Schluchten und Wege, Teil 2

So sind wir am nächsten Vormittag bei bestem Wetter unten an der Uferpromenade bei Pantelis, fragen nach dem Taxi. Ein Bus wäre uns lieber, der fährt aber nur einmal am Tag von Chora Sfakion nach Anopolis, und das ist am Nachmittag, nach 15.30 Uhr (14 Uhr Abfahrt in Chania) – zu spät! Inzwischen habe ich nach Studium des Wander- und des Reiseführers unsere Pläne dahingehend erweitert, dass wir bis Aradena fahren möchten.

Das Taxi würde in 20 Minuten kommen, wir sollen vorne an der Platia warten. Was es nach Aradena kostet, frage ich dann? Der Fohrer-Reiseführer, 17. Ausgabe 2007, gibt ca. 16 Euro an, reichlich für die paar Kilometer auf der inzwischen sehr gut ausgebauten Straße. Deshalb bleibt mir kurz die Luft weg als die Antwort „25 Euro“ lautet! Das kann man schon als Wucher bezeichnen, in Deutschland würde ich weniger  bezahlen. Lieber fahren die Taxis rentablere Touren nach Chania, aber Kleinvieh macht auch Mist, und goldenen, wie mir scheint.

 

Es bleibt uns nichts anderes übrig als diese überteuerte Aufstiegshilfe zu nutzen wenn wir nach Aradena wollen (vielleicht hätten wir es doch mit Trampen versuchen sollen, aber das möchte die Begleiterin nicht). Warum baut man nicht eine Seilbahn von Loutro nach Anopolis (oder von Anopolis nach Loutro)? Wäre doch eine touristisch angemessenen Anbindung von Loutro. Am liebsten ein Sessellift, wobei: griechischer Standard und sfakische Windverhältnisse - dann doch besser nicht.

Flotter als uns lieb ist, kurvt das Taxi wenig später hinauf nach Aradena. Wir legen keinen Wert auf eine Ikonostasi mit unserem Namen hier, weiß Gott nicht! Die Straße ist schon klasse, die Haarnadelkurven, die Ziegen im Schatten der Straßenpfosten, der Blick aufs Meer, auf die Küste, nach Gavdos hinüber – morgen! Dann kommt Anopolis, eine verstreute, langgestreckte Siedlung. Noch ein paar Kurven und einen Bergrücken weiter sehen wir die Stahlrohr-Brücke, die sich über die Aradena-Schlucht spannt. Wir rumpeln über die Holzbohlen, das klingt wirklich wild, und wir zeigen uns angemessen beeindruckt. Jenseits der Brücke sind wir am Ziel, löhnen die versprochenen 25 Euro und gucken erst mal in die Schlucht runter. Das Taxi brettert wieder über die Brücke – jetzt weiß ich, woher der Ausdruck kommt!

Die Schlucht sieht beeindruckend aus – wesentlich wilder als die Imbros-Schlucht, und wir überlegen kurz, ob wir unsere Pläne ändern sollen und durch die Aradena-Schlucht zum Marmara-Strand und nach Loutro wandern sollen. Bloß haben wir heute Abend um 18 Uhr noch ein Date in Komitades, müssten in Loutro also die frühe Fähre bekommen, und das könnte in Hektik ausarten. Die Badeklamotten haben wir auch nicht dabei, denn wir wollen heute im Binnenland wandern. Es bleibt bei den ursprünglichen Plänen.

 

Erst einmal sehen wir uns aber das wegen einer Vendetta verlassenen Dorf Aradena an, mit seiner eigentümlichen Kirche – das Turmdach sieht aus wie ein Mönchskäppchen, oder die ganze Kirche wie eine Henne, mit ihrem Kamm. Die Weißen Berge überragend die Kulisse, bekränzt von ein paar wenigen Wolken – klasse, die Gegend packt uns!

Die dem Erzengel Michael geweihte Kirche wurde oder wird gerade restauriert, auch mit EU-Mitteln (inzwischen habe ich aufgegeben, alle diese Schilder zu fotografieren wie ich mir einst vorgenommen hatte), und ist natürlich geschlossen, auch kein Schlüssel zu finden. Durch ein Fenster können wir immerhin einen Blick ins Innere und auf die Ikonenwand werfen.

