Nach Stavros

 

In der Nacht hat es ordentlich gestürmt, der Wetterumschwung von Süd nach Nord ist da.

Ich bin zeitig auf den Beinen und dem Weg nach Stavros. Dabei folge ich nicht der Route vom Dorf aus durch die Talsenke, sondern der Beschreibung von Dieter Graf („Amorgos, Naxos, Paros, östliche und nördliche Kykladen“, Tour 3). Der Weg geht direkt beim Haus vorbei aufwärts und dann links ab, vorbei an einigen Ruinen. Wie schon oft lässt mich Graf an einer Wegkreuzung im Stich als der Weg abwärts führt, es aber eine Alternative nach rechts aufwärts gibt. Der folge ich (abwärts kann ja nicht sein), was sich wenige Minuten später als falsch erweist als sich der Weg zwischen Olivenbäumen in Wohlgefallen und Ziegenpfade auflöst. Über eine Mauer, über einen Zaun, aber vorne sehe ich den richtigen Weg aufwärts zum Kloster Theologos führen. Da liegt jetzt nur eine kleine tiefe Schlucht dazwischen. Keine Chance.

Also weiter zurück, nach links, die Waden sind zerkratzt, über einen letzten Zaun (der hat es in sich) und ich lande auf dem richtigen Weg. Fluchend, das hätte ich mir echt sparen können.

 

Der Blick über das Tal mit der dominierenden Panagia Epanochoriani und Langada ist toll und versöhnt mich mit dem Irrweg.

Nun den breite Stufenweg aufwärts. Vorsicht, berittener Gegenverkehr kommt.

Der Weg ist immer noch schön, auch wenn er sich jetzt im Herbst natürlich nicht mehr so grün und blickerfrischend präsentiert wie einst im April. Dieses Hochtal ist aber einfach eine herrliche Gegend!

 

Vor der Agia Varvara-Kapelle geht es jetzt eher flach durch ein Wäldchen. Ich überhole zwei Wanderer, die ziemlich geschafft wirken. Ob es noch weit sei? Ich kann sie beruhigen, gleich kommt das Kloster in Sicht. Und wirklich, etwa fünf Viertelstunden nachdem ich Langada verlassen habe, sehe ich das erste Tagesziel weiß und breit auf der Kuppe vor mir liegen.

Zehn Minuten noch, und ich stehe an der Pforte des Gebäudes, das über 1200 Jahre alt sein soll. Ich möchte eigentlich nur einen schnellen Blick hineinwerfen, und dann weiter. Aber am Kloster (das schon lange nicht mehr als solches genutzt wird) Agios Ioannis Theologos ist heute richtig Betrieb: Drei Männer mit Eseln und Hunden sind vor dem Tor zugange. Ich grüße freundlich. Zwei der Männer rücken gerade mit ihren Eseln ab, auch der dritte zieht sein Tier von abwärts, ruft mir aber noch zu, ich solle warten und auf einen Kafedaki bleiben. Mhh, wann er wohl wiederkommt?

 

In aller Ruhe schaue ich mir unter den Blicken von zwei Hunden – einem Golden Retriever, der angebunden ist, und einem hässlichen kleinen tonnenförmigen Hund mit Unterbiss -  die Kirchenanlage an. Alles ist offen, die Kirche, die Wirtschaftsgebäude mit den großen Töpfen. Übermorgen ist das Panigiri, und da muss man natürlich einiges vorbereiten. Und erst mal hier hinauf schleppen.

Wo bleibt denn der Kaffee-Einlader? Ich gehe Richtung Ausgang, da kommt er mit strohreißigbeladenem Esel den Weg herauf. Ob ich schon gehen wollte? Ähm, ja, ähm, nein, jetzt wo er da wäre. Giorgos heißt er, und er muss hier das Panigiri vorbereiten wobei ihm so richtig keiner helfen wollte, beschwert er sich. Auf dem Herd kocht er einen Elleniko, der aufmöbelt. Dazu weiches Wasser aus der Zisterne, und süße Trauben von Giorgos Weinberg.

 

Ich schwärme von dieser Ecke von Amorgos, aber er sagt, es wäre vor 15 Jahren viel schöner gewesen, die Ziegen würden alles abfressen, immer weniger Gärten und Felder würden bewirtschaftet. Gut, Themenwechsel: wie denn das Panigiri wäre, wie viele Leute kommen würden, ob es Musik gäbe? Nein, keine Musik, der Pappas wolle das nicht. Schade. Am Vorabend kämen etwa zwanzig Leute, zum Fest dann schon hundert, hundertfünfzig. Aber alle wollten nur feiern, arbeiten aber nicht. Wie überall auf der Welt. Ob ich kommen würde? Ich weiß es nicht, tha doume. Wohin ich wollte? Nach Stavros. Ah, das wäre ein toller Ort, wild, und man wäre dort näher am Himmel (das hab ich dieses Jahr schon mal gehört, in Tristomo).

