Mehr Schnee

Es war kühl in der Nacht. Von unserem Fenster sehen wir Paros und dessen höchsten Inselberg, den 771 Meter hohen Profitis Ilias liegen. Er hat Schnee bis auf halbe Höhe. In Athen soll es heute auch schneien. Und in Naxos-Stadt? Da ist es trocken, und nur etwas bewölkt, die Sonne guckt gelegentlich heraus.

 

Es ist unser letzter Naxos-Tag, was tun? Wir entscheiden uns gegen ein Mietauto und für den Bus.

Die Verbindungen sind nicht so schlecht, zumindest was die Hauptdörfer im Inselinneren betrifft. Wir werden um elf Uhr nach Chalki fahren und von dort zur Panagia Drossiani wandern und zurück. Um halb fünf am Nachmittag geht dann der Bus wieder zurück.

Warm anziehen ist wichtig, Strumpfhosen, Mützen, Handschuhe.

Zwei Euro 30 kostet das Ticket oneway pro Person, wir kaufen auch gleich die Karten für die Rückfahrt.

Nur wenige Fahrgäste hat der Bus, dessen Route zunächst Richtung Süden führt, über Glinado und Agersani. Vor uns sitzt ein älteres griechisches Paar, sie haben unser Deutsch gehört und sprechen uns auf Deutsch an. Sie machen hier auch Urlaub, waren letzte Woche auf dem Zas. Es wäre eine schöne Zeit jetzt, nur mit dem aktuellen Wetter, das wäre nicht normal. Und es solle Schnee geben. Auch hier. Ja klar, oben auf den Bergen hatte es ja vorher schon. Aber es ist mehr geworden, weiter hinunter, wie wir sehen können wenn gelegentlich der Blick auf die Bergketten von Koronos und Zas frei wird.

 

Und als wir um halb zwölf in Chalki aus dem Bus steigen, sehen wir, dass es auch hier in der Nacht geschneit haben muss - Schmelzwasser auf den Gassen, und Schneereste in den Schattenecken. Chalki liegt ungefähr 280 Meter über Meereshöhe.

Na, stört uns nicht, wir sind gut ausgerüstet. Wir werden dem Wanderweg Nummer 4 folgen, der in Chalki 55 Minuten zur Panagia Drossiani anzeigt.

 

Es geht zunächst in der Richtung, die wir von gestern schon kennen, dann biegen wir nach Norden ab, denn bei Agios Georgios Diasoritis waren wir ja schon. In den grünbodigen Olivenhainen verlieren sich vereinzelte Schneesprenkel wie gefallenen Baumblüten, und vor uns ragt, von der Sonne beschienen und wie ein Viertausender der Berner Alpen wirkend, der breite Bergrücken des Koronos empor. Nur der Orangenbaum davor, voller Früchte, passt nicht so recht in dieses Bild.

Der Winter hat nun auch in den tieferen Lagen von Naxos Einzug gehalten.

Ich hab mir die Wanderbeschreibung aus dem MM-Reiseführer "Naxos" herauskopiert, was sich als nützlich erweist, denn die Markierungen sind nicht immer erkennbar. Wanderung 6, Rundweg von Chalki hinauf nach Moni und zurück, reine Wanderzeit 2.45 bis 3 Stunden. Die angegebene Höhendifferenz von insgesamt 500 Metern halte ich für etwas übertrieben: Chalki 280 Meter über Meer, Moni 470 Meter.

Zunächst geht es durch den verlassenen Weiler Rachi, dort zweigt ein Abstecher zur byzantinischen Taxiarchis-Kirche ab. Die schauen wir uns natürlich an, steigen dazu auf luftigen Trittsteinen eine Mauer hinauf.

Taxiarchis ist eine unverputzte, doppelschiffige Kirche, die an einem terrassierten Hang liegt. Sie wurde erst vor wenigen Jahren restauriert, aber ist natürlich geschlossen. Das eine Kirchenschiff ist etwas größer, die abgeschnitten wirkenden Bögen auf der eine Seite lassen vermuten, dass es noch ein Schiff oder einen anderen Anbau gab.

