Es hat geregnet in der Nacht, die sowieso schon schlüpfrigen Gassen sind vollends rutschig. Was sich nach ein paar Stunden geben wird, wenn der Schmutzfilm abgespült ist. Und der Himmel ist schon wieder blau.
Für mittags um drei Uhr ist auf Plakaten die „Trata“ auf der Platia angekündigt, eine Art Umzug mit einem Fischerboot. Es muss sich um eine Gaudi vergleichsweise neueren Datums handeln, nirgendwo konnte ich vorab etwas darüber erfahren.
Schon ab dem späten Vormittag tummeln sich wieder vereinzelte Jeri in den Gassen. Ich beobachte ein Paar – Jeros und Korella. Hinter dieser Korella steckt eindeutig ein Mann. Sie bzw. er singt eine Art Mantinade, ein langes klagendes Lied. Vielleicht über die traurige Geschichte des Hirten, dessen Ziegen erfroren? In den Pausen zwischen den einzelnen Strophen springtanzt der Jeros in diesem ganz speziellen Schritt. Eine Frau bringt den beiden ein Glas Wein, die Masken werden kurz gelüftet, ein Schluck davon auf den Boden gespuckt, der Rest geht die Kehle hinunter. Dann wird weiter gesungen und getanzt.
Die Läden sind heute alle geöffnet. In der Mitte der Marktgasse hat es einen kleinen Laden, der das notwendige Zubehör für Jeri verkauft: neben Besen, Eimern, Töpfen, Laternen und blechernen Weinkrügen hat er wunderschöne handschmeichelnde Hirtenstäbe und Glocken in allen Größen. Die Glocken sind nicht billig: kleine (zum Üben, aber eines echte Geros natürlich unwürdig) kosten ab 15 Euro, die richtig großen 60, 70 Euro! Da kommt ordentlich was zusammen für einen Glockengürtel…. Ein Ziegenfell für eine Maske hängt auch da. Ich beschränke mich auf eine kleinere Glocke als Souvenir, beim Hirtenstab bekomme ich im Flugzeug womöglich Probleme. Auch die kleinen verzierten Holzstuhl-Miniaturen bei einem Holzschnitzer sind ein schönes Mitbringsel. Die Originale dazu überschreiten übrigens auch nicht die Größe eines Kinderstuhles. Skyrostypisch.
An der Platia werden Loukoumades ausgeteilt, mit dem guten Honig von Skyros (der Honig von Skyros ist bekanntermaßen der beste in der ganzen Ägäis…). Eine lange Schlange hat sich gebildet, die Produktion kommt nicht nach.
Überall rennen und hüpfen jetzt Mini-Jeri und Mini-Korelles herum, andere Jungs, die kein Kostüm haben, üben dann wenigstens mit einem Hirtenstab die Sprünge und den typischen Tanz. Und ein paar große Jeri sind auch schon da.
Das Wetter ist durchwachsen, es hat kaum mehr als 10, 11°C. Ich bereue es zum ersten Mal, keine Handschuhe mitgenommen zu haben, mit klammen Fingern lässt sich nur schwer fotografieren.
Die Cafés an der Platia füllen sich, wir finden noch einen Platz auf dem Balkon des „Nostos“, kuschelig unter einem Heizpilz, windgeschützt hinter einem durchsichtigen Plastikrollo. Es dauert endlos bis die bestellten Heißgetränke kommen (ein Glas Wasser steht aber postwendend auf dem Tisch – vermutlich die Markierung für den gestressten Kellner dass hier etwas bestellt wurde), aber wir haben ja Zeit, denn wir bleiben einfach bis zum Beginn der Trata – von hier aus haben wir einen guten Blick auf den Platz.
Kurz vor drei Uhr wickelt der Wirt die Plastikrollos hinauf, nun haben wir freien Aussicht auf die Platia. Und links, die Hauptgasse herauf, kommt schon ein merkwürdiger Umzug: ein Segelschiff mit gesetzten Segeln, umgeben von Männern mit schwarzen Gesichtern im Piratenlook. Der Sinn eines geparkten VW-Busses wird uns nun klar – dieser hat dafür gesorgt, dass die Zufahrt zu Platia frei bleibt, aber jetzt muss er natürlich erst mal weg. Nicht ganz einfach auf dem knallvollen Platz. Sogar auf dem Dach der Kapelle sitzen die Menschen, und auf allen Balkonen und Dächern.
„I Trata mas i kurelu“ schallt in Discolautstärke aus den Lautsprechern. Das auf einem Anhänger befindliche Boot wird von der Meute der Maskierten (einer trägt einen überdimensionierte USB-Stick) auf die Platia geschoben und in einem abgesperrten Bereich abgestellt. Bei der folgenden, knapp halbstündigen Büttenrede (zum Glück ohne ta taa ta taa) wird das aktuelle Zeitgeschehen satirisch auf die Schippe genommen und kommentiert. Ich verstehe nur Bahnhof, und gelegentlich Namen wie Venizelos, Lagarde, Troika und Merkel (Videos davon gibt es bei youtube, http://www.youtube.com/watch?v=5PdcIbmfv4c und http://www.youtube.com/watch?v=l0bAURvoFSY ). Das Publikum amüsiert sich aber bestens. Es fliegen auch Fische in die Gegend, aus einer Ecke kommt ein als Frau verkleideter Mann auf einem Esel geritten. Großes Gelächter.
Nach der Rede erklingt wieder laut Musik, auf den Platia tanzen die maskierten Piraten und auch die Zuschauer, der arme Esel (ein eher kleines Tier) trägt den Büttenredner, der nun Flöte spielt. Saufend und gestikulierend zieht die Meute in die Gassen der Altstadt davon, noch Stunden später werden wir versprengten Resten begegnen.
