Die Fahrt durch Nachtschwärze im beruhigten Meer dauert etwas über vier Stunden. Nur in Adamas, Milos, wird sie nochmals unterbrochen. Der "Speedrunner 3" ist eben keine der schaukelnden Katamaranfähren, sondern ein richtiges Fährschiff. Ein schnelles.
Um Viertel nach Mitternacht treffen wir in Piräus ein. Ich verabschiede mich von Renate, die in Athen übernachten wird und morgen heimfliegt.
Zügig strebe im dem Hotel "Ionion" zu, das sehr nahe am Hafen liegt. Eine Treppe ohne Türe führt direkt vom Eingang hinauf, nach zwanzig Stufen ist links der Rezeptionsschalter, rechts warten zwei Touristen. Offenbar bin ich gerade noch rechtzeitig gekommen ehe mein Zimmer weggewesen wäre, denn der Rezeptionist, ein älterer Herr, empfängt mich mit den Worten, dass er versucht habe, mich auf dem Handy anzurufen. Stimmt, ich habe mehrere Anrufe auf dem Display meines iPhones, aber im Schiffsinneren habe ich die nicht gehört, und auch nicht danach im Lärm des Aussteigens.
Die vierzig Euro fürs Zimmer werden sofort fällig, in bar und ohne Beleg. Das Ganze macht keinen einladenden Eindruck, aber ich will ja nur schnell ein Zimmer für eine Nacht und morgen ausgeruht nach Athen rein.
Die weiteren Stockwerke hinauf. Das Zimmer erweist sich als ziemlich simpel. Das primitive Mobiliar jahrzehntelang von Gästen ramponiert, die Bettwäsche wirkt schmuddelig, aus irgendwelchen Lüftungen draußen kommt Lärm, und eine Leuchtreklame sorgt für fahlgelbes Flair. Dazu Zigarettengeruch aus dem Treppenhaus, und immer wieder Lärm durch die Stimmen später Gäste. Immerhin die Dusche funktioniert problemlos, und so genau gucke ich jetzt auch nicht hin.
Es braucht schon sehr viel rosafarben-ausblendende Nostalgie nebst einiger Schmutzresistenz um so eine Bruchbude zu empfehlen. Oder man hat die Entwicklung der Hotels in Griechenland in den letzten Jahren komplett verschlafen. Sie hat auch in Piräus Einzug gehalten. Zum Glück. Ohne dass ich auf Edelhotels stehen würde - sauber und freundlich reicht ja schon.
Nach mäßig durchschlafener Nacht bin ich am Samstagmorgen früh wach, frühstücke beim Bäcker um die Ecke eine Bougatza, vertrödle danach Zeit am Hafen. Die zigarettenqualmende und ungepflegte Rezeptionistin des "Ionion" - oder ist es das Zimmermädchen bei einer Pause? - verzieht keine Miene als ich vorbeigehe. Mich gruselt.
Ich will so schnell wie möglich ins Hotel "Anita-Argo" umziehen, das drei Straßenecken entfernt liegt und wo ich die nächste Nacht gebucht habe, aber vor elf Uhr ist dort offiziell kein Zimmer beziehbar.
Ich versuche es trotzdem, muss noch etwas warten, und darf um halb elf auf mein Zimmer. Es ist in einem der oberen Stockwerke, sauber, geräumig, zeitgemäß möbliert ohne Chichi, und hat sogar einen großen Balkon mit Aussicht auf die Hafeneinfahrt und nach Salamina. Für zehn Euro weniger als im "Ionion".
Wunderbar, wie belebt Piräus am Samstagvormittag ist! Wenn man hier nur spätnachmittags oder nächtens unterwegs ist, könnte man meinen, die Krise hätte Piräus leergefegt. Aber jetzt sind die Geschäfte offen und die Käufer unterwegs. Zumindest in den Läden um den Fischmarkt in Hafennähe. Nur bei der Suche nach einem Päckchen der guten Feigen von Kymi werde ich nicht fündig. Schade, auf Kreta waren die problemlos zu bekommen.
Mit der Metro fahre ich nach Athen hinein. Zum allerersten und vermutlich auch einzigen Mal findet dieses Jahr ein Teil der documenta, der alle fünf Jahre in Kassel stattfindenden Kunstausstellung, für hundert Tage in Athen statt. Unter dem Motto "Von Athen lernen". Mhhh. Das will ich auch.
Deswegen habe ich heute kein klassisches Besichtigungsprogramm, sondern will mir das ansehen. Bloß wo? Die documenta 14 ist an verschiedenen Orten in der Stadt verteilt, und weil ich den Athen-Besuch im Grunde nur optional, aber nicht ernsthaft erwogen hatte, fehlt mir nun in vielerlei Hinsicht ein Plan.
