Im öden Norden und netten Osten

Mitten in der Nacht wird mein Schlaf durch laute Musik gestört. Sie kommt offenbar aus einer der Bars auf der anderen Buchtseite, und es ist nicht das erste Mal in Griechenland, dass ich erlebe, dass Leute glauben, mit ihrem Musikgeschmack nächtlich einen ganzen Ort beglücken zu müssen. Irgendwann bin ich müde genug, mich von dem Rhythmus in den Schlaf wiegen zu lassen. Und in der nächste Nacht gibt es eine Wiederholung, dieses Mal mit Disco-Rhythmen. Es ist Wochenende, ti tha kanoume.

 

Wie auf Skopelos kostet das Mietauto, das wir am Samstagvormittag in Patitiri leihen, für einen Tag 30 Euro. Das ist bei allen Autovermietern hier gleich, offenbar Kartellbildung. Ob die Leistung auch die gleiche ist, weiß nicht. Für die 30 Euro bekommen wir bei holidaycar einen Fiat Punto, der äußerlich ganz gut aussieht, aber schon 85.000 Kilometer auf dem Buckel hat. Das ist viel für eine Insel der Größe Alonnisos'. Er lässt sich miserabel schalten, zieht auch kaum, und die Stoßdämpfer sind ziemlich durch. Allerdings sind die Bremsen top, sonst hätte ich ihn wohl zurückgebracht. Am Abend werden wir 73 Kilometer zusätzlich auf den Tacho gebracht haben. Was mich selbst überrascht, ist die größtmögliche Entfernung ab Patitiri auf dem Wegweiser dort doch gerade mal mit 22,4 km (man beachte die krummer Nachkommastelle) bis Gerakas in hohen Norden angegeben. Dorthin zieht es uns auch zuerst.

 

Nach Norden aus der Agglomeration Patitiri-Votsi heraus steigt die Straße allmählich an und wird schnell schlechter. An einigen Stellen hat man freien Blick nach Osten auf die Nachbarinsel Peristera, sonst geht es durch eher lichten Wald. In weiterer Ferne schweben die Inseln der "Dio Adelphi", die zwei Brüder, wie treibende Schatten im beleuchteten Meergrau.

Die Höhenstraße wird nach der Abzweigung nach Steni Vala richtig schlecht, die riesigen Schlaglöcher zwingen zum Schritttempo um einen Achsbruch zu vermeiden. Hier fährt auch in der Saison kein Bus mehr, wohin auch. Ich erzähle Theo die Geschichte des Taxifahrers auf Skopelos und dessen deutsche Verantwortlichkeiten. Was sollen erst die Leute auf Alonnisos sagen?

 

Nach einer Dreiviertelstunde Fahrt erreichen wir eine hochgelegene Freifläche: eine Art Kreuzung, in der Karte als Diaselo bezeichnet. Hier tummeln sich reichlich Ziegen, wir legen einen kurzen Halt ein. Der Wind bläst kühl über die Höhe, schnell die Jacke anziehen. Es ist eben schon ziemlich Herbst, trotz der Sonne.

Zwei eng aneinander gekuschelte Ziegen - Mutter und Kitz - vermitteln kurz den Eindruck einer zweiköpfigen Ziege. Eine Täuschung. Seit wir den Radfahrer überholt haben, haben wir keine Menschenseele gesehen. Es gibt auch keine Ortschaften hier im nördlichen Inselinneren, allenfalls ein paar verstreute Höfe.

Von nun an geht es bergab. Auf einer Kurvenstraße über felsiges, nur noch vereinzelt waldiges Gelände nähern wir uns schnell dem Straßenende an der tief eingeschnittenen Bucht von Gerakas. Ich habe das Badezeug eingepackt, weil ich dachte, dass man hier nett baden kann. Dem ist mitnichten so, denn der kalte Wind in Kombination mit dem müllübersäten Schotterstrand vermittelt eher das Gefühl von Endzeitstimmung als von Badefreuden. Davor steht ein eingezäunter Wohnwagen. Nicht geschenkt wollte ich hier mein Mobilheim aufstellen.

