Potami

Sonntag, der Himmel ist blau, und der Wind bläst unverändert heftig von Nord. Ich fahre nach Osten aus Karystos heraus, versuche, an der Küste zu bleiben, was mir nicht gelingt - Abzweigung verpasst oder es gibt keinen Küstenstraße. Vor Metochi zweigt aber eine Straße rechts hinab zum Meer, und ich folge ihr. Agia Irini und Bouros heißen die Küstensiedlungen, die sich herbstlich ziemlich verlassen zeigen. Schafe werden von einem Pickup entlang der Straße getrieben, die Hirten hier gehen nicht zu Fuß.

In Bouros endet die Straße an einem noch möblierten, aber am Vormittag noch völlig unbewohnten Strand, an dessen Rand die weiße Statue einer Frau auf einem Zentauren steht. Gibt es in der Mythologie Zentauren auf Süd-Euböa? Nie davon gehört.

Wo die befestigte Straße endet, steht auf dem erhöhten Ufer das Betonskelett eines riesigen Gebäudes. Bestimmt ein Hotel, geplant in besseren Zeiten.

Alles nicht sehr einladend, also drehe ich um und fahre ein Stück zurück. Am Hang über mir das Pendant des Straßenlabyrinths von Agia Paraskevi, in das kurz darauf eine befestigte Straße führt. Da fahre ich rein, vielleicht kann ich so den Weg zur Straße nach Platanistos abkürzen.

 

Bis auf eine Höhe von dreihundert Metern führt dieses sinnlose Straßenwirrwarr hinauf. Straßenschilder und -namen gibt es hier auch, aber überhaupt keine Häuser. Das Ganze scheint neueren Datum zu sein - keine Lehren aus dem ersten Fehlschlag gezogen. Und es ist groß. Ich schraube mich nach oben, mal rechts, mal links. Noch ein Schafherde begegnet mir, oder ist es dieselbe wie vorhin unten?

Was stand auf dem Schild, das ich unten fotografiert habe? Das Ganze gehört irgendwie dem Militär, in diesem Falle einer Baugenossenschaft von Offizieren der Luftwaffe namens "Οικοδομικός Συνεταιρισμός Μονίμων Στελεχών Πολεμικής Αεροπορίας" (Ο.Σ.ΜΟ.Σ.Α.) Ikarus 1968.

Zweck ist es, Offizieren im Ruhestand hier den günstigen Erwerb von Grundstücken zu ermöglichen. Der Andrang hält sich offenbar sehr in Grenzen. Wie viel Geld hat der griechische Staat samt NATO und EU hier in besseren Zeiten wohl versenkt? Oder war das von vorneherein nur eine Geldwaschanlage? Sogar ein Stausee zur Energiegewinnung  ist geplant, wie eine weitere, neu aussehende Schautafel weiter oben zeigt. Ikaros Smart Community - grüner Strom made in Sweden by CEEII: wenn man das hier sieht, scheint es ein absurdes Projekt. Und man schmückt sich sogar damit.

Ich renke mir gleich den Hals aus vor lauter Kopfschütteln.

Hier Vieh weiden zu lassen, ist übrigens verboten. Aber die Schafe können nicht lesen.

 

Dann verfahre ich mich endgültig auf dem Weg nach oben, wo Straßen im Nirvana oder in pampaüberwachsenen Schlaglöchern enden. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als umzudrehen und wieder zur Küste hinab zu fahren. Hier oben komme ich nicht raus. Wie es sich für ein Labyrinth gehört, finde ich den Weg hinaus nicht so einfach, atme aber auf, als ich an einer Kapelle in die Zivilisation zurückkehren kann. Der Wahnsinn hat hier Methode....