Von der erhöhten Position hat man einen tollen Blick über die Tragea-Ebene, im Süden vom Zas begrenzt. Schön hier, aber nirgends das Meer zu sehen. Naxos ist ja auch ein große Insel (ich höre schon wieder die Kretafans auflachen). Wie wir so die Aussicht genießen, finden wir uns plötzlich in einem veritablen Schneegestöber wieder. Huch, es schneit. Graupelkörner bilden schnell weiße Inseln auf dem eben noch grünen Boden. Sollen wir zurück? Nein, eigentlich ist Schnee besser als Regen, er prallt von unseren Jacken ab, wir werden nicht nass.

Wieder zurück nach Rachi, von dort führt der Weg entlang einer niedrigen Mauer und unter ausladenden, knorrigen Walloneneichen durch, die Eichelhütchen bedecken den Boden. Ich muss an ein Aufforstungsprojekt auf Amorgos denken (Trees for Greece). Keine Ahnung, was daraus geworden ist.

 

Ein paar Schafe blöken verwundert über die Weißwerdung ihrer Weide. Was für ein ungewohntes Bild!

Den Abstecher zur Kirche Agios Isidoros jenseits des Tales schenken wir uns, dafür steht am Wegrand wenig später rechts die hübsche Kapelle Panagia Rachidiotissa. Sie ist verputzt und in einem verwitterten Beige gestrichen, sie soll aus dem 12. bis 14. Jahrhundert stammen. Byzantinische Kirchen gibt es in der Tragea reichlich.

 

Wir lassen uns von dem breiten Weg verführen und verpassen die Abzweigung, die wenig später links abgegangen wäre. Dafür treffen wir auf einen Pferch mit Schafen und Lämmern samt Schäfer, der gerade nach seinen Tieren guckt. Manche Lämmer sind noch winzig, stunden- oder tagealt. Die Armen werden bei diesem unwirtlichen Wetter geboren, ein harter Start ins Leben! Die Muttertiere stehen dicht beisammen in einem eng abgesperrten Bereich, die meisten Lämmer sind separiert, warum auch immer. Sie kauern sich schutzsuchend auf den Boden, und tun uns leid.

Wir müssen also zurück, finden dann den richtigen Weg, der entlang eines Bachbettes weiter grob Richtung Norden führt. Der Schnee sammelt sich an manchen Stellen auf dem Boden, andere bleiben grün. Wir fühlen uns von der Welt abgeschieden, Expedition Nordpol oder so. Schließlich queren wir das Bachbett, dahinter führt der Weg steil hinauf, es hat auch Treppenstufen. Jetzt sind die Wiesen unter den Olivenbäumen ganz weiß.

Auf die Uhr haben wir nicht geachtet, aber mein Fotoapparat weiß, dass wir um 13 Uhr zehn die Straße bei der Panagia Drossiani erreichen, also über anderthalb Stunden ab Chalki gebraucht haben. Nun, wir sind im Urlaub, und nicht in einem Rennen.

 

Auf den Stufen hinauf zur Panagia Drossiani liegt Schnee, und auch das Kirchendach trägt einen dünnen, weißen Überzug. Meine vage Hoffnung, dass doch immerhin diese prominenteste, da besterhaltene frühchristliche Kirche von Naxos geöffnet sein könnte, erfüllt sich nicht: still und verlassen steht sie da. Und strahlt gerade dadurch einen besonderen Zauber aus, fast wie ein Dornröschenschloss. Wir lassen uns von der Magie gefangen nehmen und umrunden das aus dem 6. oder 7. Jahrhundert stammende Gotteshaus schweigend. Der Fotoapparat bekommt dafür ordentlich zu tun, und auch der angrenzende kleine Friedhof ist ein wunderschönes Motiv in seiner weißen Verzuckerung, die mehr wie Caspar David Friedrich wirkt als wie Ägäis.

Für eine Rast hat es keinen trockenen Platz, und wir haben außer ein paar Keksen und Wasser auch nichts dabei. Auf eine offene Taverne in Moni ist nicht zu hoffen, und so verzichten wir auf den weiteren Aufstieg dorthin und nehmen die Straße hinab Richtung Chalki, um dann nach einer Brücke rechts eine Querverbindung zum ursprünglichen Wanderweg zu wählen. Die Kopie der Wanderbeschreibung habe ich offenbar irgendwo auf den letzten Metern vor der Panagia Drossiani verloren, praktischerweise habe ich den Reiseführer auch noch dabei.

