Karthea

Das sonnige und klare Wetter bleibt uns hold, und um zehn Uhr sind wir wieder auf der Straße. Wir wollen in den Süden, nehmen heute aber wohlweislich die Straße über Ioulis. Die Stadt thront als weiße Krone auf dem Berg wenn man sich ihr über die Serpentinenstraße von unten nähert. Wir bleiben aber westlich davon und fahren auf der Panoramastraße - kurzer Blick auf Korissia - südwärts. Nach einigen Kilometern - die verhängnisvolle Abzweigung in Sklavonikolas ignorieren wir - sehen wir rechts unten den Turm von Agia Marina liegen. Genauer: wir sehen das bombastischen Gerüst, das den Turm darin allenfalls noch erahnen lässt. Weil ich mir das dennoch von Nahem angucken möchte, folgen wir dem Wegweiser nach rechts auf gut befestigter Straße und stellen einen Kilometer später den Wagen im Tal bei dem Turm ab.

 

Vor 15 Jahren hatte man noch freien Blick auf das fragile 19 Meter hohe Gemäuer, das bei einem Erdbeben 1853 stark zerstört wurde, und auch später immer mal wieder Steine fallen ließ und darum mit Baustellenbändern abgesperrt und Warnhinweisen sowie einer Aufsehenerin versehen war.

Seither hat sich viel getan: Nicht nur ist der Turm komplett eingerüstet, auch die zahlreichen herumliegenden Bausteine wurden auf der Wiese dahinter sortiert. Das Gelände ist mit Mauern und Zäunen abgesperrt, auch die namensgebende Kapelle der heiligen Marina aus dem 19. Jahrhundert kann nicht betreten werden.

 

Ob man plant, den Turm mit den Steinen zu ergänzen, oder nur einfach den weiteren Verfall verhindern möchte - keine Ahnung. Das Gerüst könnte zum Dauerzustand werden wie beim hellenistischen Wachturm auf Naxos. Schade einerseits, andererseits hat Griechenland einfach zu viel Ruinen um sich um jede kümmern zu können.

74 solcher Türme sollen in der Antike auf Kea gestanden haben, zwei davon, die Türme von Panachra und Psaropyrgos stehen im weiteren Umkreis, sind aber weniger gut erhalten. Im Gegensatz zur vergleichbaren Türmen auf Sifnos oder Serifos haben die Türme hier einen rechteckigen Grundriss und keinen runden.

Wir fahren wieder hinauf zur Hauptstraße und weiter ohne Halt durch Pisses. Die Straße klettert dort über das Kap Makropounta und führt dann entlang der kahlen Küste durch eine verlassene touristische Neubauagglomerationen namens Koundouros ohne dass ein Ortskern oder irgendeine nachsaisonale Nutzung oder Belebung zu erkennen wäre. Ein Neubau vorne am Kap sieht aus wie ein gigantisches Parkhaus. Für mich ist hier mit Abstand die trostloseste Ecke Keas. Auch Theos Hoffnung, hier oder in der nächsten Siedlung Kambi ein geöffnetes Café oder eine Taverne zu entdecken, wird enttäuscht: wir sehen nichts dergleichen. Irgendwie bin ich darüber auch froh, so können wir dieses Elend zügig hinter uns lassen und hinter Kambi entlang eines Tales ins Inselinneren steigen, das allmählich wieder grüner und baumreicher wird.

Bei Moure - die Namen auf der Karte signalisieren Orte, aber es sind nur verstreute Höfe, die sich hier verlieren - könnten wir links nach Stavroudaki abkürzen, aber wir fahren eine weite Serpentine nach rechts aus, denn hier zweigt die Straße zum Leuchtturm am Kap Tamelos ab, und da wollte Theo ja gerne hin. Die Einfahrt ist zur sieben Kilometer langen Piste ist steil, schmal und löchrig, wir fahren zunächst vorbei. Bei näherem Augenschein nach dem Wenden überwiegen meine gestrigen Erfahrungen und ich verweigere mich dieser Piste. Theo trägt es mit Fassung. Er hat auch jetzt mindestens drei Stunden Zeit, der Piste zu Fuß zu folgen wenn er möchte, denn ich parke unser Mietauto bei Chavouna, um von hier aus solo nach Karthea abzusteigen.

