Von Ioulida zur Küste

Theo hatte auf dem schmalen und kurzen Sofa im Erdgeschoss eine schlechte Nacht und beschließt, doch lieber einmal am Tag die steile Treppe ins Obergeschoss in Kauf zu nehmen als unten schlaflos zu bleiben. Was ich nur unterstützen kann - ein schlecht gelaunter Reisepartner ist ein schlechter Reisepartner. Dafür hat sich Theo schon fürs Frühstück ins Zeug gelegt, Katzen vertrieben und Obst geschnippelt. Beim Bäcker am Hafen bekomme ich ein ausgezeichnetes dunkles Brot und wir genießen die erste Mahlzeit des Tages in unserer schattigen Loggia. Der bewölkte Himmel von gestern ist einem blauen gewichen, die Sonne strahlt und leichter Wind sorgt für Erfrischung. Ein perfekter Tag!

 

Ein Taxi steht am Taxistand parat und bringt uns in wenigen Minuten und für acht Euro auf kurvenreicher Straße hinauf auf einen Platz vor dem Eingangstor von Ioulida. Ab hier geht es nur noch für Fußgänger weiter. Und wagemutige motorisierte und wendige Lieferdienste, und auch das nur noch wenige Meter, denn Ioulida erstreckt sich über 120 Höhenmeter.

Hinter dem Tor mit ein paar hübschen integrierten Lädchen warte ein erster malerischer Platz mit Taverne, Bäcker und Café. Eine gepflasterte Straße mit zwei, drei Boutiquen führt vorbei am archäologischen Museum 150 Meter hinauf zum nächsten Platz am neoklassizistischen (alten) Rathaus, das 1902 von dem deutsch-griechischen Architekten Ernst Ziller entworfen wurde, der vorher schon in halb Griechenland seine Spuren hinterlassen hat, von Athen über Syros, Milos bis Kythnos (tatsächlich das zugewachsenen Badehaus in Loutra). Eine unvollständige Auflistung hier. Das Rathaus hier erinnert an das von Serifos, das aber von einem Ziller-Schüler gebaut wurde. Das neue Rathaus über dem Ort hat er auch gebaut, ursprünglich als Schule. Zwei rostrote Statuen, Hermes und Apollon, gucken, flankiert von zwei Sphingen, vom Rathausdach auf den schattigen Platz herab. Hinter ihnen wird in der Ferne der Umriss des Berges Ochi auf Evia sichtbar, und davor der nördliche Hügel von Ioulis mit der Kastro-Ruine.

Auch dieser Platz hier ist von Cafés und Tavernen gesäumt, und ein weiteres Tor markiert das Ende der befahrbaren Straße. Ab hier sind nur noch Treppen. Nach Süden hin steigt die Stadt steil bergwärts an, aber diese Quartiere lasse ich heute rechts liegen, folge dem Knick des Pflasterweges durch das Tor nach links und durch weitere Durchgänge und Pflastergassen, vorbei an gepflegten Gebäuden und verfallenden Ruinen. Mein Ziel ist immer wieder ausgeschildert, mal in krakeliger Schrift auf die Wänden gemalt, mal offiziell beschildert: to the lion, zum Löwen, zum Symboltier von Kea.

 

Theo hat vorher irgendwo einen anderen Abzweig linksgenommen und sich damit ein paar zusätzliche Stufen eingehandelt. Bei der großen beigen Kirche des heiligen Spyridon und der geschlossenen Taverne "To Steki" sehe ich ihn wieder und warte. Die Kirchen auf Kea sind weniger gastfreundlich als die auf Kythnos und meist geschlossen. So auch diese hier, man kann nicht mal die Terrasse davor betreten, von der sich ein Blick ins Löwental erhaschen lassen würde. Jenseits der beiden Plätze und der "Einkaufsmeile" zeigt sich Ioulida eher abwehrend und verschlossen.

 

Ein weiter Schlenker führt nun entlang des Tales zum Löwen, den man von hier aus schon liegen sehen kann. Aber zuerst erweckt ein "outdoor art space" mein Interesse: ein kleiner ummauerte Bereich mit Kopien von karikaturähnlichen Bildern. Sie sind von dem Künstler Delapitsas oder Dellapizza, genannt "Del (Ntel)", der in Ioulida lebt und sich 16 Jahre lange als müllsammelnder und gestaltender Gemeindearbeiter verdient machte (er hat auch den Platz am Rathaus mit einem großen Schachspiel verziert) bis er 2012 in Ungnade fiel und entlassen wurde.

