Kathara Deftera

Der „reine Montag“ (in Griechenland ein offizieller Feiertag) ist der Beginn der vierzigtägigen Fastenzeit vor Ostern, auch „sarakostí“ genannt. Vergleichbar unserem Aschermittwoch. Warum bei uns der erste Tag der Fastenzeit ein Mittwoch ist, und in Griechenland ein Montag liegt an der unterschiedlichen Zählungen der Fastentage – je nach Überlieferung bzw. Theorie werden in Griechenland entweder die Sonntage oder die Karwoche nicht mitgezählt.

 

Man wünscht sich „kali sarakostí“ – gute Fastenzeit, lässt Drachen steigen und picknickt im Grünen.

 

Obwohl es trocken ist und der Himmel sogar ein paar blaue Stellen hat, ist nicht wirklich Picknick-Wetter. Mit dem Drachensteigen könnte es schon eher klappen – es weht ein kalter Wind. Aber ich sehe nur eine junge Frau mit ihrem Drachen.

Um die Mittagszeit werden auf der Platia traditionelle griechische Tänze vorgeführt. Und viele Einheimische in skyriotischer Tracht unterwegs sein. Auf beides bin ich sehr gespannt.

 

Die Platia ist noch leer, aber ein aufgemalter schwarzer Ring markiert die Tanzfläche. Flankiert ist er von zwei Tischen mit Stühlen – für die Vortänzer. Ich bummle durch die noch leeren Gassen der Chora und stoße auf eine ganze Gruppe Jungen, Mädchen und Frauen in Tracht. Sie posieren für das allgegenwärtige Filmteam. Die meisten Frauen tragen gelb-schwarze Kopftücher wie sie auch die Korella getragen hat. Aber die Korelles und die Jeri sind verschwunden – Apokries ist zu Ende. Wirklich.

Bei den Männern sieht man zweierlei Tracht – beide mit blauen Pluderhosen, Stulpen und Trochadia, aber das Hemd und die Weste ist entweder weiß – dann wird der Kopf mit einem bunten Band umschlungen, oder hellblau oder schwarz, mit roter oder dunkler Weste und dem hübschen dunklen Samtkäppi dazu. Auch Kinder präsentieren sich stolz in Tracht, mit bunten Hirtentäschchen um wenn sie die weiße Tracht tragen. Vermutlich ist es die Tracht der Hirten, denn auch der schon von den Jeri bekannte Hirtenstab gehört zu diesem Outfit.

Wirklich niedlich sind die Kleinsten in Tracht – vorne an der Platia rennt ein vielleicht Zweijähriger herum mit Mini-Trochadia, Pluderhöschen, Käppi und Stock. Ja, man ist hier wirklich sehr stolz auf seinen Traditionen!

Die Platia wird mit Nissiotika-Musik beschallt, die Tavernen am Rande füllen sich peu à peu, man freut sich an der Sonne. Und pünktlich, kurz nach zwölf Uhr, zieht die Tanzgruppe auf dem Platz ein.

 

Wir haben uns rechtzeitig einen Platz auf einem Balkon gesichert und einen gute Blick. Es sind viele Tänzer und Tänzerinnen, fünfzig oder sechzig. Vorne gehen die Kinder, gefolgt von den Jugendlichen. Den Abschluss bilden die Erwachsenen. In drei Reihen stellen sie sich am Rande der Tanzfläche auf.

Die Vorführung fängt mit den Kleinsten an. Die müssen keinenfalls Welpenschutz in Anspruch nehmen – nein, sie sind wirklich gut, man sieht ihnen die Freude am Tanzen an. Bei den späteren Solotänzen (nur für Jungs) treten sie mit einem Selbstbewusstsein auf, das überzeugt. Da wird im Takt gekniet und sich dann mit dem Rücken auf dem Boden ausgestreckt wie die Alten. Die dahinschmelzenden Eltern am Rand zücken die Fotoapparate, und ich natürlich auch.

Welche Tänze jeweils getanzt werden kann ich nicht verstehen – es sind unheimlich viele, und die meisten davon kenne ich nicht. Inseltänze sind aber vorherrschend, was man schon an der typischen Musik hört. Ich glaube, ich werde dann mal bei meiner Tanzlehrerin eine Eingabe machen, dass ich Tänze von Skyros lernen will…. :-) Inseltänze müssen gar nicht so langweilig sein….

Nach den Kleinsten kommt die Erwachsenengruppe, und die Ansprüche steigen. Bei den Paartänzen fliegen die bunten Röcke, dass es eine Freude ist! Und wie so oft beim Tanzen: Es fehlt an Männern – ein, zwei Frauen haben sich als Männer „verkleidet“.

Auch außerhalb der Vorführfläche tanzen nun vereinzelt Leute. Das kann nicht schaden, denn die Sonne hat sich hinter einer dicken Wolkenschicht versteckt und ein kalter Wind lässt mich erneut Handschuhe und eine Mütze vermissen. Klar, wir stehen in ausgesetzter Lage auf dem Dach eines Hauses. Na, da müssen wir jetzt durch.