Draußen Schritte, ein österreichisches Pärchen ist gekommen, hat die englischen? französischen? Wanderer überholt, und wird natürlich auch zum Kaffee eingeladen. Tja, nur sprechen sie kein Griechisch (das von Giorgos ist durch seinen Dialekt auch nicht immer sehr verständlich), wie also Konversation machen? Das überlasse ich jetzt ihnen, und bedanke mich bei Giorgos, schließlich will ich weiter. Er hat sich über die Unterbrechung seiner Arbeit sehr gefreut, und ich über die nette Verzögerung.

 

Ich durchquere die kleine Senke unterhalb des Klosters und suche mir den Weg entlang von Mauern und durch Mauerdurchbrüche. Die Graf-Beschreibung ist etwas kleinteilig, man muss einfach entlang der unteren Mauer des großen Gevierts bis zum linken Ende, und dann dort entlang hoch. Dass der Weg gelegentlich zugewachsen ist sollte einen davon nicht abhalten. Oben trifft man dann wieder einen deutlichen Weg, der zunächst horizontal nach Osten führt.

 

Nach zehn Minuten liegt dann die Passage vor mir, die mir ursprünglich etwas Bauchschmerzen bereitet hatte (siehe auch bei Theo) und weswegen ich hier lieber nicht alleine gehen wollte. Aber von Jörg, der evtl. in Egiali ist, hatte ich nichts gehört, also war ich eben doch solo.

Vor mir ein schräge Steinwüste, links geht es steil in den Abgrund hinab, der Weg führt über steilschlagausgesetzte Geröllfelder, trockene Macchia dazwischen. Man kann ihn mit dem Auge gut den Hang entlang verfolgen, und Schwindelfreiheit ist Voraussetzung für diese Route.

Aber der Weg ist breiter als befürchtet, und gut geräumt – schließlich war letzte Woche erst das Stavros-Fest. Kein Problem also wenn man sich bei gutem Wetter hier aufhält (und vielleicht nicht länger als notwendig).

Ich gehe zügig, und bin völlig alleine in der steinernen Schräge. Über mir krächzen Krähen, ein großer Raubvogel kreist. Die Stimmung ist schon sehr besonders an diesem einsamen Ende von Amorgos.

 

Schließlich biege ich um eine Felsenecke, und vor mir liegt, völlig unvermittelt, mein Ziel: die langgestreckte Kapelle Agios Stavros (Heiliges Kreuz).

Dahinter buckelt der schwarze Rücken des Pramateftis und des Papas. Der Nordwind bläst in heftiger Stärke über den Sattel. So dass stark, dass ich schnell den Windschatten der Ummauerung des Hofes vor der Kapelle suche. Diese ist leider abgeschlossen, ein Schlüssel nicht auffindbar. Dafür stapeln sich neben der Kapelle Säcke mit Kies und Zement, alles auf Eselsrücken hierher transportiert.

Man kann vor hier aus weiter nach Osten auf den Papas, oder hinabsteigen zu den verlassenen Bauxitminen an der Südküste. Alles sehr einsam, da darf nichts passieren.

 

Es ist dunstig nach Süden, Anafi und Astypalea lassen sich allenfalls erahnen, aber die Kette der Inseln Kinaros, Glaros, Mavra und Levitha lässt sich ausmachen. Im Norden der hohe breite Riegel, das muss Ikaria sein, und die Insel weiter südlich mit der weißen Krone Patmos mit seiner Chora. Wow!

Es ist dreiviertel eins, ich habe reichlich Zeit für den Rückweg. Und da war ja noch ein weiteres Wunschziel: wenn ich früh genug dran bin, und der Weg auch zu erkennen ist, dann wollte ich gerne den höchsten Berg von Amorgos besteigen. Das ist das Massiv des Krikelos (auch Kroukelos) mit dem höchsten Gipfel Chorafákia, 823 Meter hoch. Der Gipfel liegt westlich von mir, ich bin auf dem Weg nach Stavros unten an seinem Hang gequert und müsste nun in einer Haarnadelkurve weiter. Theo hatte vor vielen Jahren das Problem, den Weg nicht zu finden. Aber ich sehe den Verlauf deutlich vor mir, zumindest im unteren Teil (auch bei Google Earth zu erkennen). Und der Weg ist auch überhaupt nicht steil, sondern verläuft sanft ansteigend. Stavros liegt ja auch schon auf etwa 670 Metern über Meer.

 

Also, das wäre doch gelacht! Ich gebe mir Zeit bis 14 Uhr, dann werde ich umkehren, egal wo ich bin. Der Versuch, die Mutter über mein Ziel zu informieren, scheitert – kein Empfang. Besser vorsichtig gehen. Auf dem Monopati geht es westwärts. Der Wind bläst ordentlich, aber im Windschatten südlich des Bergrückens geht es. Steinmännchen weisen gelegentlich den Weg, es ist überhaupt eine einzige Steinwüste hier.

 

Nach einer Viertelstunde verliert sich der Weg bei der Ruine eines Stalles oder Pferches. Aber das Ziel ist jetzt gut zu erkennen – der Chorafakia, ein breiter runder Buckel. Da kann man auf Sicht hin wandern. Über ausgesprochen unbequemen Felsenuntergrund, aber wenig Frygana. Etwas näher, weiter rechts, ist noch eine Erhebung mit einer Steinpyramide. Von dort kann man wunderbar hinab auf das Hochtal von Agios Ioannis Theologos schauen.