Schnell fahre ich auf der Straße via Metochi weiter ostwärts. Die Fahrt bis Platanistos zieht sich länger als ich sie in Erinnerung hatte. Bachbett und Wasserfall lasse ich heute ebenso links liegen wie das Kafenio. Hinter Platanistos zweigt dann rechts die Straße nach Potami ab, auf die einbiege. Man hat einen tollen Blick über das weite Tal der Bucht und hinüber nach Andros, das hinter einem aufgewühlten azurblauen Meer ganz nahe scheint. Die Straße ist durchgehend asphaltiert und endet an einem wasserführenden Bachbett, von hier führen Schotterpisten nach links und rechts. Die nach links ist besser erhalten, und sie führt zu einer Taverne, die sich oberhalb des Baches an die linke Talseite schmiegt. Der schilfgerahmte Bach mündet am Strand ins Meer und bildet eine kleinen Sandbank. Rechts davon zieht sich ein langer und tiefer Sandstrand fast einen Kilometer entlang. Kein Mensch ist dort zu sehen, und nur oberhalb des Mitte des Strandes stehen zwei oder drei größere Gebäude, vermutlich ein Restaurant samt Hotel.

 

Die Taverne hebe ich mir für später auf, es ist ja erst halb zwölf. Von hier komme ich wegen Zaun, Rain und Bach nicht hinab zum Strand und gehe daher auf der Piste zurück bis zur Straße, hier kann ich den Bach überqueren und zum Strand hinübergehen.

Meine Badesachen habe ich umsonst dabei, aber das hatte ich schon befürchtet. Auch dieser Strand, der nach Osten ausgerichtet ist, wird heute von heftigen Brechern attackiert. Ginge man hier Baden, wäre es gut möglich, dass die Wucht des Wassers einen unrettbar hinausreißt.

 

Wunderschön ist es aber trotzdem, und so wandere ich, vorbei an skelettartigen Schwemmhölzern und flachen Steinen bis zum südlichen Buchtende, wo eine dunkle Gesteinswand dem Strand eine Ende setzt. Etwas Teer muss ich mir dafür später von den Schuhsohlen putzen.

 

Draußen vor Andros kämpft sich ein kleiner Frachter durch die Straße von Kafireas. Ein Wasserweg mit Tücken, elf Kilometer breit und 400 Meter tief. Am 17. und 18. Mai 1790 fand hier die Seeschlacht von Andros statt. Gegenüber standen sich die Schiffe des griechisch-russischen Offiziers Lambros Katsonis und eine osmanisch-algerische Flotte von 30 bis 32 Schiffen, die Osmanen gewannen während Katsaronis fast alle Schiffe verlor. Auch hier spielte der Wind eine Rolle.

Auf dem Rückweg klettere ich auf einer steilen Treppe zu dem großen Hotelgebäude in der Strandmitte hoch. Das Restaurant heißt "To Aigio", hat eine schöne und gepflegte Terrasse zum Meer und ist so geschlossen wie das dazugehörige Hotel. Heute ist Sonntag, der 22. September, und die Saison ist für dieses Jahr beendet. Trotz Sonntag. Sowieso bei diesem unmöglichen Badewind.

 

Etwas weiter drüben ist eine unverschlossenen Kapelle, Agia Marina, und daneben ein schmales langes Haus, auf dem in großen Buchstaben "Rooms" steht. Von Bewohnern sieht und hört man aber nichts. Vorhin ist aber ein SUV über den Strand zum südlichen Nachbargrundstück gefahren, offenbar ein privates Feriendomizil, gut abgezäunt. Es gibt hier also doch Leben.

Ein Baum trägt kleine, holzige Früchte, wie Bonsaibirnen. Noch nie gesehen. Holzbirnen? Oder eine Jujube?

Ich suche einen Weg durchs Hinterland zu Auto und Taverne zurückzukommen, aber vergeblich. Wenn, dann muss man weit zurück, weg vom Meer einen Bogen auslaufen. Also wähle ich den Weg entlang des Strandes, an dessen Rand einige zierliche Tamarisken verzweifelt versuchen, für etwas Schatten zu sorgen.

 

Als ich an der Taverne zurück bin, ist es ein Uhr und einer der Tische ist mit zwei französischen Paaren belegt. Es gibt also doch noch Tourismus hier. Man sitzt hier wunderbar im Schatten von Bäumen mit Blick auf Strand und Meer, umwimmelt von den unvermeidbaren Katzen. Ich bestellte Gavros, gegrillte Sardellen, und Tsatsiki, dazu ein Viertel Wein. Ein Krug kühles Wasser kommt unverlangt dazu. Es schmeckt köstlich und der einzige Wermutstropfen ist, dass der Wind mein Weinglas umwirft. Oder war es eine Kettenreaktion und er hat zuerst das hohe Wasserglas umgestoßen und das dann das kleine Weinglas? Egal, genau in dem Moment klingelt auch noch mein Handy, eine griechische Nummer. Das Handy muss ich aber erst mal trockenlegen, es hat eine Weindusche erhalten. Zum Glück unbeschadet, so dass meine Autovermieterin mich nochmal nerven kann: wann ich das Auto zurückbringen würde? Ich erschrecke: hab ich da irgendwie den Tag verwechselt? Es war doch alles klar vereinbart. Montag, 23. September, 14 Uhr, Rafina am Hafen. Nein, stimmt alles. Bis morgen dann.

