Agio Galas

 

Glockenläuten weckt uns früh - es ist Sonntag, und es gibt unglaublich viele Kirchen in Volissos. Direkt neben unserem Domizil ist eine alte Kirche, Taxiarchis ston Pythona, aber der Gottesdienst findet wahrscheinlich in der Hauptkirche statt.

Wir frühstücken wieder auf dem Balkon, sonnenhungrig und in der Jacke, denn die Luft ist immer noch kalt, gerade mal zwölf Grad. Páei o chímonas.

 

Heute wollen wir eine Tour um den Amaní machen, einen 809 Meter hohen Berg im Nordwesten von Chios. Nach Norden fahren wir in die Berge, das erste Dorf ist Piramá. Hier treffen sich die Jäger, die sich auch von den Jagdverbotsschildern am Straßenrand offensichtlich nicht im Geringsten stören lassen. Ein kurzer Halt ergibt wenig Sehenswertes außer der schönen Lage mit Aussicht.

 

Weiter über Parpariá nach Melaniós. Melanios, oder genauer: das davorliegende Kap Melanios hat 1882 traurige Berühmtheit erlangt: die vor den osmanischen Massakern fliehende chiotische Bevölkerung hatte sich hierher ans äußerste Ende der Insel gerettet und hoffte sich mit Schiffen nach Psara in Sicherheit bringen zu können. Eine vergebliche Hoffnung – die Schiffe kamen zu spät und mehr als zehntausend Menschen wurden hingemetzelt, über zwölftausend Frauen und Kinder in die Sklaverei geführt. Oben an der Straße erinnern zwei Tafeln in Griechisch und Englisch an diesen Holocaust (ολοκαύτωμα). Die schmale Straße hinab zum Meer tun wir uns nicht an, dort soll ein weiteres Mahnmal stehen, das 2005 vom griechischen Präsidenten Karolos Papoulias besucht wurde.

Auf dem Bergrücken hinter dem kleinen Dorf stehen zahlreiche Windräder, heute drehen sie sich nur schwach. Und ein nagelneuer Brunnen wurde an der Straße gestiftet, mit viel Marmor.

Wir fahren weiter, es wird einsamer, die Küste steiler. Schön sieht man nach Psara hinüber, das ganz nahe liegt. Agio Gála(s) ist der nächste Ort, und unser nächstes Ziel. Denn dort gibt es – unterhalb des auf einem Felsensporn liegenden Ortes - eine Tropfsteinhöhle, die ich gerne besuchen würde. Wobei die Chancen, dass sie jetzt im Oktober noch geöffnet hat, gering sind: laut MM-Führer ist sie von Oktober bis April geschlossen. Aber heute ist Sonntag, und vielleicht ist ja jemand da... Der Zugang zur Höhle liegt an einem grünen Tal, wir parken das Auto an der Straße, trauen der steilen Abfahrt nicht so recht, und gehen zu Fuß hinunter. Da kommt uns ein Pickup entgegen, die Jagdhunde rennen hinterher. Kein Jagdglück?

 

Im Tal ist ein kleiner Kiosk mit Taverne, geschlossen, aber zwei Männer in tarnfarbenen Jagdoutfit sitzen dort, und ein junger Mann in Zivil. Wir fragen nach der Höhle. Der junge Mann antwortet, die hätte eigentlich schon zu, aber zufällig wäre er der Höhlenführer und könne sie uns zeigen. Dieses Angebot nehmen wir freudig an, kaufen zwei Eintrittskarten à drei Euro, bekommen einen Grundriss der Höhle in die Hand gedrückt, und warten bis er das Licht in der Höhle eingeschaltet hat. Die beiden offensichtlich erfolglosen Jäger nutzen die Gelegenheit und kommen auch mit.

Auch Agio Galas hat natürlich eine besondere Legende: der Name „heilige Milch“ kommt von dem milchigen, kalkhaltigen Wasser, das in der Höhle (eigentlich sind es sogar drei Höhlen) von den Stalaktiten tropft. Dieses Wasser soll im 13. oder 14. Jahrhundert eine leprakranken Frau (zufällig die Tochter eines byzantinischen Kaiser, der sie wegen ihrer Krankheit nach Chios verbannt hatte) geheilt haben. Der Kaiser bereut die Verbannung später, wollte die Tochter holen und ließ aus Freude über ihre Heilung eine Kapelle an dem wundertätigen Ort bauen: die Kirche Panagia Aghiogaloúsena (Muttergottes von der heiligen Milch). In einer Höhle dahinter befindet sich außerdem noch eine zweite Kapelle, die der Heiligen Anna.

