Im Hinterland

Der Wind bleibt mir auch am Dienstag treu, der Himmel ist grau und bewölkt. Ich frühstücke drinnen und sortiere den Tagesplan. Busse fahren Ende April gemäß Auskunft an der Bus-Station ab Kissamos nur nach Chania. Auto will ich keines leihen. Dann muss ich mir eben ein Taxi nehmen wenn ich nach Sirikari und ab dort durch die gleichnamige Schlucht wandern möchte. Dann ein Besuch von Polyrrinía, schließlich weiter nach Kissamos. Dürften so 12 bis 13 Kilometer sein, meist bergab.

 

Um zehn gehe ich in nach Kissamos hinein und gucke mir an der Platia Venizelou die Tafel mit den Taxipreisen an. 30 Euro nach Sirikari - das ist mehr als erwartet. Aber gut, für Aufstiegshilfen muss man eben bezahlen. Zuerst erwischen die hintere Taxischlange, werde nach vorne verwiesen, wo ich in ein sehr gepflegtes Taxi einsteige. Ob es neu sein, frage ich den Fahrer. Nein, schon ein paar Jahre alt. Und dann fährt er in gemütlichem Tempo nach Osten aus der Stadt heraus, biegt kurz danach nach rechts in Landesinnere ab. Die Straße schlängelt sich zunächst sanft, dann steiler aufwärts, vorbei an den Orten Charchalianá, Choreftianá und Koukounará. Das weiche Licht, die Farben der Landschaft, die Berge und Täler - unglaublich schön! In Kalathénes dann auf eine schmalere Straße, und schließlich erreichen wir Sirikari, wo der Fahrer mich am offiziellen Beginn der Schluchtwanderung absetzt. Ich bezahle die 30 Euro, die ich für diese aussichtsreiche Ausfahrt von fast einer halben Stunde Dauer nun gut investiert finde. Es ist halb elf vorbei, und ich bin auf einer Höhe von 500 Metern über dem Meer. Der Himmel scheint noch grauer, hoffentlich regnet es nicht.

 

Ganz alleine bin ich nicht: ein PKW parkt hier, dazu gehört eine ältere Französin, die auf ihre wanderende Tochter wartet. Und einem zweiten Auto entsteigt ein Paar in Wanderkluft, das dem Eingang zur Schlucht entgegenstrebt. Der liegt unten, ein Übersichtschild an der Straße weist noch auf den Abzweig nach Kalathenes am unten Schluchtende hin. Es bezeichnet die Schlucht als Sirikari(o)-Schlucht, andere nennen sie Tsichliano- oder Polyrrinia-Schlucht.

 

Ich folge dem Paar auf dem schmalen Fußweg hinab. Hier oben blüht es zwischen üppigem Grün noch violett und gelb, Oliven- und Feigenbäume am Weg. Ich überhole das Paar, das sich im gelben Brandkraut ablichtet. Sie bleiben zurück und werden mich nicht wieder einholen. Falls sie den gleichen Weg wie ich genommen haben. Vor mir weisen vertikalen Felsenwände unmissverständlich den Weg in die am Boden grün baumbestandene Schlucht, die ich nun schnell erreiche. Ein trockenes Bachbett mit Steinen im Schatten dunkelstämmiger Bäume, Ahorn tippe ich. Es ähnelt anderen griechischen Schluchten und ist nur mäßig spannend. Den Schatten würde ich mehr genießen wenn es Sonne hätte. Aber es läuft sich angenehm dahin, der Weg ist nicht zu verfehlen und eben. Vom Flair fast mitteleuopäisch.

