich habe immer noch keinen Menschen gesehen seit Agios Dimitrios.

Das ändert sich, als ich auf der Rückfahrt links auf die Schotterpiste in die Dimosaris-Schlucht einbiegen will. Da kommt mir ein Auto entgegen, besetzt mit einer vierköpfigen Familie. Die Beifahrerin fragt auf Englisch, ob man die Straße befahren könne, und ob es da in die Schlucht gehe. Ich werde es riskieren, antworte ich, aber man kann vielleicht auch von ganz unten rein. Und dann holpere ich die schmale Piste entlang, die doch einige Schlaglöcher im Angebot hat und ein Stück oberhalb des wasserführenden Bachbettes verläuft. Immerhin kein Gegenverkehr. Nach ein paar Minuten wird mir die Unterlage zu marode, außerdem gabelt sich die Piste. Rechts hinab oder oben weiter? Ich wende und stelle den Wagen ab. Rechts geht es hinab ins Bachbett - nur für Fußgänger zu empfehlen, und talabwärts. Ich bleibe oben - weit kann es bis Lenosei ja nicht mehr sein. Kaum losmarschiert, überholt mich das andere Auto. Der Fahrer ist weniger furchtsam als ich und erreicht Lenosei familienfreundlich mit dem Auto.

 

Ich brauche etwa eine Viertelstunde, bis ich das Dorf erreiche. Wobei "Dorf" sehr geschmeichelt ist für die Ansammlung verlassener und verfallener Häuser, die unbewohnt scheinen. Sogar eine Kapelle ist am vergammeln, wird als Lagerhaus für längst Vergessenes benutzt. Was für ein trauriger Ort! Immerhin ein paar Hühner sorgen für Leben. Muss irgendwo doch jemand sein.

Dann kommt mir eine größere Gruppe Wanderer entgegen. Offenbar sind heute doch auch Schluchtwanderer unterwegs, wenn auch nicht organisiert von Nikos von SET. Sie ziehen zügig an mir vorbei, haben noch ein Stück des Weges.

 

Nach der Überquerung eines Seitenbaches erreiche ich eine gepflegte Kapelle mit rotem Dach und Friedhof. Immerhin etwas, was nicht so vernachlässigt aussieht. Das ganze Tal liegt im Schatten großer knorriger Platanen und Kermeseichen. Der Wind raschelt stark in den Wipfeln und sorgt für eine dauerhafte Geräuschkulisse. Und wo ist der Bach? Hat sich irgendwo auf der Seite verkrochen.

Ein schöner gepflasterter Weg führt langsam, aber konstant aufwärts, immer beschattet von teilweise schon herbstverfärbten Laubbäumen. Farn am Wegrand. Könnte auch in Mitteleuropa sein.

 

Nach einer Viertelstunde, zwanzig Minuten erreicht der Weg den Bach, der hier zahlreiche Becken ("Gumpen") ins graue Gestein gegraben hat. Wenn es man erhitzt wäre, könnte man hier gut baden. Kleine Wasserfälle gießen sich über steinerne Stufen. Hier treffe ich nun die Familie aus dem PKW wieder. Sie kommen aus Österreich und haben zwei noch recht kleinen Kinder dabei, das kleinere in der Rückentrage des Vaters. Respekt. Heute könne man ja nicht baden, das Meer wäre zu wild. Aber diese Wanderung wäre schön, auch wenn es hier aussehen würde wie in der Heimat. Ein Stück wollen sie noch weitergehen ehe sie umdrehen.

Ich fotografiere knorrige Bäume und buntes Laub und lasse sie ziehen, nur um sie Minuten später endgültig zu überholen.

Immer wieder streift der Weg nun das Bachbett mit Minikaskaden und Planschbecken. Wildromantisch, das Ganze.

Eine urige Ikonostase auf Beton steht am linken Wegrand, ein Wegweiser zeigt zu einer versteckten Kapelle.

Gelegentlich bieten sich durch Lücken im Blätterdach Ausblicke auf die hellgrünen Wälder der Hügel.

Ich habe keine Ahnung, ob sich die Landschaft weiter oben verändert und der Wald Felsen weicht. Und wie weit ich dafür noch gehen muss. Das Rauschen der Blätter wird aber immer lauter.

 

Ich raste schließlich um Viertel vor zwei Uhr - da bin ich vom Auto aus etwa eineinhalb Stunden unterwegs - an einer Stelle, wo der Bach durch eine weite, mit großen Steinen übersäte und von große Platanen überdachte Fläche fließt. Das Rauschen der Blätter ist inzwischen nahezu ohrenbetäubend und strapaziert meine Nerven.

Die Rast ist kurz - im Schatten ist es kühl - und ich habe genug von der Schlucht. Irgendwo war mal eine Markierung, dass die Hälfte der Schlucht erreicht wäre. Es bezieht sich aber auf die Gesamtlänge bis zum Meer, dorthin sind es ab Lenosai (auf ca. 150 Metern über Meer) aber sicher nochmal drei bis vier Kilometer.

 

Ich bin also schon im oberen Teil der Schlucht auf einer Höhe von geschätzt 500 Metern. Vielleicht drei Kilometer bin ich gewandert. Reicht mir. Ich wandere wieder zurück, und spüre nach einer Weile den unebenen Grund in meinen Füßen, die zu schmerzen beginnen. Blöder Hallux rigidus. Wäre vielleicht hässlich geworden bei zehn Kilometern bergab. Ist schon in Ordnung so, und auch das Gefühl, mit der Durchwanderung der Schlucht etwas verpasst zu haben, ist gewichen.