Und dann kann ich die wunderbare Mittagsstimmung hier genießen. So ein Mittag am Meer mit gutem Essen, Wein, Ruhe - braucht man mehr?

Ich verweile lange, ordere noch einen Elleniko.

Die vier Franzosen werden von zwei anderen Französinnen abgelöst. Ich bekomme einen Joghurt mit löffelsüßen Trauben aufs Haus als ich später die Rechnung bestelle: knapp zwölf Euro. Das Paradies kann preiswert sein.

Trotzdem muss mich irgendwann aufraffen und die Straße hinauf nach Platanistos und hinüber nach Karystos zurückfahren. Das war ein schöner Ausgang meiner Euböa-Tage.

 

Am Abend ein letztes Mal der Spaziergang entlang der Mole. Der Berg Ochi ist heute ganz nahe an Karystos herangerückt. Die Sonne geht heute vergleichsweise unscheinbar unter, taucht aber das Hafenbecken mit den Booten in ein blau-goldenen Fleckenmuster. Der Wind soll morgen aufhören und mir hoffentlich eine ruhige Überfahrt nach Rafina und weiter nach Paros ermöglichen.

 

Zum Abendessen wähle ich wieder das "Agoni" aus. Es heute etwas ruhiger an der Paralia als gestern, aber trotzdem quicklebendig. Im Tagesangebot sind heute Linguine mit geräuchertem Lachs (ein typisch griechischer Fisch ....). Gut, ist heute eben Fisch-Tag. Schmeckt wieder gut und mit Wein überschreite ich die 15-Euro-Marke für die Rechnung nicht.

 

*

 

Am Montagmorgen bin ich schon früh auf, packe meinen Sache zusammen, frühstücke zum letzten Mal stimmungsvoll auf der Hotelterrasse. Und freue mich auf hoffentlich mehr Abwechslung beim Frühstück auf Paros. Aber das Fazit des Aufenthaltes im Hotel "Karystion" ist rundherum positiv. Vor allem das freundliche Personal bleibt in Erinnerung. Ich bekomme einen ordentlichen Beleg über 252 Euro für sieben Übernachtungen mit Frühstück, packe meine Sachen ins Auto und verabschiede mich. Ich werde von Nea Styra aus nach Agia Marina auf Attika übersetzen, dort fährt die Fähre erst um halb zwölf. Im Gegensatz zu Marmari, wo ich schon um halb zehn hätte sein müssen und viel zu früh in Rafina wäre.

 

Ich genieße die Fahrt auf der Panoramastrecke und halte noch an der Kirche Agia Varvara, die oberhalb des Straßenrandes bei Choni liegt. Ein hübsches und gepflegtes Kirchlein.

Etwas später stoppe ich wieder um einen Blick auf die dem Hafenort Marmari vorgelagerten Petalii-Inseln zu werfen. Die Fähre "Evia Star" zuckelt gerade auf ihrem Weg nach Rafina dort durch.

In Styra tanke ich nochmals und kaufe beim Bäcker Proviant. Um Viertel nach zehn treffe ich schließlich in Nea Styra am Fähranleger ein, stelle das Auto ab und kaufe das Ticket hinüber nach Attika. Die Überfahrt für ein Auto und eine Person kosten 19 Euro 60. Dann haben ich noch genug Zeit, mich im Café für einen Tee niederzulassen und dem lebendigen Treiben von Angler, Rentnern und Katzen zuzuschauen.

