Thymena

 

Mitten in der Nacht holt laute Musik uns aus dem Schlaf. Keine Ahnung wo die herkommt, eigentlich ist es Tanzmusik und gar nicht schlecht. Bloß um die Zeit… verpasse ich da womöglich was? Kann ich mir nicht vorstellen. Irgendwann ist wieder Ruhe.

 

Das Wetter ist durchwachsen, bewölkt und immer mal wieder ein paar Tropfen Regen. Wir verschieben die Wanderung auf morgen. Verbringen den Vormittag auf dem Balkon (wohlüberdacht durch den darüber liegenden Balkon) mit dem Beobachten der Aktion in der Werft. Ein Boot wird über den Platz geschoben, der Mann unserer Vermieterin kauft Fisch direkt vom Kaiki, eine ganze Tüte voll. Später nochmals, noch ein besserer Fang. Psariman? Würde für Fourni passen. Entsprechend ist der Empfang zuhause, Katerina zetert – noch mehr Fisch – panagia mou, wer soll das alles essen? Die Gefriertruhe ist groß, zum Glück….

Ich beschließe, doch ein paar Postkarten zu erstehen (sie werden fast genau zwei Monate nach Deutschland brauchen), aber der Laden ist zu, und viele andere auch. Das halbe Dorf ist bei einem Mnimosino oben bei der Agia-Triada-Kirche. Kann ich in aller Ruhe die „Samos Spirit“ fotografieren. Die Türe ist offen, ab und zu geht jemand an Bord oder verlässt das Schiff. Sieht so aus als fehle nur noch ein kleines Ersatzteil, dann könne es losgehen. Aber die „Samos Spirit“ (früher immer noch sichtbar „Anholt“) ist Baujahr 1981, erreicht also dieses Jahr die Altersgrenze von dreißig Jahren. Ob da eine aufwendige Reparatur noch lohnt?

Die Trauergesellschaft kommt nun auf der Straße von der Kirche hinunter, jeder trägt eine Tüte mit Koliva, der traditionellen Totenspeise. Im ersten Kafenio an der Ecke lässt man sich nieder, die Läden öffnen noch später.

Ein Patrouillenboot kommt, legt an. Zehn Mann Besatzung.

Eigentlich gibt es hier immer was zu gucken.

 

Später spazieren wir nach Norden an der Küste entlang. Man hat einen guten Blick nach Thymena. In der nächsten Bucht liegen auch ein paar Bötchen, ein Sandstrand sieht gar nicht so schlecht aus. Aber es ist kein Badewetter. Außerdem wird dort wohl das Baumaterial für die Insel abgeladen, ein Anleger ist vorhanden. Wir gehen noch weiter bis zur Windmühlenruine jenseits der Bucht – an das Teil erinnere ich mich vom letzten Besuch. Ob ich an der letzten Bucht gebadet habe, oder erst an der nächsten, Psili Ammos – ich kann mich nicht erinnern. Nur dass an dem Tag Schulausflug auf Fourni war und eine Horde ghettoblasterbewehrter Schüler mich erst vom Kambi-Strand und später von hier vertrieben haben.

Heute sind wir beinahe allein.  Unbewohnt die Küste hier, noch kein Terrain für Ferienhäuser.

Die unvermeidliche Kaserne liegt versteckt in einem Knick, so weit gehen wir aber nicht, denn es beginnt zu regnen.

Eine sehr kleine Kapelle, fast nur eine Ikonostase, dem heiligen Antonios geweiht, steht am Wegrand,  sie ist unverschlossen. Wie eigentlich alle Kapellen auf Fourni. Typisch ist auch, dass viele Ikonen mit Tüchern umrahmt sind – ein Brauch, den ich sonst noch nirgends gesehen habe. Hier können wir wieder einmal eine Kerze entzünden.

 

Zurück in den Ort, vorbei am netten Ministrand nahe des kleinen Anlegers, und an einem gelben Ape-Dreirad.

Um 14 Uhr wollen wir nach Thymena (Thýmaina) fahren, es regnet nicht mehr. Mit der „Spyridoula“, dem Kaiki. Kurz vor zwei Uhr sind wir dort – ob wir auch wieder zurückwollten? Ja, aber mit der „Panagia Theotokos“. Dann bräuchten wir ein Ticket aus der entsprechenden Agentur. Die hätte immer zu, antworte ich. Renne aber dennoch rüber und finde die Agentur – oh Wunder – geöffnet. Die Angestellte will unseren Namen wissen - Ordnung muss sein, auch in der Hektik – und erklärt, die Passage koste einen Euro. Sie will aber vier Euro, und scheitert kurz darauf am Ausdrucken des Tickets (wahrscheinlich weigert sich der PC, so kleine Summen zu bestätigen). Ich bezahle trotzdem. Ich solle drüben in Thymena irgendwo anrufen, oder was weiß ich, ich verstehe nicht so recht wo das Problem ist, hier spricht sich doch bestimmt alles herum. Schnell zurück zur „Spyridoula“, die Zwei-Mann-Besatzung hat gewartet, außer uns möchte nur noch eine junge Frau nach Thymena. Wir fahren los, um die schmale unbewohnte Felseninsel Kisiria herum, die längs zwischen Thymena und Fourni liegt und die man von Kambi aus gut sieht (nur eine paar Meter trennt sie von einem Westkap Fournis).