Die Bilder sind denn auch bissig und mit reichlich Lokalkolorit und Selbstdarstellungen des bärtigen und zotteligen Künstlers versehen, ihre tiefere Bedeutung bliebt mir mangel Griechisch- und Ortskenntnissen aber verschlossen.

Auch der Friedhof ist einen Abstecher wert. Immer wieder staune ich darüber, wie unterschiedlich diese von Insel zu Insel sind. Hier ähnelt er Ioulida: auf steilen Terrassen übereinander, mehrstöckige Gräber. Ein Taubenhaus überragt das Ganze wie ein Wachturm.

 

Noch etwas weiter hat man einen wunderbaren Panoramablick auf Ioulida. Und das Tal ist hier unglaublich grün, ein moosüberwachsener Brunnen liegt an besonders schattiger Stelle, ein Esel weidet auf einer Terrasse unter dem Weg. Und dann ist da auch der lächelnde Löwe, dessen Konterfei sich nun deutlich aus dem buckeligen Granit abzeichnet.

Vom Pflasterweg jenseits der Tales führe einige steile Felsenstufen hinab zu der sechs Meter langen Skulptur, die auf einem gemauerten Sockel kauert. Sie stammt aus dem 6. Jahrhundert vor Christus, also der archaischen Periode, und hat - genau: ein archaisches Lächeln im Gesicht. Ich finde sie einfach ganz wunderbar. Allerdings scheitere ich an dem Versuch, mit Selbstauslöser ein akzeptables Foto von mir mit Löwe zu machen (solchen Selfie-Eitelkeiten unterliege ich selten, aber hier muss es sein, auch als Maßstab für die Größe des Löwen). Theo kann da nicht aushelfen, da die steilen Stufen hinab zu Katze für ihn ein unüberwindbares Hindernis darstellen. Aber er amüsiert sich von oben herab über meine lustig anzusehenden Versuche. Es sei ihm gegönnt.

Der Löwe ist der Beginn meiner Wanderung, die auf Wanderroute Nr. 1 nach Otzias führen soll. Es ist gerade Mittag vorbei, als ich losmarschiere und mich nochmals am Blick auf Ioulida laben kann ehe der Weg nach Osten abbiegt.

Die ersten zehn Minuten genieße ich einen breiten Pflasterweg, der bis zur Veniamin-Quelle führt. Ein gepflasterter Platz mit einer großen Platane in der Mitte wird auf der Südseite von einem breiten Brunnen mit einem Dutzend Rohren begrenzt. Ein schattig-grüner Platz, und wenn ich nicht gerade erst aufgebrochen wäre, ein toller Rastplatz. Die Zufahrt lässt darauf schließen, dass sich die Einheimischen hier auch gelegentlich Wasser holen, wenigstens für das Vieh.

Wenig später nehme ich an einer Weggabelung den linken Weg. Zwei Wegweiser zeigen die Richtung, rechts würde es auf Route Nr. 10 zur Bucht von Spathi oder zum Kloster Kastriani gehen. Vor 15 Jahren sind wir dorthin gewandert, aber damals gab es auch die Straße von Ioulida zum Kloster noch nicht. Offenbar wurde genau dieser Weg für die Straßenführung genutzt, womit die Wanderung entfällt - wer möchte schon gerne auf der Straße wandern - und man alternativ die Route nach Spathi anbietet, die mir aber nicht so recht zwingend erscheint, da man auf dem gleichen Weg zurück muss. Oder über das Kloster und Otzias, aber das wird lange.

 

Mein Weg bleibt größtenteils gepflastert und führt nun leicht bergab durch überraschend waldige Landschaft. Am Wegrand erblicke ich blasse Alpenveilchen. Herbstboten. Sie mögen den Schatten, den ihnen die Bäume hier bieten. Und die Bäume, das sehe ich jetzt, sind Walloneneichen (auch Valonea-Eichen). Und da fällt mir jetzt jede Menge dazu ein. Ein Wiederaufforstungsprojekt im Jahr 2014 auf Amorgos zum Beispiel (ob es das noch gibt? Zumindest ist die Website treesforgreece.org ist offline), und Orloff, dessen Steckenpferd die Walloneneichen sind. Auf Naxos gibt welche bei Apiranthos und in der Tragea.