Was ich aber weiß, ist, dass das National Museum of Contemporary Art EMST mit der documenta 14 zum ersten Mal eine Ausstellung zeigt. Eröffnet wurde das Museum in der ehemaligen Fix-Brauerei schon 2015, aber aus Geldmangel gab es dort bisher nichts zu sehen. Was sich nun geändert haben soll. Noch ein Vorteil des EMST ist, dass es eine Metro-Haltestelle dort gibt, Fix, und ich mich nicht durch halb Athen suchen muss.
Das Wetter ist heute bewölkt, Regen droht. Komisch wechselhaftes Wetter diesen Mai.
Von der Metrohaltestelle finde ich das Museum schnell, ein zwischen zwei breiten Straßen eingezwängter hoher Kasten mit einer Fassade aus gebrochenen Natursteinwürfeln.
Im großen Eingangsbereich hat es überraschend viele Besucher zahlreicher Nationalitäten. Es gibt Kunstspaziergänge, Führungen und vieles mehr. Ich nehme den klassischen Museumsbesuch, der Eintritt kostet acht Euro. Und wo fängt man nun an? Die lange Kette Rolltreppen führt mich ins oberste Stockwerk (offiziell hätte ich wohl unten anfangen müssen), wo man von einer Terrasse einen tollen Blick über die Häuser auf die Athener Stadthügel hat. Beeindruckend.
Die ausgestellte zeitgenössische Kunst ist es dann weniger. Ohne mehrseitige Erklärungen zu lesen - es gibt sie in Englisch und Griechisch - ist allenfalls zu erahnen, was sie ausdrücken will. Versuche ich zu Anfang noch, mir die Exponate zu erarbeiten - die Fundstücke aus dem elterlichen Bauernhaus von Lois Weinberger sind zwar skurril, machen das aber noch möglich - so kapituliere ich schnell vor dem bunten Sammelsurium aus alle Welt: Noch nie so viel Kunst mit enthnologischem Hintergrund aus den entferntesten Ecken der Welt gesehen, aber Griechenland kommt etwas kurz. Schnell lasse ich nur noch die Eindrücke auf mich wirken während ich durch die Etagen ziehe.
Was mich überrascht, sind die vielen Besucher. Man hört viel Deutsch, Französisch, Englisch, aber auch Griechisch, Letzteres vor allem bei Führungen. Die documenta 14 erreicht also doch auch die Griechen. Und vermutlich wäre eine Führung auch für mich die bessere Möglichkeit gewesen, die Exponate zu verstehen. Wobei, wenn ich so lausche was da erzählt wird, dann will ich es vielleicht doch nicht so genau wissen. Mein Minderwertigkeitskomplex als Nicht-Kunsthistorikerin schlägt mal wieder durch. Oder ist es nur die Allergie gegen kunsthistorisches Geschwafel? "Hurz" murmel ich leise, und bin ganz glücklich, als ich einen Tisch mit kleinen, verfremdeten antiken Statuen sehe: Poseidon von Sounio als verfettete, kahlköpfige Version. Immerhin amüsant. Und an den Wänden die vielen Schwarz-Weiß-Fotoabzüge aus den Werkstätten der Dublikat- und Souvenirindustrie.
Was bleibt noch in Erinnerung?
Die roten Wollwürste, die in einem Raum von der Decke hängen. Die webstuhlartigen Gebilde in einem anderen. Ein paar interessante Fotografien. Und der Mini-Gorilla mit der Schaufel.
Hier kann man in sechs Minuten eine Essenz des Wichtigsten sehen: https://www.youtube.com/watch?v=9Rd7ifatuU8
Hat ja niemand gesagt, das Kunst Spaß machen soll.
Um zwei torkel ich aus dem Gebäude und hab das Bedürfnis nach etwas Hehrem, Klarem. Soll ich noch ins archäologische Nationalmuseum? Da war ich seit über zwanzig Jahren nicht mehr. So ein properer Kouros würde mir jetzt gut tun, oder ein simples Kykladenidol. Da könnte ich von Athen lernen.
Zunächst muss aber das irdischen Bedürfnis nach etwas zu Essen gestillt werden. Ich gehe zu Fuß Richtung Plaka, wo sich das obligatorische touristische Gedränge abspielt. Athen boomt als Städtereiseziel, ich hatte es schon beim Blick auf die überraschend hohen Übernachtungspreise geahnt.
Eher ungeplant lande ich wieder im "Bakaliaro Saita", wo ich vor zwei Jahren ganz zufrieden war. Nicht draußen, wo die beschirmten Plätze bei drohenden Regenwolken alle belegt sind, sondern unten im Keller, wo es noch Platz hat. Der Bakaliaros mit Skordalia ist sehr gut, 11 Euro 80 werden inklusive einem Tetarto Wein und Brot fällig. Ein Glas Wasser auf Wunsch kostenlos und plastikfrei aus der Leitung.