Dann auf der Direttissima pfadlos zum Gipfel, den ein Betonsäule markiert. Es ist halb zwei, etwas über eine halbe Stunde habe ich gebraucht. Ist einfacher und näher als gedacht. Und es zieht wie Hechtsuppe hier oben, richtig ungemütlich. Und die Aussicht war auf dem Vorgipfel auch besser, denn man hat nur Blick auf Steine, oder in die Ferne, nach Donoussa und Naxos. Im Süden immer noch Dunst.

 

Immerhin reicht der schwache Handyempfang um eine SMS gen Köln und ein Telefonat zur Mutter abzusetzen. Mhh, könnte sein, dass wirklich kein Gipfel vor mir sicher ist. Einen möchte ich in diesem Urlaub auf alle Fälle noch machen, einen hohen.

Der garstige Wind verjagt mich schnell wieder von der ausgesetzten Höhe.

Ohne Weg muss man einzelne Fixpunkte anpeilen. Nicht zu weit nach Süden abkommen. Da ist die Ruine, ab hier folge ich dem Monopati und bin um Viertel nach zwei wieder an der Stavros-Kapelle.

Noch eine kleine Rast bevor ich den Rückweg durch den Steilhang nehme. Da kommt mir dann auch tatsächlich eine ganze Gruppe Wanderer entgegen, Franzosen. Ob es noch weit sei? Zur Kapelle? Ja. Nein, da seien sie gleich. Bonne route!

 

Auf dem Rückweg kommt mir alles viel kürzer vor. Zu Beginn der Steilstrecke stehen noch ein paar Franzosen, war wohl nicht für alle das richtige Gelände, so ausgesetzt.

Dieses Mal nehme ich beim Mauergeviert in der Talsenke den richtigen Weg rechts hinab, wo auch der Wegweiser nach Stavros steht. 40 Minuten. Kann hinkommen. Agios Theologos lasse ich jetzt rechts liegen und nehme lieber noch ein Sonnenbad auf der Mauer bei der Varvara-Kapelle.

 

Der Weg hinab nach Langada ist endlos, die Stufen gehen in die Knie. Ich nehme jetzt den breiten Weg durch die Senke mit dem schönen Blick über das Tal und zur Panagia Epanochoriani. Da war der Hinweg oberhalb trotz des Verlaufens kürzer. Und die letzten Meter muss ich wieder bergauf.


Ein Wegweiser mit Entfernungsangaben in Kilometern erzählt Lügen: drei Kilometer bis Theologos und sieben bis Stavros – nie im Leben. Mindestens ist die Entfernung von Theologos nach Stavros kürzer als die von Langada nach Theologos. Ich messe bei Google Earth nach und komme auf maximal fünf Kilometer für den ganzen Weg bis Stavros (Langada – Theologos 2,6 km, Theologos – Stavros 2 km).

An einem grünen Weinberg am Ortsrand parkt ein Esel mit blauem Tragegestell, das muss der von Giorgos sein. Oben bei Theologos hatte ich ihn auch nicht mehr gesehen. Um zwanzig nach vier bin ich wieder in unserem Quartier, müde und glücklich.


Die Mutter hat sich auch nicht gelangweilt, ist durch das Dorf gebummelt und hat auf dem Balkon entspannt. Der kühle Wind lässt aber schon wieder den Windschatten und die Sonne suchen.

Der Sonnenuntergang ist heute einfach atemberaubend!

Wie eine glühende Kugel verschwindet die Sonne hinter Keros, das graue Meer vor sich. Und irgendwann im Restlicht tuckert ganz klein die Sk/copelits um die Ecke nach Egiali. Ganz pünktlich ist sie wohl nie.

Wir gehen am Abend in dem unteren Lokal „o Varys“ essen. Zum Draußensitzen ist es zu kühl, drinnen sind wir zunächst die einzigen Gäste, später kommen aber nur einige Einheimische zum Essen und ein paar junge Männer auf ein Bier. Wir bestellen Boujouti als Vorspeise, und Hühnchen in Balsamicosauce und Schwein mit Käse und Kartoffelscheiben als Hauptgang. Die Portionen sind reichlich und schmecken sehr gut. Eigentlich sind fast alle Tavernen in Langada zu empfehlen.

Zum Haus gehört der unglaublich hässliche Hund mit dem Unterbiss (nicht dem vom Kloster, aber bestimmt Verwandtschaft), der zunächst auf einen Happen vom Tisch hofft, sich dann aber – schnurrend wenn er eine Katze wäre – mit Streicheleinheiten begnügt. Er reckt mir sitzend immer das Körperteil hin, das er gerne gekrault haben möchte.

 

Die Stufen hinauf zum Quartier fallen uns nach dem üppigen Mahl schwer. Aber morgen wird gleich wieder gewandert, wenig steil dieses Mal, damit die Mutter auch mit kann.