 

Auf der Straße begegnet uns der Schneepflug. Schneepflug? Na, es ist ein Bagger, dessen Fahrer sich redlich Mühe gibt, die spärlichen Schneereste am Straßenrand als Alibi für seine Tätigkeit zusammenzuschippen. Er hat definitiv seinen Spaß, wie auch der Fahrer eines Pickup, auf dessen Motorhaube ein Schneemännchen thront.

Die Abkürzung ist nicht wirklich kürzer, aber flacher. Wir treffen das Monopati an einem Wegweiser wieder. Den Hinweis zur Taverne Kalliopi können wir ignorieren, die anderen Schilder müssen wir zunächst vom Schnee befreien ehe sie uns den Weg weisen. Aber war sowieso klar, es geht nach rechts, vorbei an ein paar für die Ewigkeit geparkten Autos. Der Weg führt nun wieder bergab, man hat einen herrlichen Blick über die olivgrün-weiße Tragea-Ebene und bis zum Zas. Schön!

 

Der Weg ist teilweise rutschig, Schnee und Wasser auf Marmor, ich setze mich prompt auf den Hosenboden als ich einen besonders guten Fotostandort erklimme. Wieso habe ich eigentlich die Wanderstöcke heute nicht dabei? Hier wären sie nützlich gewesen.

Um Viertel nach zwei erreichen wir das Dorf Kaloxylos, das inmitten von Orangenhainen liegt und einige hübsche Kirchen und ein Folklore-Museum beherbergt. Es hat sich mit Glaskugeln, Girlanden sowie diverser anderen Deko weihnachtlich geschmückt, vor der Hauptkirche gibt es sogar eine lebensgroße Krippe.

Am nettesten ist aber der kleine Schneemann, der an einem kleine Platz auf einer Bank sitzt und auf Gesellschaft wartet. Ob da heute noch eine Schneefrau vorbeikommt?

Bis nach Chalki ist es nun nicht mehr weit, unser Schritt wird wieder schneller bei der Aussicht auf eine warme Gaststube und etwas zu essen.

Wir passieren einen verlotterten Hof und den Pyrgos Markopoliti-Papadaki, dann sind wir wieder am Ausgangspunkt in Chalki.Es ist dreiviertel drei, wir haben also noch genug Zeit, in der "ARTernative BAR Mitos" einzukehren. Ein schnuckeliges Lokal mit einem großen Bücherregal. Man offeriert vor allem Pizza, frisch aus dem Holzofen, und genau danach steht uns der Sinn. Ein Spezialität ist der mit Sepia dunkel gefärbte Pizzateig, Barbara probiert das aus. Geschmacklich kein Unterschied, aber macht sich optisch interessant. So oder so schmeckt die Pizza gut und wird von uns restlos vertilgt. Dazu ein heißer Tee.

Der Wirt heizt die Gaststube ordentlich an, als noch eine Gruppe Gäste kommen. Aber ich fange trotzdem an zu frieren, was sich noch verstärkt, als wir an der Straße auf den Bus warten. Wir sind noch zu früh dran, laut Fahrplan fährt der Bus erst um halb fünf, in zwanzig Minuten. Da kommt ein Taxi vorbei, es hält bei uns. Der Fahrer hat die potenzielle Kundschaft gewittert. Der Bus würde nicht kommen, weil heute wegen des Schnees die Schule ausgefallen sei. Ja ja, beim Requirieren von Kundschaft sind alle Mittel erlaubt. Was es denn nach Chora kosten würde? Zwanzig Euro. Wir haben aber die Bustickets schon. Mir ist kalt, und ich hab keine Lust, auf den Bus zu warten, also steigen wir schließlich ein (die Tickets kann ich später sogar an der Busstation zurückgeben). Georgios heißt der Fahrer, vielmehr George. Er war bei seiner Mutter in Moni und hat gegessen und getrunken, jetzt ist er müde und will schlafen. Ähm, das ist jetzt keine geeignete Aussage um unser Vertrauen in seine Fahrkünste zu erhöhen. Aber er fährt ordentlich und nicht schnell, und erzählt dabei so allerlei über seine Passion, die Jagd. Was man wann jagen darf, und wie sehr die Behörde aufpasste, dass man sich an die Regeln hält. Interessant. Naxos scheint da sehr reglementiert zu sein. Ordnung muss sein.