Interessanter wird es, als sich die Silhouetten von Geiern am Himmel abzeichnen. Da bin ich schon ein gutes Stück durch die Schlucht gewandert und sie weitet sich. Ich folge einem Geier mit den Augen, suche die Felsenwände ab, und entdecke ein Tier, dasvor einer Höhle auf einem Felsenvorsprung sitzt. Ein Gänsegeier. Er regt sich kaum, hat mich aber längst gesehen. Dann entdecke ich zwei weitere Tiere auf der Felsenwand gegenüber, über mir. Mit den Fernglas kann ich sie besser sehen, es muss sich um einen älteren Geier mit einem Jungtier handeln, da der Kopf und der Hals des einen Tieres dunkler gefärbt sind. Ich habe keine Ahnung, wann die Gänsegeier hier brüten, erfahre nach der Recherche dann, dass die Eier - in der Regel nur eines - schon im Februar und März gelegt werden, und die Tiere dann nach 52 bis 58 Tagen schlüpfen. Gut, dann ist das Tier schon zu groß um aus diesem Jahr zu sein. Aber wer weiß, ob sich die Tier hier noch an die klassischen Brutzeiten halten, im Wirrwarr des Klimawandels ohne richtigen Winter.

 

Ich suche mit dem Fernglas die anderen Wände ab, werde aber nicht mehr fündig. Es hat aber sicher noch mehr Nester oder Sitzplätze weiter oben, denn hin und wieder fliegt ein Geier hoch über mir über die Felsenkante. während sich die Tiere in den Felswänden nicht groß bewegen und auch keine Laute von sich geben. Schließlich gehe ich weiter, und war ich bisher alleine unterwegs, so begegnet mir nun erst ein einzelne Wandererin, und dann, fast am unteren Schluchtende bei einer kleinen Steinbrücke ein Gruppe von vier Personen. Skandinavier. Man grüßt sich.

Ich könnte jetzt rechts nach Kalathénes abbiegen, aber ich will ja nach Polyrrínia und halte mich geradeaus. Der Weg mündet wenig später bei einer Kapelle in eine Straße. Es ist Viertel nach eins, ich bin knapp zwei Stunden unterwegs.

 

Etwa zwanzig Minuten bleibe ich jetzt auf der Straße, nähere mich dem Hügel mit den Häusern von Polyrrinia, überragte von einer Kapelle. Mhh, ich glaube, da will ich hinauf. Hinter mir bleibt der olivgrüne Taleinschnitt mit der Schlucht zurück.

Schließlich erreiche ich Polyrrinia nach einer U-Kurve. Der Fußweg nach Kissamos würde hier links in flache Tal abbiegen, aber natürlich möchte ich mir den Ort mit den antiken Resten, der Oberstadt und der Kapelle angucken, und so gehe ich rechts auf einem schmalen Pfad hinauf, der die nächste Straßenkurve abkürzt . Blöderweise habe ich den Faltprospekt über Polyrrinia aus dem Museum von Kissamos zuhause liegen lassen (wäre eh nur auf Griechisch gewesen). Gleich am unteren Ortseingang stoße ich auf ein rundes Gemäuer, oder was davon übrig ist. Ein römischer Turm anscheinend, mit einer ausführlichen Erläuterungstafel zu Polyrrinia. Will ich es so genau wissen? Nein, eigentlich nicht, aber wenn ich die Tafel abfotografiert hätte, täte ich mich jetzt leichter mit der Wiedergabe von Wissen über Polyrrinia. Erspare ich uns und mir, und bummele leicht bergwärts durch die netten Gassen. Gerade mal 31 Einwohnern verzeichnete der Census 2011 für das Dorf. Nicht viel, und entsprechend ruhig ist es hier.

 

Ein Kafenio-Café zur Rechten - später. Da wird es dann leider geschlossen haben - es hat nur bis 15 Uhr geöffnet, wie ich später sehen werde. Jetzt ist es noch vor 14 Uhr. Etwas weiter stoße ich auf einen kleinen umzäunten Hof mit einer dahinter in den Felsen gebauten Kapelle. Sie ist offen und offenbar der Muttergottes geweiht. Besonders nett die Bank und der Tisch in einer Seitennische.