Ein kleines Filmteam (der Kameramann mit zotteliger Rastafrisur) dreht offensichtlich eine Doku über den Karneval hier, wir haben sie gestern schon gesehen, und jetzt wieder. Da werde ich mal die Augen offenhalten ob ich etwas davon erfahre wenn der Film fertig ist oder Ausschnitte bei youtube zu sehen sind.
Wir brauchen erst mal eine Pause und müssen uns aufwärmen – vom Fotografieren habe ich eiskalte Hände. Bei „Mitsos“ holen wir uns eine Pizza und ziehen uns in unser warmes Appartement zurück.
Später stürzen wir uns wieder ins Geschehen. Heute ist die Chora noch voller als gestern, und noch mehr Jeri sind unterwegs. Irgendwann sollen alle Jeri hinauf zum Agios Giorgos-Kloster laufen und dort die Glocken läuten (die des Klosters, nicht die eigenen). Aber das Kloster ist ja wegen Renovierung geschlossen, und die Angaben in den Büchern sind widersprüchlich wann das stattfindet (wenn sie es überhaupt schreiben – bei diversen Beschreibungen der Karnevalsbräuche in Reiseführern hat man nicht das Gefühl, dass der Autor jemals dabei war). Kurz und gut: wir verpassen das leider. Dennoch sind wir von Eindrücken übererfüllt.
Die Wettkämpfe der „alten Männer“ sind heute noch länger, noch lauter, noch intensiver. Ich bin froh, dass ich Ohrenstöpsel mitgenommen habe!
Die Tavernen sind voll, drinnen wie draußen, in denen an der Hauptgasse ist kaum ein Platz zu bekommen. Unterhalten kann man sich dort eh nicht.
Wir finden dann im „Konatsi“ südlich der Platia noch einen Tisch im Warmen, und können über das Essen (Hähnchen spezial, sehr lecker, und vom Grill, leider mit Pommes statt der versprochenen Ofenkartoffeln) nicht meckern. Alle Tavernen haben sich faschingsmäßig dekoriert, Luftschlangen, Masken. Luftballons. Laute Musik natürlich, aber hier geht es gerade noch.
Eine Neuerung fällt uns auf: an allen Theken hängt oder klebt irgendwo ein Hinweis, dass man nicht bezahlen muss wenn man keinen Beleg bekommt. Und tatsächlich habe ich selten so viele Quittungen bekommen. Wobei die schon manchmal mit dem Wechselgeld nicht mehr zurückkommen….
Wieder draußen ist die Hauptgasse wirklich knallvoll. Ein hartnäckiger kleiner Jeros muss aufpassen dass er nicht unter die Räder oder vielmehr Glockenmänner kommt. Er scheint alleine unterwegs, ohne aufpassende Eltern. Die Straße ist dicht mit Konfetti und Luftschlangen übersät, und mancher Geros muss morgen den Papierkram aus seinem Kostüm fitzeln.
Wir wollen heute länger aushalten als gestern, mindestens bis Mitternacht. Keine Ahnung ob der Spuk dann pünktlich verschwindet, oder ob die Glockenmänner in den Tavernen versacken, in die sie nun öfters eindringen. Wir bleiben draußen weil uns drinnen dicke Luft und brüllend laute Musik entgegenschlagen. Rauchverbot? Ach herrje – im Sommer wieder…. Erinnerungen kommen auf an früher, als man in D nach jedem Kneipen- oder Restaurantbesuch diesen üblen Gestank aus den Klamotten lüften musste. So herzlos, die Leute zum Rauchen nach draußen zu schicken, ist kein griechischer Wirt. Im Gegenteil: er raucht einfach mit. Im Warmen und Lauten. Griechenland wie wir es kennen und lieben.
Vor der Bar „Oinos“ finden wir ein geschütztes Plätzchen (drinnen ist es nicht auszuhalten) um einen Wein zu trinken. Die Bar ist offenbar etwas besseres (was erklärt, dass sie nicht so voll ist wie das Nachbarlokal), denn den Wein bekommt dort man nur glasweise, für vier Euro das Glas. Ok, ab morgen wird gefastet, gönnen wir uns das. Und das Glas ist gut eingeschenkt.
Vor uns laufen die Glockenmänner zur letzten Hochform auf. Wir erleben endlose Duelle, wobei der Wettbewerb gelegentlich dadurch verzerrt wird, dass manche Jeri erst nachträglich zu den Wettkämpfen stoßen. Interessant auch, die unterschiedlichen Techniken beim Hüftschwingen zu beobachten: kleine, kurze Bewegungen, stakkatoartig, oder weiter ausholende. Keiner siegte, keiner wich.
Mitternacht ist schon vorbei, wir bemerken ein leichtes Abflauen der Jerosdichte. Den einen oder anderen sehen wir in einer Bar, aber die Ruheplätze in den Seitengassen sind leer.
Die lärmgewohnten Zuschauer, zu 99 Prozent Griechen, haben sich in Innere der Lokale zurückgezogen. Die ersten tragen Tüten mit großen sesambestreuten Fladenbroten, der sogenannten „Lagana“. In der Bäckerei unterhalb unseres Appartements kaufen wir auch so ein flaches Riesenbrot für drei Euro – da werden wir noch die ganze Woche dran essen. Nicht zu vergleichen übrigens mit dem was wir an Fladenbroten von türkischen Dönerständen kennen: die Lagana ist fester, schwerer und knuspriger. Und schmeckt lecker, wie wir unmittelbar nach dem Kauf überprüfen.
Dann fallen wir ins Bett. Karneval ist vorbei.