Nichts für Eilige: der südlichste Punkt Europas - Gavdos 1964

 

Autor: Joachim Männich, 1965

 

Sechs Stunden braucht das Boot, um den südlichsten Punkt Europas zu erreichen, bei günstigem Wind viel­leicht auch nur fünf. Der südlichste Punkt Europas liegt weder bei Gibraltar noch an der Südspitze Siziliens. Auch die Insel Malta kann diese Ehre nicht für sich in Anspruch nehmen, sondern ein Inselchen südlich von Kreta, das so unbekannt ist, daß man selbst im Großen Brockhaus vergeblich danach sucht. Es liegt noch südlicher als die nordafrikanischen Städte Tanger, Algier und Tunis:

Gávdos heißt das wenige Quadratkilometer große Eiland. Die Bewohner der Südküste Kretas nennen es auch zuweilen Kalypso und erzählen dem aufhorchenden Fremden bereit­willig, daß Odysseus auf einer seiner abenteuerlichen Fahrten hier auf Gávdos gelandet sein soll.

 

Wer dieses einsame Fleckchen Erde im libyschen Meer besuchen will, muß Zeit haben, viel Zeit. Gewöhnlich besteht nur einmal in der Woche über­haupt die Möglichkeit, nach Gávdos hinüberzufahren; dann nämlich, wenn das Postboot den Gávdioten die Zeitungen der vergangenen Woche und Briefe bringt. Kommt der Besucher aus Europas Norden von der nordkretischen Hafenstadt Chaniá her an einem Don­nerstag in dem Fischerdorf Paläóchora an der Süd­küste an - die fast achtzig Kilometer lange, kurven­reiche Fahrt mit dem Bus dauert immerhin einen halben Tag -, dann kann es sein, daß Kapitän Manoli ausgerechnet schon am Mittwoch mit seinem „Alkion“ in See gestochen ist und erst in einer Woche wieder fährt. Dem wehmütig westeuropäischen Verkehrsverbindungen nachtrauernden Fremden bleibt nichts anderes übrig, als eine Woche lang zu warten, wenn er sich nicht ein anderes Ziel suchen will.

 

Ich bin schon am Sonntag in Paläóchora angekom­men, brauche also nur eine halbe Woche zu warten. Es ist in der ersten Aprilwoche; wenn die Brandung nicht so stark gegen die Küstenfelsen donnern würde, könnte man sich die Zeit ohne weiteres mit Baden vertreiben. Am Mittwoch ist die See zum Glück ruhig. Kapitän Manoli und ein Helfer laden den Bauch des "Alkion“ mit Mehl und Reis, mit Limonadenflaschen und Wein, mit Schuhen und Töpfen voll - Gávdos ist eine karge Insel, und ihre Bewohner müssen das meiste, was sie zum Leben brauchen, von Kreta herüberbringen lassen.

 

Um zehn Uhr fahren wir los. Das Wasser ist ruhig, ein leichter Wind geht, und Manoli kann dem alten Dieselmotor mit einem Segel helfen. Über uns spannt sich weit der blaue Himmel. Im Dunst ganz fern am Horizont kann man Gávdos gerade als feinen Strich ausmachen. Wir fahren zu viert; der Polizeiboß der Insel ist auch mit von der Partie. Er hat in Paläó­chora die Monatsgehälter für den Lehrer, den Priester und die Polizeibeamten geholt. Manoli erklärt uns, daß die See diesmal so günstig sei, daß er nicht im Schutze der Küste fahren brauche, sondern die Inseln im direkten Kurs änsteuern könne. Das alte Boot macht so langsam Fahrt, daß wir trotzdem genügend Zeit haben, uns die Südküste des kre­tischen "Festlandes" zu betrachten, die langsam zur Linken vorübergleitet. Schroff steigt die Küste aus dem Meer empor, wilde, zerklüftete Felsen statt eines weiten Sandstrandes, und über allem thronen die schneebedeckten Gipfel der Lefka Ori, der „Weißen Berge“, die bis 2500 Meter hoch emporragen. Je weiter das Boot nach Südosten fährt und sich von der Küste entfernt, um so deutlicher läßt sich am nordöstlichen Horizont ein anderer schneebedeckter Gebirgsstock erkennen: der Ida oder Psiloritis, wie ihn die Kreter nennen. Der altersschwache Motor läßt das Boot so erzittern, daß ich den Feldstecher nicht ruhig vor die Augen halten kann, um mir den Berg näher heran­zuholen, der in keinem Kreuzworträtsel fehlt.