 

Oberhalb treffe ich nun auf Wanderer. Es sind eine oder zwei Gruppen oder Familien. Sie sitzen bei einem Lokal - gut, hier gibt es auch Erfrischungen. Ist mir jetzt zu viel los, also weiter aufwärts, nun auf einem Pfad, der sich durch Felsen und hohes Gras schlängelt. Prächtiger Riesenfenchel wächst schulterhoch an der Seite.

Fünfzig Höhenmeter höher erreiche ich dann wieder eine ebene Piste, und die alles überragende, leider geschlossene Kapelle der heiligen Väter samt Friedhof.

Alles überragend? Nein, zur Akropolis, zur antiken Oberstadt, geht es noch weiter hinauf: Ein runder Kegel erhebt sich steil östlich. Na, da gehe ich jetzt auch noch hoch. Der Weg führt erst südlich und östlich am Fuße des Kegels vorbei, ehe er in einem weiten Bogen an der nördlichen Kante zur Oberstadt hochsteigt. Die Vegetation ist eine grüne und blühende Pracht, der Himmel hat sich blau gemacht, und von der Ferne strahlt das Meer vor der Gramvousa-Halbinsel links und der Rodopou-Halbinsel rechts. Das Tal gen Sirikari-Schlucht ist mit olivsilbernen, teils geordneten Knotenbüscheln bedeckt ehe die Berge dahinter zackiger und grauer werden.

 

Das Gipfelkreuz mit Betonstotzen erreiche ich fast ein Stunde nachdem ich am Fuße Polyrrinias auf den Abkürzungspfad abgebogen bin - es war weiter oder länger als gedacht. Aber nun habe ich ein 360-Grad-Panorama, das besoffen macht. Was für eine Sicht! Was für ein Tag! Es geht doch nichts über Wandern bei diesem herrlichen Frühlingswetter!

Vorne die gelbkugeligen Euphorbienbüsche und das omnipräsente, fast schon verblühte Brandkraut, daneben die glatten Stengel des Ackerknoblauches mit ihren Zipfelköpfen, aus denen sich bald violette Blütenkugeln öffnen werden. Fehlte nur noch ein Sitzplatz für bequemeren Genuss.

Falls es hier Überreste der antiken Oberstadt gibt, so sind sie von dem Frühlingsteppich völlig überwuchert. Fast schon wie eine Modellanlage liegt unter mir die Kapelle der heiligen Väter. Und weiter rechts Kissamos. Das ist noch ein Stück, und ich sollte mich allmählich auf die Weiterwanderung machen. Auch wenn die Sonne im Ende April erst gegen 20 Uhr untergeht und der Tag noch lange ist.

 

Ich verzichte auf die abkürzende Direttissima von der Akropolis nach Süden, auch wenn ich mir den weiten Ostbogen damit ersparen könnte. Stimmen und kurz darauf die frankophone Familie kommen mir entgegen. Ach, es war schön alleine hier oben.

 

Von der Heilige-Väter-Kapelle steige ich wieder hinab in den Ort, rutsche dabei auf den langen glatten Grashalmen aus und setze mich auf den Hosenboden. Nichts passiert. Vielleicht hätte ich in dieser Richtung den Umweg über die Piste nehmen sollen. So verpasse ich weitere antike Hinterlassenschaften an der Wegschleife, aber das ist mir im Grunde egal, denn ich habe andere Prioritäten: ein kühles Getränk und vielleicht etwas zu essen. Gucke mir das Lädchen mit dem Selbstbedienungskühlschrank draußen an, wo vorhin die Leute saßen. Jetzt ist niemand mehr da. Drinnen gibt es diverses aus Olivenholz, das ich nicht brauche, und andere Souvenirs. Zu essen habe sie leider nichts, bedauert die Verkäuferin, und bietet mir dann einen Keks an. So bleibt es bei der kühlen Limo an den originellen Tischchen und Sitzmöbeln. Und weil das Café weiter unten inzwischen eben auch geschlossen hat, bleibt mit nur mein Proviant. Geht auch.