Die Höhlen waren seit der der frühen Jungsteinzeit (6.500 vor Chr.) besiedelt – man hat entsprechende Werkzeuge gefunden. Und während des Massakers von Chios konnten sich einige Griechen hier verstecken und überlebten.

 

Der junge Mann führt uns mit guten Englischkenntnissen und viel Engagement durch das Höhlensystem, das nicht riesig ist, aber mit ein paar bizarren Tropfsteinformationen aufwarten kann. Die eine oder andere schlafende Fledermaus (griechisch νυχτερίδα – wieder was gelernt) hängt in den Ecken, wir stören sie nicht.

Gut zwanzig Minuten sind wir in der Höhle, dann geht es wieder hinaus und zur Kirche hinauf. Die Kreuzkuppelkirche soll aus dem 13. oder 14. Jahrhundert stammen, besonders schön ist das hölzerne Templon aus dem Jahr 1740, und die Ikone mit einer Schnur Votivtäfelchen davor.

Durch einen niedrigen Durchgang geht es nun zur Höhlenkapelle Agia Anna i Galaktotrophousa (= die Milchnährende), und dahinter ist ein niedriger Höhlenraum, in dem irdenen Schalen die „Milch“, das kalkige Wasser, auffangen. Noch dreihundert Meter tief soll sich das Höhlensystem in den Berg verzweigen.

 

Zur Kirche gehörte früher ein kleines Kloster. In einem der Nebengebäude befindet sich nun eine kleine Ausstellung mit Fotos vom Leben in dem Ort Agio Galas in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und Erläuterungen. Beeindruckend, wie entbehrungsreich und hart das Leben in diesem entlegenen Dorf war! Unser Höhlenguide erklärt uns auch gerne was wir nicht verstehen, und verweist uns noch auf die oberhalb der Kirche gelegene, byzantinische Kapelle Agios Thalélaios (Schlüssel im Ort), als wir meinen, wir würden zu Fuß in den Ort hinaufgehen.

Erst fragen wir die beiden Jäger aber, was sie so jagen würden wenn sie etwas treffen würden (was heute nicht der Fall war): Kaninchen und Steinhühner und Wachteln. Immerhin, das ergibt dann mehr als eine Zahnfüllung.

Dann bedanken wir uns herzlich beim Höhlenführer und verabschieden wir uns. Direkt hinter der Kirche führt ein steiler Treppenweg in den Ort Agia Galas hinauf. Schöne Aussicht unterwegs auf das Meer, wo gerade ein großes Kreuzfahrtschiff vorbeifährt.

Agio Galas ist ein nettes Dörfchen, das gerade aus dem Dornröschenschlaf zu erwachen scheint: zahlreiche Häuser wurden oder werden renoviert. Die genannte Kirche Agios Thalélaios haben wir passiert, aber nach dem Schlüssel fragen wir doch nicht – außer einigen Bauarbeitern, die auch am Sonntag tätig sind, sehen wir niemanden. Ein geöffnetes Lokal gibt es leider auch nicht – so allmählich meldet sich der Mittagshunger.

Zurück beim Auto fahren wir weiter unsere Runde im Uhrzeigersinn um den Amaní. Nenitouria ist der nächste Ort, von hier stammt der Paartanz „Nenitousikos“, den wir erst neulich im Tanzkurs geübt haben. Die Landschaft wird waldiger, die Straße windet sich in Serpentinen. Andere Autos begegnen uns selten. Leider auch keine Taverne hier, so müssen wir bis Kourounia fahren, wo der MM-Reiseführer das Lokal „O Ariousios“ nennt. „Ariousios“ hieß ein süßer Rotwein, der in der Antike hier angebaut wurde und sehr begehrt und teuer war. Diese Tradition wurde in den letzten Jahren in Kourounia wiederbelebt, und auch in dem Lokal bekommen wir den Wein – leider nicht offen, sondern in kleinen Fläschchen.

 

Wir sitzen als einzige Gäste auf der sonnig-windigen Terrasse jenseits der Straße auf 350 Metern Höhe, ein Stück weg von der Gaststube des „Ariousios“. Katzikaki mit Patates ist das Tagesessen, zusammen mit einem griechischen Salat schmeckt es sehr gut, auch wenn wir länger auf die Mahlzeit warten müssen und froh an unseren Windjacken sind. Die Rechnung fällt – entgegen unserer Erwartungen ob der Warnung des Reiseführers – durchaus zivil aus.