Oberhalb der Bucht gibt es einige große weiße Gebäude, in denen man 1988 eine Meeresforschungsstation einrichten wollte. Eine Fehlplanung, wie man sie so oft erlebt, in Griechenland und anderswo.

Da tut es richtig gut, dass entlang der Bootsanleger einige kleine Kaikia liegen, und dort auch Leute zugange sind. Sie ignorieren uns nach Kräften, flicken ihre Netze und pinseln an ihren Booten. Eines bekommt einen neuen Rettungsring. Man liegt recht geschützt in der Bucht, auch wenn der Weg von der Zivilisation weit ist.

Und gegenüber deutet ein Unterstand mit bunter Stuhlauswahl und einem Kamin darauf hin, dass man sich auch mal zum Plaudern und Grillen zurückzieht.

 

Im Abschluss der Bucht sieht man die bergige, im Naturpark gelegene Insel Kyra Panagia (302 Meter hoch) liegen. Da wäre ich gerne hingefahren, wiewohl die laut Census 2011 zwei gelisteten Bewohner - früher waren es Mönche des Klosters Genisis tis Theotokou (Geburt der Muttergottes) - wohl keine Dauerresidenten mehr sind, die Insel also nicht als ganzjährig bewohnte zu sammeln ist.

Aber das bleibt ein Wunsch in diesem Urlaub.

Auch der anschließende Strandbummel - es gibt eine hübsches Bootshaus aus Natursteinen hier - kann uns von den Vorzügen dieser Gegend nicht überzeugen. Wir könnten auf dem nördlichen Kap bis zur Analipsi-Kapelle wandern, aber haben keine Lust. Schnell verabschieden wir uns wieder Richtung Süden, in der Hoffnung auf wirtlichere Landschaften und Orte.

Theo hat sich in den Kopf gesetzt, sich den Stausee von Alonnisos anzusehen. Er dient nicht der Energiegewinnung, sonst soll als Regenrückhaltebecken die Insel im Sommer und Herbst mit Wasser versorgen. Was dringend nötig ist, denn wie bereits geschrieben: Alonnisos ist nicht so regenverwöhnt wie man angesichts der grünen Vegetation meinen könnte. Die Straße, die von Koumarola nach Osten zu dem Becken führt, ist so neu wie der Stausee selbst, und die am besten erhaltenen Inselstraße. Warum man sie so breit angelegt hat weiß ich nicht, vielleicht fahren die Alonnioten (oder Alonnisioten?) hier manchmal Autorennen.

Ich gebe dann auch gleich eine Runde aus und umfahre das Becken, das nur wenig Wasser enthält, das wenige Nass ist vermutlich das Ergebnis von "Zorbas". Europa im Herbst 2018, ob am Rhein, Bodensee oder auf Alonnisos: es fehlt an Regen.

Aber wild fliegen Schwalben, Falken und Krähen über der Ebene hinweg, letztere sich gegenseitig heftige Luftkämpfe liefernd.

 

Weil die Straße nach Diaselo nur eine Piste ist, kehren wir auf dem gleichen Weg auf die Hauptstraße zurück und fahren weiter nach Süden. Der veilchengerahmte Blick hinüber nach Peristera und später hinab zur Ostküste ist grün und blau: die grüne Mischwälder und das kühle Azur des Meeres.

Nach fünf Kilometern biegt links eine Straße nach Mourtero ab. Das Dorf, das auf halber Höhe auf einer sonnigen Terrasse liegt, interessiert uns aber weniger. Auch wenn da die Pflanzenkundige Waltraud Alberti wohnt, deren Buch über die (Heil-)Pflanzen Griechenlands auch in meinem Bücherregel steht. Ich will hinab zu Küste, um vielleicht doch noch das gewünschte Bad im Meer nachzuholen, und Theo hofft auf ein kühles Bier.