 

Viele Weg führen hinab nach Karthea (auch Poles): ab Stavroudaki, ab Kato Meria und ab Agios Athanasios. In Chavouna beginnt der westlichste Abstieg. Der Wegweiser liegt umgefahren am Straßenrand, 45 Minuten soll gemäß ihm die Gehdauer zur Küste bei Karthea oder bei Kaliskia (eine Bucht weiter westlich) betragen. Frohgemut schnüre ich die Wanderschuhe, greife Rucksack und Wanderstock und folge dem gut erkennbaren Fußweg abwärts, der schnell vom breiten Pflasterweg zum Monopati mutiert. Zum steilen abfallenden Monopati. Wenig später zweigt rechts ein Pfad zur Quelle von Chavouna ab, ich lasse ihn aber rechts liegen (und werde später bedauern, hier nicht nochmals Wasser gefasst zu haben).

 

Die Naturstufen werden immer steiler und ausgewaschener, manchmal scheint hier auch ein Bach zu fließen. Bin ich froh, den Wanderstock dabei zu haben und damit meine Knie vor tiefen Stufen entlasten zu können. Ich passiere ein paar leere Ställe und verwildernde Terrassen voller Eichenbäume, dank der Quelle oben ist hier Wasser vorhanden, aber die Bewirtschaftung mühsam. Die Wärme des Tages sammelt sich auf den Terrassen bei der Taxiarchis-Kapelle. Die Blüten von Meerzwiebeln schwanken zart im Lufthauch.

Es gefällt mir hier, aber der Gedanke an den Rückweg lässt den Schweiß noch stärker fließen. Ich werde bergauf einen anderen Weg nehmen.

Nach vierzig Minuten Gehzeit habe ich eine Kuppe überwandert, bin aber immer noch weit oberhalb der Küste. Rechts geht es nach Kaliska ab, die blaue Bucht lockt. Ich halt mich aber links und sehe nur Minuten später die Buchten von Poles mit den antiken Ruinen auf der dazwischen liegenden Felsennase. Eine tolle Perspektive, den man vom anderen Weg aus nicht hätte.

Der Anblick der halbrunden Ränge eines Theaters überrascht mich: von vor 15 Jahren kann ich mich an dergleichen nicht erinnern. Ich wandere oberhalb des Tales vor Richtung Küste, sanft bergab nun, dann steiler, und erreiche nach zehn weiteren Minuten den Talgrund mit dem schattigen und engen Flusstal. Über Kiesel und Geröll sind es nur wenige Minuten bis ich eine weite, offene Fläche erreiche, die hinter dem Strand liegt. Hier hat man tatsächlich die Ränge eines gar nicht kleinen Theaters wiederaufgebaut, das sich an dem zurückgesetzten Hang schmiegt.

 

Etwa 55 Minuten habe ich ab der Straße gebraucht. Und registriere, dass man für den Rückweg telefonisch ein Eselstaxi organisieren könnte: darauf weist ein etwas zerschlissenes Schild hin. Verlockend. Wobei dummerweise genau die Telefonnummer des Eselstreibers nicht mehr leserlich ist, aber stand da nicht auch was im Reiseführer? Na, ich möchte lieber keinen Esel mit meinen Kilos strapazieren. das schaffe ich schon auch auf eigenen Beinen hinauf.

 

Auf einer Plattform über dem hellenistischen Theater glänzen würfelzuckerweiß die restaurierten Ruinen des Athene-Tempels. Und vor mir liegt verlockend die westliche Bucht von Poles, flankiert von der Kapelle Panagia ton Polo in keatypischer Natursteinoptik. Leider liegt draußen der Bucht auch eine große Motoryacht, und offenbar macht man sich dort gerade fertig zum Landgang. Als Reminiszenz an den letzte Karthea-Besuch hätte ich gerne textilfrei gebadet, allerdings war damals auch niemand außer uns da. In der östliche Poles-Bucht liegen noch zwei Segelboote vor Anker, oben am Tempel sind Menschen unterwegs. Da werde ich mir den jetzt angucken und das Bad auf später verschieben.

Der Aufgang zum Athene -Tempel ist mit ordentlichen Steinstufen und -pflaster versehen, alles sehr schön gemacht. Auf den Terrassen zwischen Theater und Tempel liegen sauber sortiert und ausgebreitet Bausteine. Ob man hier weiteren Aufbau plant? Ich bin beeindruckt.