 

Die Küste bleibt zurück. Immer deutlicher schält sich unser Ziel aus dem Dunst heraus und nimmt Form und Gestalt an, je später es am Nach­mittag wird. Wir passieren erst das niedrige, lang­gestreckte Inselchen Gavdopoúla, das unbewohnt ist. Und dann, nach fünf Stunden, ist es soweit: wir haben die weltverlassene Insel erreicht, die in frü­heren Jahrhunderten Piraten aus vielen Ländern als Schlupfwinkel gedient hat. Von hier aus überfielen sie die Handelsschiffe im Mittelmeer, die Waren von Ägypten nach Venedig, von Konstantinopel in spa­nische Häfen brachten.

Kapitän Manoli steuert den „Alkion“ an der Nordküste entlang; nur im Osten der Insel ist eine geschützte Bucht zu finden. Das Boot muß draußen in der Bucht ankern, eine richtige Anlegestelle gibt es auf Gávdos nicht. Am Strand winken Leute, wahrscheinlich warten sie schon seit Stunden. Schließlich ist die Ankunft des Postbootes die einzige Abwechslung im eintönigen Leben dieser Inselbewohner. In einem kleineren Boot rudern wir zur Küste. Die Leute freuen sich sichtlich. Jeder der Ankommenden, auch der Fremde, wird von jedem mit Handschlag begrüßt, was sonst bei den zurück­haltenden Kretern gar nicht üblich ist. Und dann kommt gleich die Überraschung: hier am südlichsten Punkt Europas, auf diesem einsamen Inselchen, werde ich auf deutsch begrüßt. Das war nicht einmal in den Hotels der großen Städte der Fall. Einer der bärtigen Fischer hat mich natürlich längst als Deutschen erkannt und freut sich jetzt, vor den anderen mit ein paar deutschen Brocken glänzen zu können. Während ich noch überlege, wo der Mann wohl seine Deutschkennt­nisse herhaben könnte, grollt es in der Erde, und ich spüre deutlich, wie der Boden kurz erzittert. Auch die Gavdióten haben ihr Begrüßungspalaver unterbrochen, lassen sich von dem kleinen Erdbeben aber nicht weiter stören. Inzwischen erklärt mir der Bärtige, daß er vom Kriege her noch ein wenig Deutsch könne. Damals sollen etwa hundertfünfzig deutsche Soldaten als Besatzung auf der Insel gewesen sein.

 

Das „Dorf“ Kástri, ein paar ärmliche Steinhütten, liegt weiter oben auf dem höher gelegenen Teil der Insel. Bis dorthin muß man eine gute Stunde laufen. In ihrem unteren Teil unterscheidet sich die Insel in ihrem Charakter von der gegenüberliegenden Südküste Kretas. Sie ist bei weitem nicht so felsig und schroff; die Landschaft ist aufgelockerter, gerundeter. Wir laufen über große Steinplatten und Sandboden; in die Zypressenhaine sind ein paar kärgliche Felder eingestreut. Der Anblick des Dorfes ist entmutigend. Nirgendwo in Kreta, auch in hochgelegenen Bergdör­fern nicht, habe ich Häuser gesehen, die so kümmer­lich sind. Die kleinen Steinhütten sind nicht einmal mit weißer Farbe getüncht, wie es im übrigen Griechenland selbstverständlich ist. Die Innenwände haben nur einen rohen Verputz, mit den Fenstern und dem Fußboden hat man sich ebenfalls nicht viel Mühe gemacht. Nicht einmal ein richtiges Kafeníon, eines von den Kaffeehäusern, das die Griechen über alles lieben, gibt es hier. Ich sitze deshalb eine Zeitlang in der Polizeistation herum, wo das Funkgerät steht, das für die Inselbewohner zuweilen die einzige Ver­bindung mit der übrigen Welt bedeutet. Gegen Abend kommt Wind auf; es wird unangenehm kühl. Aber der Anblick von Kreta, der „Großen Insel", wie die Kreter ihre Heimat liebevoll nennen, entschädigt für vieles. Die schneebedeckten Berggipfel werden von der untergehenden Sonne in Rot getaucht, während sich unten an den Küsten milchigblauer Dunst zusam­menballt.