 

Keine zehn Minuten später legt das Boot schon auf Thymena an. Geld für die Passage will niemand, obwohl ich kein Ticket vorweisen kann. Ist wohl all inclusive. Der Ort zieht sich den Hang entlang aufwärts, links am Ufer einer Bucht bei einer Kapelle kokelt etwas vor sich hin, und ganz links auf einem Hügel thront eine Kirche. Wir gehen von Bord und ein paar Treppenstufen hinauf, da ist ein kleines Mezedopolio-Kafenio und ein Zettel mit einer Telefonnummer am Fenster, die man anrufen soll wenn man mit der Fähre fahren möchte.  Die paar Leute, die am Kaiki etwas abgeholt haben, sind schnell verschwunden. Wir wenden uns nach links, wo ein Stufenweg aufwärts führt, dem wir folgen.

So gelangen wir zu einer Terrasse mit der Doppelkirche Agios Giorgos-Agios Stavros und einem schwungvollen, beinahe nur zweidimensionalen Glockenturm mit einem Hauch Kykladenflair. Die Tür der Georgskirche ist unverschlossen, wir treten ein in das 1778 erbaute Gotteshaus. Überraschend die mit Ranken sehr farbig bemalte, naiv wirkende, hölzere Ikonostase. Aber auch schön, irgendwie. Votivgaben zeugen vom Wunderwirken der Ikone. Ein Durchgang führt zur Nachbarkapelle des heiligen Kreuzes, sie ist deutlich jünger und weniger ausgeschmückt.

 

Als wir aus der Kirche treten weist eine ältere Frau uns auf eine Quelle hin, die in der Ecke der Terrasse sprudelt und deren Wasser sehr gut sein soll. Ob wir mit dem Kaiki um 16 Uhr wieder fahren würden? Ach so, mit der Fähre um 17.30 Uhr. Die Frau steigt in dem ruhigen Tempo der Einheimischen die Stufen hinauf, wer hier wohnt weiß seine Kräfte einzuteilen, und Grund zu Hektik gibt es sowieso keine. Wir schwitzen dagegen in der feucht-warmen Luft schon wieder.

Die Insel ist viel grüner als Fourni, üppig wachsen Feigen und Löwenmäulchen. Der Schroeder-Lehmann-Reiseführer von 1991 widmet dem unbekannten Inselchen Thymena unglaubliche vierzehn Doppelseiten, und erwähnt 446 Stufen bis auf den Bergrücken – eine Verwechslung? Denn es sind nicht annähernd so viele. Die Kirche auf dem Hügel wird aber nicht erwähnt – sie ist neueren Datums. Dort wollen wir hin.

 

Fremde werden hier noch neugierig begrüßt und nach dem Weg gefragt. Zur Kirche wollten wir, geben wir dem Fragenden Typ Seebär Auskunft. Ah, zur „Panagia“. Wir sollten mitkommen. Er führt uns einen Weg entlang zu einem staubigen Pickup, weist mich an, auf die Ladefläche zu steigen, und die Mutter, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Das Auto steht gegen die Fahrrichtung, Platz zum Wenden hat es keinen, so fährt er eben rückwärts drei-, vierhundert Meter auf einer schmalen Piste bis zu einer Kurve, hat er bestimmt schon tausend Mal gemacht. Für uns Endstation, er fährt dann vorwärts weiter, keine Ahnung wohin, viele Straßenkilometer gibt es auf Thymena nicht. Bis zur Kirche Agios Nikolaos kommt man aber, vier Kilometer entfernt, im Norden der Insel gelegen. Thymenas höchste Erhebung, der Papas, ist 470 Metern hoch, in der Terrain-Karte ist kein Weg hinauf eingezeichnet. Wäre ziemlich steil.

Bis zur Panagia-Kirche (auf der Terrain-Karte als „Agios Dimitrios“ bezeichnet) sind es nun nur noch dreihundert Meter. Leider fängt es an, große Tropfen zu regnen, wir haben aber Schirme dabei und lassen uns vom Ziel nicht abhalten. 

Unterhalb der Kirche jenseits des Kammes sehen wir nun die Bucht von Keramidou: eine Handvoll primitiver Häuser, eine Kapelle, eine paar Boote, alles um eine runde Bucht versammelt – es scheint das Paradies. Schade, dass es regnet, und so viel Zeit haben wir auch nicht, sonst würden wir da hinunter gehen.

