Es ist wirklich windiger geworden, aber die Sonne scheint. Aber egal, ich werde heute mit dem Fahrrad unterwegs sein. Schließlich ist das heute mein letzter Milos-Tag. Wenn der Streik nicht in die Verlängerung geht. Im Reisebüro kann man diesbezüglich noch keine Auskunft geben. Abwarten.
Um zehn Uhr, nach dem Frühstück, das ich heute im Hotel einnehme, radel ich los. Es geht in den Süden, der Geo-Walk Nummer 2, "Vulcano" steht auf dem Programm. Danach vielleicht noch zum Baden nach Paleochori oder so. Mal sehen.
Mit Rückenwind geht es entlang des Binnenmeeres bis zum Flughafen. Heute, am vierten Tag des Fährenstreiks, sind alle Flüge längst ausgebucht. Aber jetzt, gegen viertel elf Uhr, ist nichts los. Erst am Nachmittag wieder.
Der Geowalk 2 ist ein 13 Kilometer langer Rundkurs, und verläuft auf breiten sandigen Pisten in wenig hügeligem Terrain. Ich werde ihn mit dem Rad absolvieren, das ich wegen des tiefen Sandes aber häufig schieben muss. Von der Hauptstraße (eigentlich beginnt der Weg an der Saline von Alykes) biege ich nach dem Flughafen links in einen Feldweg ein, der mit ein paar Knicken nach Süden verläuft.
Wieder bin ich überrascht über die fruchtbare und abwechslungsreiche Landschaft. Getreide, Wacholder, Wildblumen - es gibt hier offenbar keinen wilden Ziegen, die alles unkontrolliert abfressen. Nur eingezäunte oder vom Hirten betreute Hornviecher. Das tut der Natur gut.
Das Gelände, durch das ich heute fahren, liegt im Inneren des erloschenen Firiplaka-Kraters, der einen Durchmesser von gut zwei Kilometern hat. Die Ränder, 150 bis 220 Meter hoch, bilden eine flache Schüssel, der südwestliche Rand heißt Tsigrados, der östliche Trochopes. Und außerhalb, südlich des Randes, liegt Kap Kalamos mit Fumarolen und toller Aussicht, mein heutiges Ziel.
Die Kapelle von Agios Athanasios biete sich für eine erste kurze Pause an. Wie alle Kapellen hier ist sie neueren Datums und privat, eine griechische Flagge weht im Wind. Kurz danach ein Bauernhof mit Ziegen.
Der Weg wendet sich nach Osten und klettert in einem Hohlweg auf eine weite Ebene mit Getreide und riesigen Walcholderbäumen. Der Horizont wird nun begrenzt von den steilen, aber nicht sehr hohen Kraterrändern. Thymian blüht mit dornigem Wundklee (leicht für Ginster zu halten) um die Wette, Schopflavendel gibt e auch, und über die weite Ebene wird nach Norden das Binnenmeer mit dem Kap Vani und der Burgberg von Plaka frei. Diese undramatische, aber fast schon idyllisch-karge Landschaft gefällt mir sehr.
Als nächstes treffe ich auf eine sandig-weiße Fläche mit großen Pfützen Regenwassers darin. Ob es sich um eine Art Dolinen handelt, oder um künstliche Viehtränken? Violette Eselsdisteln säumen sie.
Nun geht es richtig rein in den Krater, eine weite Getreidesteppe. Als von Norden her eine Piste im spitzen Winkel auf meine trifft, stelle ich das Fahrrad ab - das letzte Wegstück ist sehr felsig und steiler, und ich muss hier wieder zurück. Folglich gehe ich zu Fuß. Büschel mit Kahngras recken ihre Schöpfe in die Höhe - das Vieh frisst sie nicht.
Die Piste führt nun bergan und über den Kraterrand hinaus. Links verläuft ein wildes und vermülltes Erosionstal hinab Richtung Agia-Kyriaki-Strand. Eine violette Wiese mit Disteln wächst über die Reste eines ehemaligen Kaolin-Abbaus. Und es stinkt nach Schwefel.
Rechts führt die Piste hinauf auf den Kalamos mit OTE-Masten. Links zeigt ein Wegweiser Richtung einem Hügel mit rötlich-schwarze Felsenzacken: "Fumaroles". Natürlich gehe ich zuerst dorthin, wo aus zerklüfteten Felsen feine Rauchfahnen in den Himmel steigen. Der Boden ist mit einer weißen und gelbe Kruste überzogen, und ein paar hellgrüne Pflanzen scheinen sich in diesem Klima auch wohl zu fühlen. Auch wenn das nicht so beindruckend ist wie beispielsweise auf Nisyros, macht es doch deutlich, dass Milos vulkanisch noch aktiv ist. Ich halte respektvollen Abstand.