Als Ziel haben wir uns daher Agios Dimitrios ausgewählt. Kein Dorf, nur eine kleine Strandsiedlung mit einer Lagune im Hinterland. Das von einem breiten Strand - mehr Kies als Sand - gerahmte dreieckige Kap können wir schon von oben aus gut sehen. Das Badeleben scheint für dieses Jahr beendet, und auch die Food-Bar (so heißt das jetzt wohl auf Alonnisos), die zwar durchaus einen offenen Eindruck macht - Tische und Stühle sind noch nicht weggeräumt, ist verwaist. Theo setzt sich trotzdem an einen der Tische, vielleicht erscheint der Wirt ja noch.

Ich stürze mich so lange in die kühlen Fluten. Kühl? Na, es liegt wohl eher am frischen Wind als am immer noch gut 21° warmen Wasser.

Ein Motorradfahrer hat sich dem Lokal genähert, ist auch abgestiegen und hat Theo eine Flasche Wein angeboten. So ohne etwas zu essen dazu ist das aber nicht das Richtige, deshalb unternimmt Theo lieber einen kurzen Strandspaziergang. An die Ostseite des Kaps schlagen heftige Wellen, während es im Süden ruhig ist. Und das Meer leuchtet. Schön hier.

Weil es aber inzwischen schon zwei Uhr vorbei ist, und sich ein gewisses Hungergefühl breit macht, dem hier nicht abzuhelfen ist, schlüpfe ich schnell wieder in trockenen Klamotten und wir fahren entlang der Küste nach Steni Vala. In dem malerischen Fischerdorf (wie oft ich in Griechenland schon diese Beschreibung gehört oder gelesen habe, und wie oft war es weder Fischer noch Dorf) sollen sogar mehrere Lokale geöffnet sein. Eines würde uns völlig reichen.

 

Als wir den Ort erreichen, ist der nicht nur wesentlich kleiner als gedacht (104 offizielle Einwohner, sieht aber nach weniger aus), sondern auch nicht wirklich ein Dorf. Aber eine nette kleine Bucht mit einer Marina und zahlreichen Ferienhäusern. Wir parken an der Bushaltestelle - es kommt ja eh kein Bus mehr dieses Jahr - und gehen entlang der Paralia. Hier ist richtig was los: ein Boot mit einer Taucherschule fährt gerade weg (es gibt zahlreiche Tauchanbieter auf Alonnisos), und dann sind da auch wieder die britischen Segler, die ich schon von Skopelos und von Patitiri kenne. Sie scheinen sich vermehrt zu haben, denn zu den bereits vertäuten Booten gesellen sich weitere, wie wir im Verlauf der nächsten Stunde beobachten können. Offenbar findet hier Segelunterricht statt, die Boote kommen mit Abstand von Patitiri her, hängen jeweils das Dinghi um, damit sie mit dem Heck voraus in den kleinen Hafen hereinfahren können.

 

Die Manöver beobachten wir von der Taverne "To Fanari" aus, die vom Reiseführer (Dirk Schönrock, Nördliche Sporaden, Auflage 2018) empfohlen wird. Man sitzt sehr schön da, und das bestellte Essen - gefüllter Kalamar für mich und frittierter für Theo - ist reichlich. Der gefüllte Vielbeiner ist, im Gegensatz zu den beigefügten gummiharten Ärmchen, weich und geschmacklich gut, die Tintenfischringe von Theo sind eher etsiketsi. Aber mit dem Maroulisalata und dem Weißwein eine schöne Meeresmahlzeit für den Mittag.

In der Küche waren Frauen am Backen, ich darf ein noch rohes Plätzchen probieren - ein nussgefülltes Hörnchen. Schmeckt nach mehr!