Auf der Tanzfläche ist man nun mit einem Besen zugange. Soll hier am sauberen Montag der Karneval davon gekehrt werden? Getanzt wird paarweise, ein Mann ist aber zu viel, und der hat einen Besen. Immer wieder werden nun die Partner gewechselt, und wer von den Männern keine Tanzpartnerin ergattert, der muss mit dem Besen in der Mitte der Tanzfläche bleiben. Die Reise nach Jerusalem auf Skyrisch? Cool wird der Besenbesitz überspielt, der eine hält das Werkzeug wie eine Gitarre, der andere reitet lieber darauf.

 

Zum Schluss tritt die Jugendgruppe auf. Sie bietet einen Tanz mit Schulterfassung dar, und dann einen bei dem alltäglichen Tätigkeiten wie Hacken, Mähen und so weiter pantomimisch dargestellt werden. Sehr interessant!

Eine Stunde dauert die Vorführung, dann ist der Tanz für alle eröffnet. Ich stürze mich in die Reihe und erschrecke meine Nebentänzerinnen mit meinen eiskalten Händen. Einen Inselsyrtos – den kenne ich zwar nicht, aber er ist nicht schwer. Dann ein Kalamatianos, und mir ist wieder warm.

 

Die Tavernenplätze sind nun alle belegt, auf den Tischen stehen die traditionellen Fastenspeisen: Hülsenfrüchte, Meerestiere. Und Lagana, das Fastenbrot. Sich des Alkohols zu enthalten steht aber offensichtlich nicht auf dem Programm wie wir noch sehen werden.

 

In der Marktgasse haben die Ladenbesitzer eine lange Tafel aufgebaut – das Picknick für die Nachbarn findet in der Chora statt. Zum ersten Mal seit Jahren regnet es am Kathara Deftera nicht. Bis jetzt zumindest.

Wir finden im Inneren der Taverne „Mariettis“ noch einen Platz. Draußen sind zwei lange Tische prallvoll geladen, der Kellner ist nur am Rennen. Drinnen hat es die typische, etwas unterkühle Mensa-Atmosphäre, die oft das beste Essen verspricht.

Wir lassen die Jacken an, es ist kalt. Die Wirtin zählt auf was sie an Speisen hat, meine Rückfragen (was sind genau Fasolia im Gegensatz zu Gigantes oder Fasolakia? Und Soupia hatte ich auch noch nie?) stoßen auf wenig Verständnis. Wir lassen uns überraschen und bestellen Fasolia, Soupia und Gigantes, dazu einen halben Liter offenen Weißwein. Bekommen einen großen Teller mit kaperndurchmischtem Schwarzaugenbohnensalat (fasolia mavromatika), butterzart gekochten Tintenfischen (Soupia = Sepia) mit Fenchel, und dicke Bohnen. Dazu natürlich das gelbliche Fastenbrot. Schmeckt alles sehr sehr gut obwohl ich eigentlich kein so großer Fenchelfan bin. Zwanzig Euro werden wir zusammen bezahlen.

 

Inzwischen sind auch die letzten Plätze belegt, es grenzt an ein Gelage was auf den langen Tischen steht. Zahlreiche Plastikflaschen mit Weißwein dabei. Ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass der Beginn der Fastenzeit so üppig (wenn auch fleischlos) gefeiert wird. Es wird mehr gegessen und getrunken als an den letzten Tagen.

Aus den Cafés und Bars dringt laute Musik, an der Platia wird immer noch getanzt. Leider wieder keine Live-Musik. Überall sind nun die Trachten zu sehen, und die Frau, die keine hat, trägt wenigstens das gelb-schwarze Kopftuch (ob es die Unverheirateten markiert? Oder doch nur BVB-Fans?)

 

Und dann fallen die ersten Tropfen. Blitzartig wird die Musikanlage abgebaut, der Tanz hat ein Ende. Nein, der Tanz auf der Platia hat ein Ende. In den Cafés wird die Musik lauter gemacht und dort getanzt. Oder auf der Straße. Bis dann wenig später ein heftiger Wolkenbruch die Feiernden nach Drinnen zwingt. Und ich die Beobachtung mache, dass Trochadia bei Regen nicht das optimal Schuhwerk sind: wenn die Socken mal Wasser gezogen habe hilft wenig gegen kalte Füße. Auch wenn man durch die inneren Einnahme von Alkohol versucht, die Betriebstemperatur zu erhöhen - nach dem Kathara Deftera ist die halbe Insel krank. Was natürlich auch an dem kalten Wetter der letzen Tage liegen mag. Oder an einem schlichte Kater. Oder der Kombination von beidem – ziemlich tödlich.

Wir kuscheln uns erst mal in unserem Appartement ein. Im Alkoholladen an der Hauptgasse habe ich eine Flasche Rotwein gekauft und verblüfft den Einkauf eines jungen Mannes beobachtet: Drei Zweiliterflaschen Ouzo, bestimmt ein Dutzend Flaschen Wodka, dazu noch diverse andere Alkoholika – da hat die Parea des Mannes heute noch ganz schön was vor! Ein dickes Bündel Bargeld wechselt den Besitzer und wird nachgezählt, die zwanzig Euro zu viel werden sofort in eine weitere Zweiliterflasche Ouzo investiert. Der Abtransport gestaltet sich schwierig, aber der Weg ist wohl nicht so weit – immer drei Flaschen werden in einer Plastiktüte gebündelt und peu à peu weggebracht.