 

Gelb blühen überall die Immortellen, der Regen hört wieder auf, wir sind bei der Kirche oben, die inmitten einer runden Terrasse thront und dadurch etwas festungsartiges bekommt. Ein schwungvoller flacher Glockenturm bildet das Tor, umrahmt beim Eintritt das Kirchengebäude. Der Blick zum Örtchen Thymena auf der einen Seite und nach Fourni und dem davorliegenden Inselriegel von Kisiria sind umwerfend! Die Beleuchtung, das Meer vor und hinter den Felsen des zerfransten Fourni-Archipels . Ein Kaiki und ein Segelboot begegnen sich unten im schmalen Meerarm. Wir finden  es wunderschön hier.

Schließlich betreten wir die Kirche, auch sie ist selbstverständlich unverschlossen. Sie ist komplett ausgemalt was um so mehr beeindruckt als sie erst in den letzten zehn Jahren erbaut wurde (an der Türe außen steht eine Jahreszahl, ich glaube, 2003). Wäre ein finanzieller Kraftakt für die Inselbewohner, offiziell 140 Menschen sollen auf Thymena leben, tatsächlich aber wohl viel weniger.

 

Wir verweilen einige Zeit in der Kirche, dann umrunden wir sie. Ein Grab auf der Terrasse fällt uns auf, das Bild eines jungen Mannes in Uniform ist in die schwarze Grabplatte eingeritzt, sein Name ist Dimitrios. Wurde die Kirche ihm zu Ehren gebaut? Gut möglich. Wir werden es nicht in Erfahrung bringen.

Die Sonne scheint wieder und betont die Farbgebung Thymenas. In der Ferne können wir die Insel Patmos ausmachen, mit dem Johanneskloster.  Auf der anderen Seite hintereinander die beiden Landarme Fournis und der Kerkis auf Samos. Unten im Ort legt das Kaiki ab, es ist sechzehn Uhr.

 

Wir bummeln gemütlich wieder hinab zum Ort, oberhalb der vermüllten Strandbucht und vorbei an der schmalen hohen Kapelle oberhalb des Ufers. Das Glockentürmchen ohne Glocke sieht aus wie von Le Corbusier entworfen. Hier ist auch der kleine Friedhof, nicht annähernd so reich wie auf Fourni.

Was da am Ufer vor sich hinkokelt ist ein mächtiger Baumstumpf. Anders weiß man sich ihm wohl nicht zu entledigen.

Am Hafen kann ich ein Dreirad ausmachen, kein italienisches „Bienchen“, sondern ein stupsnäsiges Mazda-Dreirad T1500, 1972 bis 1976 von Mazda Hellas in Athen hergestellt. Ein echter Oldtimer also, aber noch in Betrieb wie das Nummernschild zeigt. Ein Prachtstück für meine Sammlung, bisher habe ich nur verrottenden Exemplare davon gesehen.

 

Wir hätten jetzt Lust auf einen Kafedaki oder einen Frappé. Das Kafenio ist aber zu, ein anderes nicht in Sicht. Ein alter Mann kommt, setzt sich hin – was wir wollten? Kaffee? Kein Problem, wir sollen uns setzen. Er ruft um die Ecke, keine zehn Minuten später erscheint der Wirt, serviert uns das Gewünschte auf den verrosteten, aber mehrfach überstrichenen typischen Kafeniontischchen. Wasser in kleinen Plastikflaschen dazu. Der Alte sitzt neben uns. Ich erkläre dem Wirt gleich unser Ticketproblem – kein Problem, er würde den Kapitän anrufen. Was er in der nächsten Viertelstunde auch mehrmals vergeblich versucht – der ist wohl beschäftigt.

 

Ein Mann rudert mit einem Ruderboot samt Hund zu drei in der Bucht liegenden Kaikia und unterzieht sie einer Eimerwäsche. Sonst geschieht nichts.

Stille.

Die „Panagia Theotokos“ ist noch nicht in Sicht. Nachdem die Sonne hinter dem Papás verschwunden ist, wird es schattig und kühl. Halb sechs, die Fähre fehlt immer noch. Der Wirt hat nun den Kapitän an Telefon, man ist erst kurz vor Chrissomilia, das wird noch etwas dauern. Keine Hektik.

Wir reden ein wenig mit dem Wirt, der auch Zimmer vermietet und mir einige Visitenkarte mitgibt. Holländer würden ganz gerne kommen. Doch, das könnte ich mir mal für ein paar Tage schon vorstellen, im Zweifelsfall eben Proviant von Fourni mitbringen, oder rüber zum Einkaufen. Wenn ich es einmal ganz, ganz ruhig brauche.