 

Und da war doch vor einigen Jahren dieser Artikel von Marianthi Milona über Kea in der Griechenland Zeitung. Denn tatsächlich scheint Kea DIE Walloneneichen-Insel zu sein, denn sie machen (oder machten) einen Großteil der landwirtschaftlichen Produktion aus.

Früher nutze man alle Teile der Eiche: die breit-stachligen und tanninhaltigen Hütchen der Früchte zum Gerben, das Holz an Brennmaterial, die Früchte als Viehfutter oder gemahlen als Nahrung für die Einwohner. Aber letzteres eigentlich nur in Notzeiten und unter Scham. Als es zum Gerben Ersatzstoffe gab, brach in den 1960ern der Absatz ein, viele Menschen verloren ihren Erwerb und wanderten ab, die zahlreiche Bäume wurden vernachlässigt oder abgeholzt. Es blieben aber zum Glück reichlich Bäume übrig und seit einigen Jahren setzt sich eine lokale Initiative namens Oakmeal unter der Federführung der Amerikanerin Marcie Mayer wieder für die Walloneneichen und die Vermarktung der Früchte ein. Bis zu zehn Tonnen Eicheln ernten 40 Familien zusammen pro Jahr, verarbeiten sie zu Mehl und backen Kekse daraus. Die Nachfrage ist inzwischen größer als das Angebot, denn das Eichelmehl hat mehr Ballaststoffe und Protein als klassisches Mehl und ist glutenfrei. Also eigentlich so ein Art Superfood, wenn da nicht die Vorbehalte gegen das "Viehfutter" wären.

Marcie Mayer ist auf der Red Tractor Farm in Korissia ansässig, mal sehen ob ich ihr noch einen Besuch abstatte. Es gibt auch schöne Ferienstudios zu mieten, allerdings für den etwas dickeren Geldbeutel. Freiwillige können im Oktober und November gegen Kost und Logis bei der Ernte helfen.

Und nun stehe ich hier im Eichenwald. Der ist zwar keineswegs mit mitteleuropäischen Wäldern zu vergleichen, denn die Bäume sind niedrig und stehen auf viel Abstand. Vielleicht trifft es Hain besser. Das gefällt mir als Freundin maximal lichter Haine umso mehr. 2020 scheint ein gutes Eicheljahr zu sein (auch in Mitteleuropa): die Bäume sind voll der schönen Früchte.

 

Je weiter ich dem Talverlauf nach unten folge, desto spärlicher werden die Bäume. Der Weg ist über Jahrhunderte gewachsen, gelegentlich gepflastert und auch gepflegt. Eine Wohltat. Ebenso wie der Blick über das Tal hinaus auf die Ebene, die sich zwischen Otzias und Vourkari erstreckt und in der verstreut Häuser liegen. Dahinter das tiefblaue Meer mit der früheren Gefängnisinsel Makronissos und dem nahen Attika. Eine schöne Wanderung, die mich sehr für Kea einnimmt. Zu Fuß unterwegs zu sein, macht hier viel mehr Spaß als auf Kythnos. Wenn der Blick weiter nach rechts schweift, sehe ich jetzt die tiefe Bucht von Otzias und dahinter Süd-Euböa. Vor einem Jahr war ich dort und guckte auf das nahe liegende Kea hinüber. Ich mag es, wenn Kreise sich so schließen.

 

Nach eineinhalb Stunden erreiche ich beim Weiler Diaseli die Straße von Otzias nach Vourkari und Korissia. Hier steht ein Bushaltestelle, der noch ausgehängte Fahrplan galt von 25. Juli bis 6. September und verband Ioulida über Korissia mit Gialiskari, Vourkari und Otzias (donnerstags noch bis zum Kloster Kastriani), eine andere Route bediente Pisses und Kountouros ab Ioulida. Eigentlich nicht schlecht, aber jetzt, am 29. September, fährt kein Bus mehr.

Bis Korissia liegen noch drei bis vier Kilometer auf der Straße vor mir, und so spare ich mir den zusätzlichen Abstecher ins einen knappen Kilometer entfernte Otzias. Baden kann ich auch in Gialiskari.