Dann zurück zur Schlucht: wir sehen den steilen Weg, der hinunterführt. Und nehmen dann doch den Weg über die luftige Brücke, die Spende eines nach USA ausgewanderten Kreters. Wer nicht schwindelfrei ist, für den ist die Brücke eher nichts, zwischen den Holzbohlen kann man hindurchlinsen, es geht ordentlich runter, über hundert Meter – wie gemacht zum Bungee-Springen, wenn denn der Mensch überhaupt für so was gemacht ist (was man vorher in der Hose hatte, das hat man später im Genick). Demonstrativ rumpelt auch gleich noch ein Auto über die Brücke, wir drücken uns an das Geländer in die Stahlträgerdreiecke. Letzter Blick hinab, dann wandern wir auf der Straße Richtung Anopolis. Biegen schon wenig später rechts ab und kürzen auf einem alten, stellenweise fast gepflasterten Kalderimi die Straße ab.Die Hochebene mit Anopolis liegt vor uns, nur ein Katzensprung entfernt. Wir kommen in einer Art Hinterhof heraus, grüßen freundlich zwei etwas irritiert guckende Einheimische und erreichen bei einer Kapelle die Straße, die wir ostwärts wandern. Die Sonne sticht ordentlich. Eine Herde Schafe rennt vorbei, Kakteen und verfallenden Höfe rechts und links der Straße vermitteln einen Hauch von Wildwest – oder Wildsüdwest?

 

Die Straße geht schnurgerade und mündet nach einem knappen Kilometer auf den Dorfplatz, auf dem ein Denkmal des Daskalogiannis steht, einem Freiheitskämpfer gegen die Türken, dem damals – brrr – die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen wurde. An der Platia befindet sich die Schule mit im Hof spielenden Kindern, und ein Kafenion-Taverne – Zeit für eine kleine Rast. Am Nachbartisch bärtige Gestalten in Militärhosen, der neuen Tracht der Sfakioten im 21. Jahrhundert. Vor dem Haus parken die Pick-Ups. Der Vergleich zum Wilden Westen kommt mir wieder, mit Autos statt Pferden, Schafen statt Kühen und einem Kafenion statt dem Saloon. Eine Frau bedient, sonst nur Männer.

Ein freundlicher Hund schnuppert herum, springt dann freudig auf die Ladefläche des Pick-Ups seines Herren als dieser davonprescht, guckt während der Fahrt seitlich heraus.

Wir wandern nach der Rast weiter, die Straße entlang. Wollen durch die Anopolis-Schlucht hinunter nach Sfakia – die Tour wird im Wanderführer in der Gegenrichtung beschrieben, was seine Tücken hat: Wo geht der Weg ab? An einer eingeglasten Ikonostase geht ein Piste ab, wir probieren es, ein alter Mann kommt uns entgegen, spricht drei Brocken Deutsch mit uns, und verweist uns auf weiter vorne. Dort ein weitere Abzweigung, wir sind nicht sicher ob es die richtige ist. Ein Pärchen deutschsprechender Wanderer kommen auf der Straße entgegen: der Weg gehe weiter vorne die Straße entlang ab, er wäre beschildert. Man soll den Leute nicht trauen.... denken wir ein paar heiße hundert Meter später, in der ersten Straßenkehre unter der Telekommunikationsanlage.

Einige Arbeiter werkeln an der Straßenbegrenzung. Den Bergrücken hinauf führt ein am Anfang demolierter Weg. Rechts der Straße nur Schutt und Geröll, steil abfallend. Auf der Wanderkarte führt der Weg durchaus in der Richtung des Wegfragmentes, also klettern wir dort hinauf, landen oben an einem riesigen Schafspferch, in den wir zwar rein, aber an der gewünschten Stelle nicht mehr herauskommen. Wir suchen den Ausgang, finden keinen Weg, auch nicht auf der anderen Seite beim Stallgebäude. Nur Felsbrocken, halsbrecherisch wäre es, hier hinunterzuklettern.