 

Da hält plötzlich ein dunkler SUV mit Bremer Kennzeichen an der Straße, eine mittelalte blonde Frau entsteigt ihm. Ich glaube, das ist seit Tagen unsere erste Deutsche auf Chios, und dann noch mit eigenem Auto unterwegs. Wir kommen ins Gespräch, natürlich. Sie wohnt in Karfas und macht von dort aus Tagesausflüge, ist oft in Griechenland unterwegs, will noch auf die Peloponnes wo sie Bekannte treffen möchte. Wir warnen sie vor der Ortsdurchfahrung von Mesta – mit so einem breiten (und dazu noch neuen) Auto muss man sich dort festsetzen. Das ist ihr auch schon passiert, aber ein hilfsbereiter Grieche hat ihr aus der Klemme (im wahrsten Wortsinne) geholfen.

 

Ein Mann mit seinem brennholztragenden Esel geht vorbei, nur wenige Meter weiter unten lädt er die zukünftig wärmende, aber magere Ausbeute ab – weit wird das nicht reichen. Das Kreischen von Motorsägen zerreißt die Mittagsstille.

Weiter im Osten wird die Landschaft dann karg, die Bäume verschwinden. Steile Sträßchen führen hinab zur Küste, nach Agiasmata, wo es Thermalquellen geben soll. Vom Schiff aus haben wir die Gegend gesehen, muss aber alles ziemlich verlassen und vernachlässigt sein. Wir bleiben oben, auch die spätere Abzweigung nach Spartounda, das am Pelineo liegt, ignorieren wir.

Ab Afrodisia ragt die mächtige Bergkette des Pelineo vor uns auf, davor ein baumlose Hügellandschaft, einst vermutlich terrassiert, heute erodiert. Weiße Dörfer bilden Kleckse darin, eine Reihe Windräder sorgt für Energie. Chios bietet wirklich unheimlich viele verschiedene Landschaften, und manchmal in sehr schnellem Wechsel.

Gegen halb vier sind wir wieder in Volissos. Ich möchte noch unsere Fährverbindung für morgen checken und gehe deshalb in das Café beim Dorfplatz, wo auch das archäologische Museum ist (für dessen Besuch uns morgen Vormittag Zeit bliebe – so es überhaupt geöffnet ist um diese Jahreszeit). Dort ist Wifi ausgeschildert, und einen wärmenden Nescafé kann ich auch brauchen. Mit der Fähre geht alles glatt, und auch für unseren Aegean Airlines-Flug am Dienstag ist alles im grünen Bereich.

 

Anschließend gehe ich nochmals zur Burg hinauf um dieses schöne Panorama zu genießen. Einfach ein toller Ort!

Bevor wir am Abend essen gehen wollen, müssen wir noch unser Zimmer bezahlen. Sevasmia hat uns gezeigt wo sie wohnt, und wir läuten vorsichtig. Die Familie sitzt vor dem Fernseher, wir werden in den benachbarten Saloni gebeten, klassisch mit zahlreichen Familienfotos ausgestattet. Wir bekommen von dem lokalen Süßwein angeboten, aus Kourounia, erkennbar an dem „K“ auf dem Tetrapak. Dazu Marmorkuchen, den wir mit dem Verweis darauf, gleich essen gehen zu wollen, ablehnen möchten und schließlich eingepackt mitbekommen (über Nacht auf unserer Spüle zwischengelagert wird sich eine Myriade von kleinen Ameisen darüber hermachen – diese Frühstücksfreude muss ausfallen, da bleibt nur der Mülleimer).

Auch von Sevasmia bekommen wir – ungefragt – eine Quittung über unsere drei Nächte im „Castle’s Key“. Es hat uns sehr gut gefallen dort, und das Studio war mit dreißig Euro die Nacht noch dazu sehr preiswert.

 

Für das Abendessen kriegt die „Fabrika“ heute eine zweite Chance. Von einer größeren Gesellschaft am Mittag ist noch Kontosoufli (Spießbraten) übrig, das nehmen wir als Hauptgericht (die Portion würde für zwei reichen, sagt Dimitris, und wird recht behalten), und Kartoffelbällchen und Bourekakia vorab. Die Vorspeisen werden wir nachher bereuen – nicht weil sie nicht geschmeckt hätten – im Gegenteil! Aber der Braten mit den Kartoffeln ist so eine riesige Portion, dass wir schließlich noch einen Teil des Fleisches einpacken weil es eine Schande wäre, ihn wegzuwerfen. 28 Euro beträgt die Rechnung schließlich, und der Souma geht natürlich aufs Haus. Heute ist es nicht so voll wie vorgestern, und so kann ich Dimitri noch Grüße von Theo ausrichten – er erinnert sich sofort.

 

Zum Abschied gibt es Küsschen und einen Basilikumzweig von Sofia, und wir sind jetzt mit der „Fabrika“ wieder vollends versöhnt.

Mal sehen wo wir morgen Abend speisen. Vermutlich in Chios-Stadt.