 

Der europäische Fernwanderweg E4 beginnt im Westen in Kissamos, und die erste Etappe führt über Polyrrinia nach Sfinari. Da werde ich also auch etwas Fernwandern, nur in der Gegenrichtung. Nachdem ich ganz am Anfang bei Polyrrinia kurz ein Stück falsch gegangen bin und zurück musste, ziehe ich nun öfters meine Outdoor-Active-App zu Rate. Es geht auf einer Piste, die irgendwann in eine befestigte Straße übergeht, mehr oder weniger gerade nach Norden, durch sanfte Hügel, die nicht so spannend sind. Ein paar Schafe lassen sich von mir nicht erschrecken, ein paar Anlieger, die mich mitnehmen könnten, ignorieren mich. Die letzten zwei, drei Kilometer ziehen sich in die Länge, die Sonne sticht und die Vorteile des Wanderns auf befestigter Straße weichen den Nachteilen des Wanderns auf befestigter Straße. Kissamos kommt viel zu langsam näher, obwohl die weißen Häuser ins nahe Grün ausfransen.

Am Schluss muss ich noch ein Geländestufe auslaufen.

 

Ich beende meinen Track um Viertel nach vier als ich die Hauptstraße von Kissamos erreiche und ziehe eine kurze Bilanz: 16,5 Kilometer, davon 3,8 bergauf, 8 bergab und 4,7 eben. Gesamtzeit fünfdreiviertel Stunden, davon viereinhalb in Bewegung. Länger als veranschlagt, der Abstecher zur Akropolis hat noch fast fünf Kilometer extra ausgemacht. Durstig stürme ich den ersten Minimarkt an der Straße, stürze noch im Gehen den kühlen Inhalt der erworbenen Dose Radler in mich hinein. Ahhh! Reicht nicht als Erfrischung, also noch ein Eis an der Platia. Und wo ich schon in der Stadt bin, kaufe ich auch gleich meine Fährtickets für morgen. Keine Spur vom Erstem-Mai-Streik hier in Kretas Westen. Die "Sporades Star" steuert gerade Kythira an und wird am Abend in Kissamos erwartet. Hätte also alles auch geklappt mit den Übernachtungen auf Antikythira und der Rückkehr heute, aber ich bin nicht unglücklich darüber, es umgeplant zu haben. Zu schön waren die drei Tage hier im Westen.

 

Nach weiteren Einkäufen im großen Synka-Supermarkt - Proviant für morgen, wer weiß ob es dort etwas gibt - bin ich erst um sechs Uhr wieder im Hotel. Das Zimmermädchen war auch heute kreativ, da wächst die Spannung auf morgen.

Bei einem zweiten Badeversuch im Meer beim Hotel scheitere ich - zu kalt ist mir heute das Meer, ich kann mich nicht überwinden, tiefer als bis zu den Knien einzutauchen. Der Wind ist immer noch kräftig, was ich beim Wandern kaum gemerkt habe. Als Ersatz springe ich kurz in den Hotelpool - kein vollwertiger Ersatz, aber besser als nichts.

 

Für das Abendessen wähle ich heute das "To Kelari/The Cellar" an der Paralia aus, das von nahezu ausschließlich ausländischen Touristen sehr gut besucht ist. Humus und Rindfleisch mit Kartoffeln auf kretische Art (was auch immer das ist) sind okay ohne überragend zu sein. Und während ich den unvermeidlichen Raki mit einem Stückchen Halvas zu mir nehme, nähert sich das Licht der "Sporades Star" dem Hafen im Westen. Verspätung hat sie schon, etwa eine Stunde. Mal sehen, wie das morgen sein wird. Ich bin so was von gespannt!

Insel Nummer 83 - ich komme!

Hoffentlich!