Um sechs Uhr biegt dann die „Panagia Theotokos“ um die Ecke und legt an. Eine Handvoll Leute steigen aus, sie waren auf Ikaria oder Samos zum Einkaufen oder für Amtsgeschäfte. Auch ohne Fährtickets kommen wir problemlos an Bord, und das Schiff legt schon wieder ab. Vier Stunden Thymena – es hätte länger sein dürfen, es gäbe noch einiges zu entdecken. Blicke zurück.

Blicke auch nach vorne, schon sieht man Fourni-Stadt wieder, Badende am Ortsstrand, die Windmühle auf dem Sattel hat aufgetakelt, Saisoneröffnung der dazugehörenden Bar am Samstag? Da sind wir schon auf Samos…

 

Die „Panagia Theotokos“ legt nach knapp zehn Minuten Fahrtzeit am Hauptanleger von Fourni an – wir hatten kaum Gelegenheit, uns das Schiff  anzusehen. Eine Kiste wird ausgeladen, wir gehen von Bord. Dann schippert sie hinüber zu ihrem Stammplatz am nördlichen, kleinen Anleger am Ende der Hafenbucht und Werft. Macht für die Nacht fest. Ein Teil der Besatzung wohnt bei uns im Haus, im Erdgeschoss.

Kurz vor acht Uhr kommt dann wieder die „Nissos Mykonos“ von Piräus. Vier Fähren unterschiedlicher Größen präsentieren sich nun im Hafen: die große „Nissos Mykonos“, daneben die „Samos Spirit“, hinten die „Panagia Theotokos“ und vorne liegt immer noch das Kaiki „Spyridoula“, das die Ankunft der großen Bruders abgewartet hat bevor es in den Heimathafen nach Thymena zurückkehrt.

 

Inzwischen habe ich überlegt, dass es einfach besser ist, von Chrissomilia nach Fourni zu wandern statt in der Gegenrichtung – dann müssen wir nicht in einem womöglich kafeniolosen Ort stundenlang auf die Fähre warten. Wir werden um sieben Uhr die Fähre nehmen, und können in der Morgenkühle wandern, auf die heimische Dusche und ein kühles Radler zu.

Tickets brauchen wir aber jetzt schon, die Ticketagentur hat tatsächlich geöffnet, und der Drucker funktioniert auch wieder. Ich bestelle zwei One-Way-Tickets zu je ein Euro (mit Namen, wie es sich gehört), was bei der Angestellten die irritierte Frage nach der Rückfahrt auslöst. Meine Antwort „me ta podia“ löst bei ihr das – in Griechenland inzwischen von uns nicht mehr unerwartete – Unverständnis und Kopfschütteln aus. Die spinnen, die Touristen….

Wir essen wieder bei Nikos. Am Nachbartisch sitzt die Crew eines Katamaranes, acht Personen, amerikanische Flagge. Aber sie sprechen nicht Amerikanisch. Irgendwann merken wir: sie sprechen Türkisch. Bisher sind wir selten türkischen Seglern begegnet, allenfalls in den Inseln direkt vor der türkischen Küste. Na, so weit weg ist die ja trotzdem nicht.

Das Essen ist heute reichlich fettgetränkt und sehr üppig. Rotwein ist aus, aber der Weiße schmeckt auch sehr gut. Bleiben an einem der Tische Gräten und Fischreste übrig, so trägt der Pakistani sie, mit der Gabel an den Teller klopfend, hinüber zum Anleger – ein, zwei Dutzend Katzen folgen ihm, schlagen sich darum. Bei uns bekommen die Katzen auch noch etwas ab, Schlägereien unter dem Tisch und Flecken auf dem Boden sind die Folgen. Es gibt hier definitiv zu viele Katzen. Zwei halbwüchsige Geschwister toben spielend durch die Taverne, tragen zur Unterhaltung bei. Zum letzten Mal sehen wir das französisch-griechische Ehepaar, das wir noch von Ikaria kennen. Die unsympathischen Engländer haben wir nicht mehr gesehen seit sie und wir vor zwei Tagen von Bord gegangen sind, fällt uns da auf.

Den Gratisschnaps nach dem Essen nehmen wir gerne, brauchen ihn auch.

 

In der Nacht, gegen halb ein Uhr, kommt die Fähre „Nissos Mykonos“ zurück. Ich höre sie im Bett liegend, gehe raus auf den Balkon. Bei Nacht ist der Anblick des hell beleuchteten Schiffes noch eindrucksvoller. Es wird unser Abschied von der Fähre, sie kommt erst am Samstagabend auf dem Weg nach Samos wieder vorbei, aber wir werden die kleine Fähre am Samstagmorgen nach Karlovasi nehmen.

Aber morgen zuerst nach Chrissomilia.