Er fragt auch nach unserem Quartier, das er von außen kennt, und lacht sich halbtot, als er den bombastischen Namen hört: "Riviera Suites". Sympathischer Kerl, und wir buchen ihn gleich für morgen für die Fahrt zum Flughafen.

 

Barbara geht direkt in unsere "Riviera Suites", und ich noch Richtung Grotta, wo ich die dramatische Stimmung und die Wellen fotografieren möchte so lange die Sonne noch nicht untergegangen ist. Und ich erwische wirklich den richtigen Moment. Der dunkle, blauviolette Himmel, die weiße Gischt der Wellen, das ockerfarbene Licht, die weißen Häuser von Grotta, die wie Edelsteine wirkenden Uferkiesel, und natürlich das Tempeltor auf seiner Insel - sehr genial. Der Wind schüttelt mich zwar durch, und überhaupt ist mir richtig kalt, aber die Fotogier siegt.

Paros gegenüber ist eine blaue Silhouette, von der untergegangenen Sonne rosa umrandet und von wilden Wolkentürmen überschwebt.

Schade, dass wir morgen nach Athen zurück müssen. Obwohl ich mich auf Athen auch freue.

 

Barbara bezahlt den Rest unserer Zimmermiete, dann gehen wir noch ein wenig einkaufen. Die Läden öffnen erst um 18, 19 Uhr. Auch der urige Laden von Tziblakis an der Papavasiliou, vollgestopft bis unter die Decke mit lokalen Produkten und viel Keramik aus Sifnos. Das "Schaufenster", die Auslage draußen, ist im Winter allerdings nur spärlich bestückt, so dass wir dachten, es wäre gar nicht offen. Ist es dann aber doch, und so wechselt noch allerlei Naxiotisches den Besitzer.

Wir sind etwas unschlüssig, wo wir essen gehen sollen, und landen letztendlich wieder im "Kozi", bei Chortokeftedes und Lachanokarotosalata.

In der Nacht ist es saukalt, ich friere trotz Leggings. Vielleicht hätten wir den kleinen Radiator einschalten sollen.

Unser Flug nach Athen, gebucht mit Skyexpress zum Preis von 32 Euro pro Person, geht um elf Uhr. Mit George, dem Taxifahrer, haben wir verabredet, dass er uns um Viertel vor zehn abholt. Wir packen unsere Sachen zusammen und gehen frühstücken, wieder im Rendezvous. Auch dort ist es kühl heute, trotz Heizstrahlern, und so unter der Woche sind wir die einzigen Gäste hinter den mäßig schützenden Plastikplanen.

Naxos kann so kalt sein. Der kälteste Winter solange sie denken können, sagen die Griechen. Aber das sagen sie jedes Jahr.... vielleicht haben sie dieses Jahr recht?

 

George ist pünktlich, und um zehn Uhr sind wir am Flughafen. Zwölf Euro hat das Taxi gekostet.

Es geht hier gemütlich zu: ein kleiner Warteraum, zwei Schalter, von denen nur einer geöffnet ist, ein Kiosk natürlich. Schnell sind wir eingecheckt und warten nach der Kontrolle im kleinen und zugigen Gatebereich. Mir ist so kalt, ich bibbere trotz warmer Jacke und Strumpfhose vor mich hin. Auch im Flugzeug wenig später wird mir nicht richtig warm werden. Aber da konzentriere ich mich auf die Aussicht: auf Naxos, Paros, Syros und Gyaros. Tinos und Andros mit schneebedeckten Bergen, Evia und Attika sowieso.

Um halb elf setzt unser Flugzeug, eine Turboprop mit 48 Plätzen, in Athen auf.

Hier haben wir jetzt noch zweieinhalb Tage Zeit.