Um danach wieder auf die Beine zu kommen, benötigen wir noch einen Elleniko. 31 Euro 50 werden als Zeche fällig, eines unserer teureren Essen in diesem Urlaub.

Wir bleiben lange sitzen und dösen, reißen uns dann aber doch los und fahren weiter.

 

Der Strand von Kokkinokastro ist unser nächstes Ziel. Die letzten Meter muss man zu Fuß gehen, Theo bleibt lieber am Auto. Eine Felsenzunge aus rötlichem Gestein ragt hier, von der Sonne des späten Nachmittags beleuchtet, ins Meer. Gesäumt von grüner Vegetation. Südlich davon ein 250 Meter breiter Strand aus hühnereigroßen weißen Kieseln. Das Meer schimmert in Preußischblau. Wunderschön! Davor liegt die dreieckige kleine Insel Kokkinonisi.

Auf dem Felsenkap und von hier aus nicht zu sehen, gibt es die Mauern einer Akropolis aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert zu entdecken. Die Stadt Ikos lag hier, die tiefer gelegenen Teile liegen inzwischen unter dem Meeresspiegel und sollen sich bis zum roten Inselchen erstrecken. Im Sommer ist der Strand bewirtschaftet, jetzt ist alles abgeräumt, nur ein einsames Paar genießt am Nordrand die tief stehende Sonne.

Bequem sind die Kiesel aber nicht, selbst mit Schuhen läuft es sich hier schlecht.

 

Besser wäre es am Strand von Chrysi Milia, dem einzigen Sandstrand von Alonnisos, der sich entlang der nächsten südlichen Bucht zieht und schon im Schatten liegt. Das Meer hat sich inzwischen aufgehellt und leuchtet beinahe. Nein, ich muss nicht nochmals hinein heute.

Wir wollen doch noch einen Blick auf die Westküste werfen, und fahren wieder hinauf auf den Hügelkamm. Wie wäre es mit Lakka? Im Pistenwirrwarr auf der Höhe und im Wald rund um die Internationale Akademie für klassische Homöopathie kann man schon mal den Überblick verlieren, aber wir sind schon auf der richtigen Straße. Nur wird die immer schlechter und geht schließlich in eine Schotterpiste über. Doch wieder zurück, man sieht eh nichts.

Dann eben hinab nach Tsoukalia, wo die Karte eine antike Töpferei verortet. Aber das ist wieder so ein trostloser Ort mit Zäunen, Schafen und Ziegen, einer unechten Windmühle, die schon bessere Zeiten gesehen hat, und Mauern, hinter den Plastikgerümpel liegt. Vielleicht wäre es mit Sonne schöner, aber wir haben nicht das Bedürfnis, wiederzukommen um das zu erleben.

So kehren wir nach Patitiri zurück, wo wir versuchen, eine geöffnete Bäckerei und Supermarkt zu finden. Es ist Samstagnachmittag, da haben die meisten Läden zu. Im oberen Ortsteil werde ich aber noch fündig, tanke auch für neun Euro. Das Auto geben wir schon am Abend zurück, eher zum Unwillen der Verleiher, die in der späten Nachsaison ausgesprochen unlustig wirken. Falls es mich wieder nach Alonnisos verschlagen sollte - was vermutlich nicht so bald sein wird - werde ich mein Auto mit Sicherheit woanders mieten.

 

Wir sind noch satt vom späten Mittagessen, und so findet das Abendessen in Form von Käse und Knabberzeug auf dem Balkon statt. Von dort aus können wir schön beobachten, wie zwei größere Fischerboote am Pier anlegen und sich um Fang und Netze kümmern. Ob sie den berühmten Alonnisos-Thunfisch gefangen haben? Oder machen das eher kleine Boote? Am Morgen sind sie auf alle Fälle wieder weg. Und wir haben in der Nacht wieder das Vergnügen mit lauter Musik.

Morgen ist Sonntag, da sind die griechischen Nächte lang.

Unser Programm ist noch offen.