 

Um zehn nach elf nähert sich die Fähre "Dimitris", wenig später legt sie an. Der Parkplatz am Hafen ist inzwischen gut gefüllt, aber ohne Hektik findet das Ent- und Beladen statt. Ich reihe mich mit meinem Nissan Micra in die Autoschlange ein, zeige meine Tickets und fahre an Bord. Dort werden die PKW auf eine Rampe an der linken Schiffseite gewiesen, die aufs obere Deck führt und im Heck einen U-Turn macht, so dass die Auto dort automatisch wenden und später vorwärts von Bord fahren können. Pfiffig!

 

Ohne langes Zögern und höchst pünktlich legt die "Dimitris" um halb zwölf ab und tuckert an der unbewohnten Insel Styra sowie weiteren Miniinselchen auf der linken Seite vorbei nach Westen. Es ist eine sehr ruhige Fahrt. Nach einer halben Stunde grüßt von rechts ein Inselchen mit Leuchtturm, laut Karte heißt es Derakotos (daneben, noch kleiner, Platourada). Wer einen einsamen Job sucht, ist dort als Leuchtturmwärter bestimmt richtig.

 

Dann kommen die grünen Hügel von Attika schnell näher. Agia Marina scheint nicht wirklich ein Ort zu sein, sondern nur ein Hafen und einige Häuser verstreut am Hang. Und weiter rechts eine Ansammlung blau-weiße Bungalows im Container-Stil. Um Viertel nach zwölf klappt die "Dimitris" ihre Ladeklappe hinab und entlässt uns aufs Festland.

Ich hab zwar eigentlich genug Zeit, fahre aber nonstop über Marathon (dieses Mal in der Marathonlauf-Richtung mit den angezeigten Kilometern) und Mati nach Rafina, wo es im Stop-and-Go hindurch und zum Hafen geht. Um zehn nach zwei stelle ich das Auto dort ab und werfe einen prüfenden Blick auf die Karosserie: bißchen eingestaubt, aber kein neuer Macken dazugekommen. War ein braves Auto, der Nissan Micra. 874 Kilometer bin ich mit ihm gefahren.

 

Es ist viel mehr los am Hafen als vor zehn Tagen. Kein Wunder: morgen ist mal wieder Fährstreik angesagt, also versuchen die Leute, heute noch wegzukommen.

Vier Fähren liegen da: die "Evia Star" von Marmari, die "Aqua Blue", die "Theologos II" und der "Tera Jet". Aber kein "Naxos Jet", den ich um 15 Uhr nach Paros nehmen möchte. Gut, ist noch unterwegs, ist ja noch Zeit. Aber im Ticketbüro bekomme ich prompt eine Absage: der "Naxos Jet" würde heute ausfallen. Warum wüßte man nicht, aber aktuell tuckert er auch noch weit entfernt bei Syros herum. Zum Glück gibt es eine Stunde später den "Superexpress" von Golden Star Ferries. Der ist zwar erst um kurz vor acht Uhr in Parikia statt wie geplant um sieben Uhr, aber immerhin komme ich heute noch nach Paros. Aktuell befindet sich der "SuperExpress" aber noch in der Anfahrt auf Rafina irgendwo bei Andros. Das Ticket kostet 46 Euro und wird auf den Namen "Golar" ausgestellt. Keinen Ahnung wie ich "Roller" so aussprechen muss, dass mein Nachname richtig geschrieben wird....

 

Pünktlich um zwei Uhr kommen die Autoabholer. Kritisch betrachten sie einen Kratzer an der Fahrertüre, der nicht von mir ist, aber beim Aussteigen von mir vom Staub befreit wurde. Sie lassen sich davon überzeugen und ziehen mit dem Auto ab. Und ich verfüge mich in die Taverne "Agoni Grammi" (sinngemäß unrentable oder bezuschusste Fährlinie) und bestelle mir einen griechischen Salat - den ersten in diesem Urlaub.

 

Gegen Viertel nach drei kommt dann tatsächlich der "SuperExpress" und ich gehe hinüber zum Anleger. Dort drängen sich schon ordentlich viele Menschen, die aber erst warten müssen bis die Schnellfähre entladen ist. Dazwischen Taxis und ein Tankwagen, der die Fähre betankt. Das dauert.

Die Internationalität und Hektik der Passagiere lässt mich schon jetzt Euböa vermissen.

Ob das so eine gute Idee war mit Paros? Man wird sehen.