Was nun? Die Sonne brennt von oben – wie schön, wir haben sie tagelang vermisst. Heute nicht. Die Mutter ist entnervt, ich bin es auch, und dann ist da noch der Termin heute Abend – wie rechtzeitig in Chora Sfakion sein? Dann pfeife ich eben auf das Treffen, wollte sowieso nicht! Wir gehen auf dem Wegfragment wieder hinunter zur Kehre und wollen nun eben die Straße hinunterwandern, die ist wenigstens gut zu finden, und vielleicht nimmt uns jemand mit. Da sehe ich ganz unten, weit unterhalb der Kehre, einen Fußweg. Da geht es lang! Zur Sicherheit (oder zur Verwirrung?) frage ich die Bauarbeiter, ob es hier nach Sfakia geht. „Nai!“ Ja, und in 20 Minuten wäre man unten. Solchen Versicherungen schenke ich schon lange keine Glauben mehr, 20 Minuten vielleicht im freien Fall, guter Witz, das! Aber ich versuche, in der Falllinie der Talsenke zum Zielpunkt „Beginn des sichtbaren Weges“ hinunterzusteigen. Beim Straßenausbau wurde einfach der Schutt hier hinuntergekippt, liegt alles Kraut und Rüben, kein Weg mehr vorhanden, es wird kriminell. Nach 60 oder 70 Metern möchte ich aufgeben, zurück, aber die Mutter kommt nach, und hinauf ist so übel wie hinunter. Wir kämpfen uns durch bis zur einer von rechts kommenden Schotterpiste, einem Pumpenhäuschen (ja, das wird im Wanderführer erwähnt!), und von dort geht nun wirklich, gut sichtbar, der Weg hinunter. Bloß wie es von hier aus auf den richtigen Weg nach Anopolis gehen würde – keine Ahnung!

 

Interessiert uns auch nicht, wir haben einen Weg, und die Richtung stimmt.

Am Anfang ist es nicht wirklich eine Schlucht, nur ein trockenes Bachbett, das sich dann aber allmählich tiefer durch die felsige Landschaft frisst. Einige Wanderer kommen uns entgegen, fragen, wie weit es noch ist bis Anopolis ist (wir haben keine Ahnung!). Wir antworten mit der Gegenfrage – knapp 2 Stunden sind sie unterwegs seit Chora Sfakion. Nun, wir gehen bergab, das ist schneller. Nein, man müsse klettern und brauche Zeit, gleich hier fingen hohe Felsenstufen an. Na, prächtig, es ist gleich halb vier! Die erste Felsenstufe rutsche ich auf dem Hintern hinunter, die Mutter tut sich schwerer, ihre Knie haben schon 71 Jahre auf dem Buckel, da wird man vorsichtiger und unbeweglicher.

Eine tote Ziege im fortgesetzten Zersetzungszustand liegt auf dem Weg, es wird nicht die letzte bleiben, sechs oder sieben Kadaver finden sich noch, nur einer ist noch etwas frisch und geruchsintensiv, die anderen mumienhaft vertrocknet, Haut und Knochen. Alle 50 bis 100 Meter kommt wieder eine Steinstufe, die höchste knapp 3 Meter hoch – hinauf wäre vielleicht leichter als hinab, aber runter kommt man immer, rutschend, fallend, hängend, irgendwie. Möchte sich nur nichts verknacksen, hier, jwd. Wobei: wir haben Empfang fürs Handy, melden an, dass wir nicht pünktlich sein werden.

 

Die Anopolis-Schlucht ist zwar nicht annähernd so tief und lang wie die Imbros-Schlucht, macht mir aber mehr Eindruck, da wilder, ungezähmter, kaum begangen – wir treffen keine Menschen mehr. Oben klettern muntere Ziegen herum, treten Steine los, bitte nicht, Helme haben wir nicht dabei!  Glücklicherweise führt der Weg nun etwas oberhalb entlang, nicht in der steinschlaggefährdeten Talsohle. Nach einer guten Stunde mündet die Schlucht in die breite Ilingas-Schlucht, etwas oberhalb in der Schluchtwand, ein Zick-Zack-Weg geht hinunter auf den Geröllboden. Nun ist es nicht mehr weit, wir sehen schon das Meer am Schluchtausgang! Der alte Weg führt auf der anderen Seite der Ilingas-Schlucht nach Sfakia, ist aber durch eine Sturzflut mit Gerölllawine vor ein paar Jahren beschädigt worden, weshalb sich nun der Ausstieg durch die Ilingas-Schlucht und die Straße empfiehlt.

Eine knappe halbe Stunde später sind wir im Hotel Stavris, erhitzt, und mit Sonnenbrand. Vom übernächsten Balkon blickt ein bekanntes Gesicht herüber, und auch nebenan wohnen jetzt bekannte (Nick-)Namen.

 

Nach einer schnellen, aber um so belebenderen Dusche fühle ich mich dann doch frisch genug, dem Abend in mehr und weniger bekannter Gesellschaft in der Taverne von Anette und Giorgos in Komitades entgegenzublicken.

Es wird spät. Das Wetter ist immer noch wunderbar, mild und warm.

 

Morgen, Freitag, geht die Fähre nach Gavdos!