 

Auf den letzten Stufen kommt mir dann die Seglercrew entgegen, Skandinavier. Nun sind keine Besucher mehr da und ich habe die Tempelterrasse für mich alleine. Auch hier staune ich über die Ergänzungen der Ruinen, man hat Karthea recht aufwendig aus dem Dornröschenschlaf geholt ohne dabei zu übertreiben. Das Ganze schien eine Art Parthenon en miniature, mit Propylaen vorne, einem Gebäude unbekannten Zweckes links und den Fundamenten des Athene-Tempels hahinter. Alles etwa um 530 vor Christus, wie ich einer Schautafel entnehmen kann. Und dabei etwas entscheidendes übersehe: dass es noch eine Tempelebene rechts des Felsens namens Koulas gibt, auf der die Reste des großen Apollon-Tempel zu sehen wären. Konjunktiv, denn irgendwie verpasse ich das. Nicht schlimm, hab ich schon einen Grund, wiederzukommen.

Aber noch bin ich beim Athene-Tempel mit einer Reihe Säulenstümpfen und einer einzigen kompletten dorischen Säule am westlichen Ende. Der Blick über das baumbestandene Tal, den östlichen Poles-Strand und die Bucht bis zum nahen Kythnos ist schon alleine die Wanderung wert. Ich würde mir gerne etwas mehr Zeit lassen, aber oben wartet ja Theo und ich hab eh schon ein schlechtes Gewissen, ihn da stundenlang in der Pampa ohne Restauration sitzen zu lassen. Auch wenn er gesagt hat, dass ich das nicht brauche. Ich schicke ihm eine SMS, nicht ahnend, dass er sein Handy im Quartier vergessen hat.

So, und jetzt wartet das Meer. Zumal mir nur die Yachtleute entgegenkommen, international zusammengesetzt englischsprechend. Ich suche mir ein Plätzchen auf der der Yacht entgegengesetzten Bucht am Felsen und schäle mich aus den verschwitzenden Klamotten. Stürze mich dann schnell in die wunderbaren Fluten. Herrlich, tut das gut.

 

Weniger angenehm die Rückkehr in die feucht-klebrigen Klamotten. Und die Vorstellung vom steilen Rückweg. Es ist jetzt halb zwei, ich sollte mich aufmachen. Vorher statte ich der Kapelle Panagia ton Polo noch einen Besuch ab. Sie ist offen und ich entzünde Kerzen aus Dankbarkeit und für den guten Rückweg. Dann noch ein schnelles Vesper auf der Kapellenmauer.

Um Viertel vor zwei beginne ich den Rückweg, nun auf der Route nach Stavroudaki (Nr. 6), die der Wegweiser mit einer Dauer von 1:10 angibt. Nach Chavouna (Nr. 7), wo ich hergekommen bin, wäre es nur eine Stunde. Trotzdem nehme ich die 6, muss dann aber auf der Straße noch gut einen Kilometer zum Auto zurück.

Der Weg führt über Kieselsteine zunächst im Bachbett und Schatten von Bäumen talrückwärts und nur sanft aufwärts, wird dann allmählich steiler. Wieder Veilchentupfen am Wegrand. Nach einer Viertelstunde liegt rechts des Weges in einem Schilfmeer die Quelle Vathipotamos, an der ich mich erfrische und mir Wasser über den Kopf gieße. Und die Wasserflasche auffülle. Denn jetzt wird es ernst: Der Weg führt nun auf zunehmend steiler werdenden Steinstufen aus dem Tal. Zum Glück gönnte der Hang dieser Talseite schon etwas Schatten, aber die Steilheit des Weges ist eine Herausforderung. Hatte ich gar nicht so in Erinnerung. Verdrängung? Ich hätte es doch in meinem Bericht von 2005 nachlesen können.

 

Nach einer weiteren halben Stunde endet der Fußweg an einer breiten Piste. Aber zu früh gefreut, denn auch auf dieser geht es in gnadenloser Steilheit eine Viertelstunde weiter aufwärts. Ich bin völlig durch und verfluche die unscheinbare, weil gut versteckte Steilheit von Kea. Um fünf vor drei Uhr bin ich dann endlich auf der Straße, die auf 300 Metern liegt. Eine Stunde zehn Minuten - die Vorgabe vom Wegweiser fast genau geschafft.

Nun noch auf der Straße entlang nach Chavouna. Der glatte Asphalt tut den strapazierten Füßen gut, aber die Kräfte sind geschwunden und ich schleppe mich vorwärts, neugierig betrachtet von schwarzbunten Kühen. Hier hält auch kein hilfsbereiter Autofahrer.