Danach ist es zu spät für einen Besuch des Museums für traditionelle griechische Musikinstrumente um die Ecke, das leider schon um 15 Uhr schließt. Das hätte mich jetzt interessiert, das archäologische Nationalmuseum besuche ich dann das nächste Mal. Oder auch nicht.
So schlendere ich zum Syntagma-Platz und durch die knallvolle Ermou, über den Flohmarkt, gucke nach Mitbringseln, trinke einen Kaffee und beobachte Leute. Sehr spannend. Relativ früh kehre ich müde nach Piräus zurück.
Am Abend gehe ich ins Rakadiko "Stoa Kouvelou" in der unmittelbaren Nachbarschaft. Ich bin früh dran, schon um zwanzig Uhr, und es ist noch kaum etwas los. Bei der reichen Auswahl an Meze fällt mir die Auswahl schwer. Ich entscheide mich schließlich für gefüllte Peperoni, scharfe Würstchen in Sauce und mit Fleisch gefüllte Wraps. Dazu ein Karafaki Raki.
Noch sind die Gäste ausschließlich ausländische Touristen, aber später gibt es Live-Musik, und dann wird es hier vermutlich voll und es kommen auch Griechen. Ohne mich, ich bin zu müde.
Das Essen kommt nach und nach, alles schmeckt sehr gut, aber ich werde es nicht schaffen, alles zu essen. Die französische Parea am Nachbartisch will unbedingt Gegrilltes. Das gibt es natürlich auch, aber eigentlich ist ein Lokal wie dieses zu schade für solche Standardgerichte.
Der Kellner, ein netter junger Bursche, hat nicht viel zu tun, und so kommen wir ins Gespräch. Seine Frage nach dem Woher beantworte ich standardgemäß mit "konta stin Stuttgardi". Ja, da hätte er mal in der Nähe gearbeitet. In Herrenberg. Ach nee, das wäre mein Heimatort, antworte ich ihm. Er wird nun genauer: nicht in Herrenberg selbst, sondern in Oberjesingen bei Herrenberg, im Sportheim. Bei Roxy. Die kenne ich natürlich auch, haben wir dort doch an Ostern erst Majiritsa und Lamm geschmaust. Beide sind wir kurz fassungslos ob dieser kleinen Welt, und natürlich muss ich Roxy unbedingt Grüße von Lambros ausrichten wenn ich das nächste Mal hinkomme. Wewea!
Der Karafaki-Nachschub geht dann aufs Haus. Piräus fängt an, mir zu gefallen.
Das ändert sich in der Nacht, als ein ergiebiger Regen einsetzt, der auch am Sonntagvormittag anhält. Mein Besuch des Mikrolimano samt Frühstück dort kann ich vergessen. Dafür entdecke ich, dass das hoteleigene Frühstück im "Anita-Argo" seit meiner letzten Inanspruchnahme vor Jahren deutlich an Qualität und Auswahl (Buffet) zugelegt hat und für acht Euro absolut zu empfehlen ist.
Weil ich den Vormittag noch Zeit habe, bummel ich gut beschirmt im Nieselregen zum nahen Hafen, wo vor allem der hochgeschwinde Nahverkehr auf die argosaronischen Inseln aktiv ist.
Vollends nass werde ich, als ich an der Bushaltestelle Agios Spyridonas auf den Expressbus X 96 zum Flughafen warte. Dank modernem Display wird angezeigt, dass er gehörig verspätet ist. Gut, ich habe Zeit. Oder vielleicht doch ein Taxi? Der Taxistand ist nur ein paar Meter weiter. Dann spritzt mich allerdings eines der anfahrenden Taxi so gründlich nass, dass ich schon deshalb keines nehme. So!
Der Bus kommt, die Fahrt geht reibungslos über die Bühne. Amüsant zu beobachten wie die Rollenkoffer einer Mitreisenden im Bus spazieren fahren (die aktuell modernen mit vier Rädchen sind eh nichts für unebenes Inselterrain) ehe sich ein Mann erbarmt und sie mit einer Drehung um 90 Grad von den Fliehkräften befreit.
Der Rückflug mit Aegean Airlines erfolgt Nonstop nach Stuttgart, wie herrlich! Beste Fluglinie der Welt! Griechenland versteckt sich wie der halbe Balkan unter dichten Wolken, erst über der Heimat wird die Sicht nach unten frei.
Eigentlich war der heutige Tag der einzige Urlaubstag, an dem ich etwas zu beanstanden hätte. Wettertechnisch auch nur, aber so wurde der Abschied leichter.
Ein perfekter Urlaub. Ein wunderschöner Urlaub.
Ich kann es kaum erwarten, die Kykladen wiederzusehen.
Neue Inseln erkunden? Eher nicht.
* Ergänzung September 2017
Die documenta in Kassel und Athen ist vorüber. Übrig bleibt ein Defizit von 5,4 Millionen Euro.
Hat man da womöglich das Falsche von Athen gelernt?