Um fünf vor drei bin ich wieder in Linosei, und um zehn nach drei am Auto. Ich habe niemand mehr getroffen, die Schlucht liegt in winddurchrauschter Einsamkeit.

Ich holpere zurück zur Straße und fahre hinab bis zum Kallianos-Strand am Schluchtausgang. Zwei Baracken stehen am weiten und tiefen Strand, dunkler Sand, durchsetzt von großen Steinen. Ein Graffito ziert eine der Baracken, die Handschrift kommt mir bekannt vor. Woher nur? Keine Ahnung. Zu viele Bilder im Kopf.

 

Der Dimosaris-Bach mündet rechts, weiter oben umrandet von Schilf. Schwemmhölzer bedecken einen Bodenstreifen. Die Brandung stürmt mit weißem Getöse in Wogen ans Ufer. Kein Gedanke an ein Bad. Der Wind ist schon eine heftige Naturgewalt, auch wenn es kein Sturm ist und die Fähren heute fahren.

 

Ich stelle mich am Strand in den Wind, lasse mich durchpusten. Vielleicht kann ich am Hotel heute Abend baden. Die Traumstrände der Nordseite sind dafür mal wieder nicht geeignet, weshalb ich mir die Fahrt zur Agios-Dimitrios-Bucht auch spare. Da gucke ich doch lieber, ob im oberen Ortsteil von Agios Dimitrios wirklich eine Taverne geöffnet ist.

Durch eine Art Allee gelange ich an einen kleinen Platz, dahinter liegt unter einer Platane die große Terrasse einer Taverne. Sie ist mit Laub übersät und eine Frau kehrt dort gerade. Ich parke das Auto davor, steige aus und frage die Frau, ob es etwas zu essen gibt. Sie bejaht. Draußen ist es mir zu schattig, aber auch drinnen ist es kühl. Es gibt kalte Küche, ich bestelle einen Tomatensalat und Käse, dazu eine Limo. Die Kombination des Salates mit dem Hartkäse ist köstlich, und auch das Brot schmeckt. Hatte gar nicht gemerkt, dass ich so Hunger hatte.

Plötzlich Aktion draußen. Ob das mein Auto wäre? Offenbar habe ich es vor einer Einfahrt geparkt, in die gerade jetzt am Ende der griechischen Welt jemand hineinfahren will. Kein Probleme, Parkplätze hat es genug. Dann kommen noch drei britische Touristen, ältere Männer, die ich gestern im "Cavo d'Oro" beobachtet habe, und lassen sich auf der Terrasse nieder. Vielleicht Segler, die der Wind heute im Hafen hält. Sie bestellen nur Getränke.

Ich bezahle neun Euro fünfzig für mein Essen und fahre weiter ehe ich ganz durchgefroren bin.

 

Von der Sonne angestrahlt zeigen sich die Berge und Hügel auf der Rückfahrt in frischem Grün. Darüber, von Straßen wie Narben beschädigt, der Berg Ochi mit seinen unvermeidlichen Windrädern.

Nach fünf bin ich wieder in Karystos im Hotel. Das Meer ist hier an der Südwestküste ganz ruhig, keine Wellen. Aber abgekühlt hat es, nur noch 22°C ist das Wasser warm.

 

Karystos ist am Abend noch voller als gestern. Ich gehe wieder in "Gevsiplous (by Baxevanis)", suche mir trotz des Windes einen Platz draußen. Es ist ja durchaus etwas windgeschützt, aber je länger ich sitze, desto mehr frischt der Wind auf, haut Schilder um und pustete Servietten weg.

Als Tagesessen wird Rotbarbe mit Vlita offeriert. Vlita (Amarant)nist ein chortaähnliches Grünzeug, das ich noch nie probiert habe, und Fisch dürfte hier preiswerter sein als nächste Woche auf Paros. Denke ich, bestelle das Tagesessen und liege damit daneben. Der Fisch ist ein nahezu geschmacksneutrales quadratisches Stück mit zäher Haut, und das Vlita schmeckt auch nicht so, dass ich das unbedingt nochmal haben muss. Die Portion außerdem eher übersichtlich.

Dazu ist der Service - ein sonst ziemlich beflissener junger Mann - heute extrem unaufmerksam. Wobei ich inzwischen auch als einziger Gast draußen sitze und drinnen ordentlich was los ist - der Karystiote führt seine Gäste oder Familie am Samstagabend offenbar gerne ins "Gefsiplous" aus.

Nach langem und vergeblichen Warten gehe ich schließlich rein und bezahle meine Rechnung drinnen: 26,50 - hoppla, das ist aber teuer. War es nicht wert, immerhin kann ich aber das Trinkgeld mangels Service einsparen.

Ein riesiger Schokoladeneis to go für zwei Euro an der Platia Amalias vertreibt dann aber die letzten Hungerreste und meine ob des Essens schlechte Laune. Vielleicht wird es Zeit, dass ich den Standort wechsele. Ein Tag noch in Karystos und auf Euböa, dann sind Kykladen angesagt.

Und was mache ich an diesem letzten Tag?