Als es mir zu sehr stinkt, gehe ich auf der anderen Piste zum Gipfel Kalamos mit den beiden Masten, und ungefähr 160 Meter hoch. Ein Gipfelchen eher, also.
Das scheint hier auch eine Wetterstation zu sein. Die misst gerade starken Wind, der den Aufenthalt recht ungemütlich macht. Zumal es keine Sitzmöglichkeit gibt.
Aber die Aussicht ist toll. Nach Norden über die Insel mit dem Flughafen und Adamas bis Plaka. Nach Osten zum Strand von Agia Kyriaki, und nach Westen zu den weißem Hängen des Tsigrados. Das Meer wäre nahe, aber auf der Karte ist kein Fußweg hinab eingezeichnet. Wäre auch blöd, weil mein Rad ja noch unweit von hier steht.
Zu diesem kehre ich zurück nachdem ich die windige Aussicht ausreichend genossen habe. Auf der östliche Piste geht es wieder nach Norden. Ich muss das Rad fast nur schieben weil der Sand tief auf der Piste steht. Trotzdem war es eine gute Idee, das mit dem Fahrrad zu machen.
Die Landschaft strotzt vor Wildblumen in allen Farben. Und diese knorrigen Wacholderbäume!
Zwei Kapellen stehen am Wegrand, sind aber geschlossen. An der Startbahn des Flughafens biege ich nach rechts ab, bewundere die Entfremdung eines riesigen Winnie Puuh als Vogelscheuche auf einem mit schmalen Grünreihen gemusterten Acker und steuere abseits des Rundkurses nach Zefiria. Es ist ein Uhr, und ich hätte Hunger.
Trotz massiven Handwerkereinsatzes ist die Taverne "Petrino" an der Straße nach Paleochori geöffnet. Als Tagesessen werden unter anderem Lachanodolmades offeriert, und da kann ich natürlich nicht wiederstehen. Die Portion ist eher überschaubar, aber sehr köstlich, und mit Brot dazu werde ich satt. Ein Viertel Weißwein dazu, und der Tag ist mein Freund.
Milos ist schön.
Soll ich nun noch zum Baden nach Paleochori radeln? Hin wäre kein Problem, aber zurück bläst der starke Gegenwind. Nein, ich werde den Nachmittag gemütlich in Adamas verbringen, und am Abend mit dem Bus nach Plaka oder Tripiti fahren, für den Sonnenuntergang.
Und so mache ich es dann auch. Ich setze mich noch etwas an den am Binnenmeer gelegenen Strand von Papikinou, zum Baden habe ich aber wegen des Windes keine Lust.
In Adamas erfahre ich bei "Milos Travel", dass der Streik um Mitternacht tatsächlich beendet wird. Der Fahrplan ist entsprechend durcheinander, um Mitternacht werden zig Fähren in Piräus aufbrechen, die "Prevelis" werde ich morgens um halb sechs Uhr hupen hören.
Ich entscheide mich für den "Speedrunner III", der am Samstag um zwölf Uhr nach Sifnos fahren soll. Heute Abend soll noch der "Seajet" gehen - zum Glück muss ich mit dem nicht fahren, denn bei dem Wind dürfte das eine Achterbahn werden.
Weil ich mein Zimmer auf Sifnos, in Ano Petali, erst ab Montag gebucht haben, und mich außerdem sowieso auch noch gerne in Kamares aufhalten möchte, buche ich für zwei Nächte dort bei "Froudi" ein Zimmer mit Aussicht. Theo wird, von Kythnos kommend, auch am Samstagabend eintreffen und ebenfalls in Kamares wohnen. So haben wir dort etwas Zeit zusammen. Ich freue mich.
Um 18.30 Uhr fährt der letzte Bus des Tages hinauf nach Plaka und Tripiti. Kurzentschlossen fahre ich nicht bis Plaka, sondern bis Tripiti, um von dort aus der schönen Fischersiedung Klima einen Besuch abzustatten. Ohne wäre ein Milos-Aufenthalt irgendwie unvollständig. Vorbei am antiken Theater wandere ich auf einem zugewachsenen schmalen Weg hinab zum Meer, und ärgere mich, dass ich meine Wanderschuhe nicht an hab. Die könnte ich auch vorne an der Wasserlinie in Klima brauchen, wo das Meer immer wieder über den schmalen, von Seegras gepolsterten Uferrand schlägt.
Klima also. Der Ort scheint mir etwas aus seinem malerischen Dornröschenschlaf gerissen. Ein gepflegter Parkplatz hinter der Häuserreihe, eine große Taverne namens "Astakas" daneben. Und einige der Syrmata, der schmalen Häuschen mit der Bootsgarage unten, kann man als Feriendomizil mieten. Keine ganz preiswerte Sache, aber für einen besonderen Aufenthalt wäre es mir das schon mal wert.