 

Unser alkoholischer Exzess erschöpft sich in einer Ladung Glühwein, aus dem Rotwein und Orangensaft zusammengebraut. Fehlen zwar Nelken und Zimt, macht aber trotzdem schön warm. Unser geplanter Spaziergang durch die Chora und nach Magazia muss ausfallen. Und so manches Drachensteigen auch.

 

In einer Regenpause gehe ich hinüber zum südlich des Ortes gelegenen Friedhof. Ich will auch endlich mal das Meer sehen, denn nun sind wir schon zwei Tage hier ohne einen Blick darauf geworfen zu haben. Der östlich des Ortes gelegene Kastrofelsen mit dem Georgskloster und der Burg darauf riegelt diesen vom Meer ab. So geschützte Lagen waren in vergangenen Jahrhunderten von Vorteil, war man vom Meer aus doch nicht sichtbar und deshalb sicherer vor Piratenüberfällen.

 

Vom Sattel oberhalb des Friedhofes sieht man nun das graue Meer, das alles andere als einladend wirkt. Im Norden sind jenseits des Kastrofelsen die Häuser und die Strände von Magazia und Molos zu sehen. Wenn das Wetter besser wir wollen wir morgen dorthin.

Zurück in der Chora sehe ich einen richtigen Bach sich über einen Stufenweg ergießen. Es ist wirklich ein Jammer, dass auch dieser Kathara Deftera zu Beginn des gemütlichen Teiles ins Wasser gefallen ist! Aber die Einwohner lassen sich davon nicht vom Feiern abhalten, sitzen im Freien unter Balkonen und Mauervorsprüngen, tanzen in den Pfützen in nasser Tracht. Gummistiefel statt Trochadia würde ich empfehlen – warum gibt es keinen Stiefel auf Skyros?

Bis zu uns hinüber dröhnt die Musik, und die Deutsche in dem Laden wird uns erzählen, dass am nächsten Tag in der Schule und in den Büros viele Plätze leer bleiben werden. Man muss die Feste feiern wie sie fallen, und auf Skyros weiß man zu feiern.

 

Es ist wie bei der Fasnet in den schwäbisch-alemannischen Hochburgen – das Wichtigste ist das Zusammenkommen und Feiern, vor allem der jungen Leute. Der Sohn unserer Vermieterin ist auch aus Athen da, aber zu ihrem Leidwesen bekommt sie ihn kaum zu Gesicht: nachts ist er unterwegs, tagsüber wird geschlafen. Und dann hat sie sich blöderweise noch eine heftige fiebrige Erkältung geholt, mitten zum Karneval – übel! Ja, Apokries kann Stress sein!

Unseren späten Hunger stillen wir in der direkt gegenüber unserer Unterkunft gelegen Taverne „Athrachti“. Dort ist es angenehm warm und nicht so voll. Die Musik ist allerdings auch sehr laut, und so gestaltet sich die Unterhaltung mit einem älteren Herrn am Nachbartisch schwierig. Er hatte vor Jahrzehnten in Aachen studiert, hat ein Ferienhaus auf Skyros und spricht sehr gut Deutsch. Natürlich reden wir über die unvermeidliche Angela Merkel, über die er sich empört weil sie den Griechen Faulheit vorgeworfen hat. Er habe immer viel gearbeitet, und ich weiß, dass es – wie überall – Fleißige und Faule gibt, und Pauschalurteile wenig hilfreich sind. Dass wir als deutsche Urlauber in Griechenland nicht willkommen wären haben wir nie gespürt. Im Gegenteil.

 

Die Taramosalata ist göttlich und völlig jenseits von allem was man in deutschen Lokalen als Taramosalata so vorgesetzt bekommt. Der Saganaki schmeckt auch, bloß die Fava wäre noch ausbaufähig – zu kalt, zu trocken.

 

Eine Gruppe junger Leute sitzt an einem Tisch, sieben, acht Männer und Frauen, alle in Tracht. Das Bier und der Wein fließen in Strömen was bei einem der jungen Männer nicht ohne Spuren geblieben ist – langsam sind seine Bewegungen, leer sein Blick. Sie haben aber alle Kefi und tanzen Sembekiko über Gläser und Bierflaschen. Dass ein gefülltes Weinglas dabei zu Bruch geht – geschenkt! Nur provisorisch wird aufgewischt, dann wird weitergetanzt. Als dann aber die ersten Teller geworfen werden sollen schreitet die sympathische Bedienung energisch ein: da hört der Spaß auf!

 

Und dann ist der Karneval auf Skyros wirklich vorbei, und wir werden die nächsten vier Tage Zeit haben uns den Alltag und den Rest der Insel anzusehen.

Wir sind gespannt darauf, und hoffen auf gutes Wetter.