 

Die geschützte und daher warme Ebene zwischen den beiden Buchten ist grün und landwirtschaftlich genutzt, es hat viele Mandelbäume. Auf den niedrigen Anhöhen dahinter stehen schmucke Wochenendhäuser, in inseltypischer Optik Weiß und Naturstein. Das mag jetzt weniger klassisches Kykladenflair verbreiten - Attika und Evia sind näher - sieht aber hübsch und diskret aus.

Kurz darauf überrascht mich ein Hof mit großem Kürbisverkauf. Schade, dass mir der Sinn nach anderem steht. Ein saftiger Galaktobureko wäre jetzt nach meinem Geschmack. Vielleicht in Vourkari?

 

So entlang der befestigten Straße zu trotten macht mäßig Spaß. Und so bin ich froh als ich gegen 14 Uhr die Bucht von Vourkari erreiche. Vor dem geschlossen wirkenden Restaurant "Strofi tou Mimi" fällen mich ein Rudel Gänse an, ich fliehe rechts entlang der Bucht Richtung Agia Irini. Auch die nackten Tische des "Ennea Korres/Neun Töchter" (Panagia mou!) locken nicht zur Einkehr.

 

Ich gucke über den Zaun der dienstäglich geschlossenen Ausgrabung von Agia Irini, erkunde dann die gleichnamige Kapelle (auch geschlossen) und gucke, ob man bei den Felsen dort gut und diskret textilfrei baden kann. Kann man nicht - einige Segelboote liegen davor und die Felsen sind auch nicht optimal zum Einstieg. Ich könnte jetzt noch bis zum Leuchtturm von Agios Nikolaos weitergehen, aber das wären nochmals drei bis vier Kilometer hin und zurück. Und ich möchte jetzt etwas Süßes. Also wende ich mich wieder zurück und wandere um die Bucht bis Vourkari. Ich hatte das als lebendige Marina-Siedlung in Erinnerung, aber als ich dort ankomme, liegt alles in mittäglichem Koma. Auch Segelboote sind nur wenige da. Immerhin ein paar Boutiquen haben zum Schlussverkauf geöffnet und offerieren Schmuck und sommerliche Klamotten. Und das Café Kokka ist geöffnet, aber nach Traditionellem frage ich vergeblich. Gut, dann eben ein Eis.

Und weiter zur nächsten Bucht, Gialiskari. Der kleine, aber gepflegte Sandstrand lädt mit Tamariskenschatten und blauer Flagge zum Baden ein, und diese Einladung kann ich nun nicht ausschlagen. Ein Dutzend Badegäste verteilt sich dort, der westliche Strandabschnitt mit Sonnenliegen und -schirmen, der östliche Natur. Wunderbar das Meer nach der Wanderung! Und immer noch angenehm warm. Definitiv ein Pluspunkt im Herbst.

Der Leuchtturm grüßt von jenseits der Bucht.

Nach Korissia ist es jetzt nur noch ein Katzensprung.

Schnell noch zur Agios-Georgios-Kapelle auf dem Felsen, von der aus sich halbrund die Hafenbucht von Korissia anschließt. Die "Macedon" macht ihre allerletzten Tour und schließt die Bucht unterhalb der Friedhofskapelle als roter Akzent ab. Und um 17 Uhr laufe ich wieder im Haus am Hafen ein, wohin auch Theo mit dem Taxi wieder gelangt ist.

Ich bin zufrieden mit Kea, der Welt und mir. Hat doch alles gepasst.

 

Noch zufriedener werde ich, als ich beim Hafenbummel entdeckt, dass der Autoverleih "Eos Rental" geöffnet hat und wir dort einen Hyundai i10 für zwei Tage und 50 Euro bekommen. Ich werde das Auto morgen um zehn Uhr abholen.

Passen tut am Abend auch das Essen im "Lagoudera". Tiropittakia, Bakaliaros mit Skordalia und die lokalen, würzigen Würste, eine Inselspezialität, landen auf unseren Tellern und schmecken gut.

Ob eine dieser Speisen schuld daran ist, dass ich in der Nacht mit heftigem Schwindel und Übelkeit erwache, oder ob es einen anderen Grund dafür gibt? Nachdem ich mich oral vom Nachtessen befreit habe, geht es mir auf alle Fälle wieder besser und am nächsten Morgen bin ich fit für die Erkundung von Kea mit dem Auto.