 

Geórgios, einer von den Gavdióten, die unten am Strand beim Entladen des Bootes geholfen haben, hat mich in seine Hütte eingeladen, und ich bin froh dar­über. Auf der ganzen Insel gibt es schließlich keine andere Übernachtungsmöglichkeit. Im Schein einer trüben Öllampe sitzen wir dann am Abend an einem roh gezimmerten Tisch in der Hütte eines Alten, der mit Gemischtwaren handelt und die deshalb das Kafenion ersetzen muß. Auf einen Kaffee müssen wir allerdings verzichten: der Alte hat keine Lust, Feuer zu machen. So viel Armut wie hier, so zerschlissene Kleider, so abgetragene Schuhe, und eine so einfache Ausstattung der Hütten habe ich bisher auf meinen Wanderungen in ganz Kreta nicht gefunden, Obwohl die Leute sehr gutmütig sind, gefällt es mir nicht recht; erst nach ein paar Bechern Wein fühle ich mich wohler.

 

Im Licht der Morgensonne sieht alles freundlicher aus. Trotzdem bin ich froh. daß wir heute wieder zu­rückfahren. Gesicht und Handrücken brennen furcht­bar. Ich habe mir am Vortag bei der stundenlangen Fahrt über das Meer einen anständigen Sonnenbrand geholt, ohne daß ich es bei der frischen Brise gemerkt habe. Unten in der Bucht, wo daß Boot vertäut liegt, warten schon ein paar Passagiere, die auch mitfahren wollen: der Vorsteher der Insel, zwei Flauen und ein Polizist. Ich wundere mich, dass sich niemand zur Abfahrt rüstet, und schon erklärt Kapitän Manoli freundlich, heute sei „viel Sturm“, man könne nicht fahren. Vielleicht sei das Wetter am Mittag besser. Ich verwünsche ihn im stillen samt seiner wackeligen „Alkion“, sitze bald im Schatten, bald wieder in der Sonne, weil mich friert. Mein bärtiger Freund ist auch wieder da. Gegen Mittag - der Wind hat natürlich unvermindert angehalten – fangen die Männer ein paar Fische und kochen sie an einer rasch improvisierten Feuerstelle. Alle Wartenden vertreiben sich erst einmal mit Essen die Zeit; die Frauen packen grobes Brot, Schafskäse, Oliven, gekochte Eier aus, und rundum wird zugegriffen; der Kapitän spendiert den Wein.

 

Furchtbar, dieses Warten. Ich würde gerne zur Südspitze der Insel gehen, zum Kap Tripití, um meinen Fuß nun tatsächlich auf den südlichsten Punkt Europa; zu setzen, aber nein: "Geh nicht weit, viel­leicht fahren wir in ein, zwei Stunden, wenn der Wind aufhört...“ Als die Sonne untergeht, warten wir immer noch am Strand. Kapitän Manoli nimmt mich auf sein Kaiki mit. Im Rumpf des Bootes wickle ich mich in ein Segel ein, denn die Nacht wird kühl. Zu der Einstiegsöffnung leuchtet ein Stück prächtigen kretischen Sternenhimmels herein und scheint im Rhythmus der leichten Brandung sacht zu schwanken; dicht am Ohr klatschen leise die Wellen an der Bordwand entlang.

 

Nach einer weiteren Nacht im schwankenden Boot merke ich im Morgengrauen, daß Manoli endlich Ernst zu machen scheint. Er holt seine Passagiere an Bord, es sind nurmehr drei, denn den beiden Frauen ist das Warten zu lang geworden. Der alte Motor be­ginnt zu tuckern, Manoli holt den Anker herauf und zieht einen alten Regenmantel über. Langsam nimmt das Boot den Kampf mit den Wellen auf. Kaum sind wir aus der schützenden Bucht heraus, beginnt der „Alkion" auf den hohen Wellen hin und her zu tan­zen, die Brecher klatschen von allen Seiten über das kleine Deck herein. Nach ein, zwei Stunden wird die See ruhiger. Das Boot stampft nicht mehr mühsam durch die Wellen, sondern schaukelt wiegend dahin. Kapitän Manoli ist diesmal auf die Küste zugefahren und hält sich in ihrem Schutz. Die „Weißen Berge" sehen von hier aus noch höher, noch gewaltiger aus.

 

Und nach sechs Stunden Fahrt haben wir endlich wieder kretischen Boden unter den Füßen. Mir kommt es vor, als sei ich in die Zivilisation zurück­gekehrt. Eine ganze Woche hat mich dieser Ausflug zum südlichsten Punkt Europas gekostet. Zeit muß der Gávdos-Fahrer haben, viel Zeit. Aber das sagte ich wohl schon.

 


 

In Erinnerung an Achim (1942–2022).