 

Um zehn nach drei schließt sich der Kreis am Auto. Theo hat sich nicht so sehr gelangweilt wie befürchtet und dem LKW-Verkehr zum Steinbruch Agios Theodoros an der Straße zum Kap Tamaleos betrachtet. Wir haben nun beide mächtig Hunger. Da müssen wir wohl bis Ioulis fahren um einen geöffneten Landgasthof zu finden.

Mit weit geöffnetem Fenster zwecks Abkühlung preschen wir Richtung Stadt und ich erinnere mich, dass es mir vor einem Jahr auf Evia ähnlich ging nach der Rückkehr vom Archampoli-Strand.

 

Die Fahrt auf der Höhe zieht sich doch ziemlich. Kurz vor Ioulis, auf der Höhe in dem Weiler Giristis, lockt links der Straße plötzlich ein Taverne namens "To Perasma Sto Giristi", und hurra!, sie hat geöffnet. Und wie! Der schnell herbeieilende Kellner offeriert uns Revithia und Katziki mit Pommes, beides von hervorragender Qualität, die sogar Theo ein Lächeln ins Gesicht zaubern kann. Er, der ewigkritische Kartoffelesser, hat hier seinen griechischen Meister gefunden. Erst später werden wir sehen, dass der Kea-Spezialist Matt Barrett dieses Lokal empfiehlt, dessen Koch früher in Athen am Hotel King George gekocht haben soll. Gut, dass er sich für einen Wechsel nach Kea entschieden hat. Und die Lage außerhalb jeden Ortes ist für Griechen ja kein Hinderungsgrund so lange es genug Parkmöglichkeiten gibt. Im Gegenteil.

Dazu kann ich mit Radler meinen Flüssigkeitshaushalt wieder auffüllen und fühle mich bald wieder regeneriert.

 

Wir werden über die Nordschleife nach Korissia weiterfahren und nicht über Ioulis.

So können wir der Kirche von Episkopi noch einen Besuch abstatten, die via à vis von Giristis am Ende eines mäßigen Feldweges liegt. Die weiße Kreuzkuppelkirche aus dem Jahr 1651 liegt inmitten der Mauern eines früheren byzantinischen Klosters, ein Turm ist ebenfalls noch erhalten. Die Kirche mit dekorativer blau-weißer Landesflagge davor ist verschlossen, vielleicht würde man den Schlüssel im angrenzenden Hof bekommen, aber wir wollen nicht stören und begnügen uns mit einigen Fotos von außen.

Die Strecke über die Höhen des Inselnordens kennen wir von gestern, aber in der Gegenrichtung und am späten Nachmittag ist die Fahrt auch schön. Der Berg Ochi auf Evia ist aber wieder entrückter als gestern, schon in leichten Dunst gehüllt, das Meer tiefer azur. Die klaren Tage sind vorbei, bald kommt wieder die diesige Luftströmung von Süden, die alles in Wärme und Dunst hüllen wird.

 

In Otzias hab ich große Lust zum Baden, und so gibt es einen letzten Zwischenstopp. So kurz vor 18 Uhr ist am Strand mehr los als am Vormittag. Es geht auch hier sehr flach ins Wasser. In der geschützten Bucht ankert ein halbes Dutzend Segelboote, nicht alle schätzen oder benötigen die Infrastruktur eines Anlegers wie in Vourkari oder Korissia.

Gegen halb sieben sind wir zurück im Hafenort. Wir tanken dort für 14 Euro, sind 130 Kilometer gefahren. Doch immerhin. Das Auto gebe ich aber erst morgen Vormittag zurück, wir könnten heute zum Abendessen nach Vourkari fahren, aber Theo springt auf meine entsprechenden Vorschlag nicht an. Gut, dann eben wir hier, ins "Lagoudera". Mit Dakos kann ich da magentechnisch nicht viel falsch machen, dazu Tsatsiki, und Theo nimmt Zucchiniküchlein, die aber nicht so gut beim ihm ankommen. Tja, da hat sich die Küche des "Lagoudera" aber schnell verschlissen.

 

Der Vollmond geht in wunderbarer Pracht über Vourkari auf und taucht die Bucht in silbernes Licht.

Ein schöner Abschluss eines guten Tages. Morgen ist dann schon mein letzter ganzer Kea-Tag.

Die Zeit vergeht so schnell.