Jetzt aber fliehe ich vor der touristischen Erschließung an die Uferfront. Hier lassen die baulichen Gegebenheiten wenig Spielraum zur Expansion, und das ist auch gut so. Dafür treibt man es bunt - das Klischee der bunten Türen und Fenster wird durch immer knalligere Farben auf die Spitze getrieben. Trotzdem ist es wunderschön.
Ich hatte die Häuserreihe nicht so breit in Erinnerung und kämpfe mich über Seegrasteppiche und glitschig-nasse Felsen nach Osten vorwärts.
Vor einem Syrma entspannt ein Paar in Liegestühlen - sicher Urlauber, die hier eines der Häuschen gemietet haben. Anderswo sitzen drei Einheimische beim Schwätzchen, und ganz im Osten sorgt ein Mann mit seiner Schleifmaschine geräuschvoll dafür, dass das Idyll nicht zu groß wird. Er präpariert Türen und Fenster für den neuen Anstrich in Dunkelrot.
Ein Mann kommt mit seinem Moped über den schmalen Küstenstreifen vor der Häuserfront gefahren, sehnsüchtig erwartet von einem halben Dutzend Katzen und einer Ente. Es gibt Abendessen!
Die Sonne taucht die Szenerie in ein mildes Abendlicht, das mich in einen Fotorausch treibt.
Ist das schön hier!!
Voller Genuss setze ich mich auf eine der Bänke am breiten südlichen Anleger und verfolge, wie die Sonne sich dem Horizont nähert. Noch schwebt sie über Antimilos - wird sie dahinter untergehen, oder es rechts davon ins Meer schaffen? Wie eine glühende Krone setzt sie auf der Spitze auf, und rollt dann ganz langsam den rechten Rand hinunter.
Ganz schafft sie den Wettlauf mit der Insel nicht, mit einem glühenden Heiligenschein verschwindet sie nach zwei Dritteln des Hanges.
Die Berge des Binnenmeeres bilden nur noch schwarze Schatten vor gelblichem Licht. Das Meer leuchtet. Fast halte ich die Luft an vor so viel Schönheit. Und wie mir geht es den anderen Menschen, die hier verweilen, alle blicken sie nach Westen, ehrfurchtsvoll. Nur die Schleifmaschine knattert noch.
Diese Momente, diese Orte sind es, die die Ägäis für mich so unentbehrlich macht.
Ich muss mich losreißen bevor es zu dunkel wird.
Eigentlich wollte ich in der Taverne "Panorama" zu Abend essen, aber diese ist geschlossen. So wandere ich auf der Straße in dem weiten Bogen nach Tripiti hinauf und kehre dort im "Glaronissia" ein. Eine große Taverne, gut besucht von Einheimischen. Am Nachtisch klärt ein junges Paar ein Festmenü, offenbar für die Hochzeit.
Ich bestelle Fischsuppe, sie wird in einem Töpfchen serviert und schmeckt vorzüglich. Eine SMS geht nach Kythnos an Theo, der sich gerade über die Qualität der dort dargebotenen Kartoffeln beschwert hat (Kartoffeln als Beilage und Theo - das ist ein Geschichte mit wenig Gegenliebe).
Du hast einfach auf der falschen Insel angefangen, Theo. Milos wäre besser gewesen.
Mit dem telefonisch bestellten Taxi fahre ich für zehn Euro hinab nach Adamas.
Die letzte Nacht auf Milos. Wehmut trotz der unfreiwilligen und ungeplanten Verlängerung. Aber auch Vorfreude auf Sifnos.
Den Samstagvormittag verbringe ich mit einem letzten Einkaufsbummel nachdem ich mein Fahrrad zurückgegeben und gefrühstückt habe. Der Trolley ist gepackt. Schon lange vor zwölf Uhr habe ich mich von Eleni, meiner Wirtin, verabschiedet und bin zum Fähranleger gegangen. Es herrscht Hochbetrieb, die halbe Insel scheint abzureisen. Vorhin bildete sich eine lange Schlange Reisewilliger vor dem "Seajet" nach Folegandros und Santorin - zum Glück ist es fast windstill heute und sie werden eine ruhige Überfahrt haben.
Pünktlich biegt der "Speedrunner III" um die Ecke und legt an. Unter den Passagieren, die von Bord gehen, ist Jörg. Die Zeit reicht nur für einen ganz schnellen Austausch: "Wie war Sifnos?" - "Toll zum Wandern. Und Milos?" - "Genial!" - "Ich hab nur noch einen Tag hier ehe es heimgeht."
Zum Glück habe ich noch eine ganze Woche für Sifnos.
Kykladen machen glücklich. Zumindest die richtigen.
Bye-bye Milos. Ich komme bestimmt wieder! Und dann paddel ich im Einer. Versprochen!