Volos und Xenophon

Es ist sieben Uhr am Morgen, als sich meine Befürchtungen bestätigen: die "Protefs" wird nicht fahren. Es ist Donnerstagfrüh, und seit Dienstagnachmittag hatte das Sturmtief mit dem klingenden Namen "Xenophon" den Fährverkehr in weiten Teilen der Ägäis stillgelegt und die "Protefs" auf Skopelos festgehalten. Allerdings war sie dann gestern Abend, parallel mit der "Express Skiathos", doch in Volos eingefahren. Und parallel zu uns. Unsere Anreise war aber etwas länger: Flug nach Thessaloniki, Bus X1 zum Busterminal Makedonia am westlichen Stadtrand (€ 2,-), Treffen dort mit Theo, Überlandbus nach Volos (€ 20,20), Ankunft nach 140 Minuten Fahrtzeit gegen 17.30 Uhr, zu Fuß zum Hotel "Jason" für eine Übernachtung. Und gleich im Ticketbüro nach der Abfahrt für den nächsten Morgen gefragt. Morgen um sieben Uhr würden sie es wissen.

Nun also nicht. Um 13.30 Uhr vielleicht die "Flyingcat 5". Oder am Abend, um Viertel vor acht, die "Protefs", dann aber nur bis Loutraki/Glossa im Norden von Skopelos. Ankunft um 23 Uhr. Mist.

 

Ich gehe erst mal frühstücken ins Hotel. Bei dünnem Kaffee und einem Käsetoast wird im Frühstücksfernsehen lang und breit erklärt, dass "Xenophon" almählich abziehe, aber dafür der Medicane "Zorbas" käme (der Name weil der Sturm so Kringel mache wie Alexis Zorbas). Medicane - auch so eine neue Wort(er)findung. Das kann ja heiter werden, aber bis Samstag lasse sich "Zorbas" noch Zeit, er tänzele erst über die Peloponnes und Kreta. Da bin ich hoffentlich doch irgendwie auf Skopelos. Wenn mich "Xenophon" läßt.

 

Dass ich für die Sporaden Ende September zu spät dran bin, hatte sich schon bei der Vorbereitung abgezeichnet. Aber es gibt terminliche Zwänge, denen auch meine Urlaubplanung unterliegt. Früher war also nicht drin. Und bis Montag hatte es noch 30 Grad und Sonnenschein an der Ägäis. Wäre ideal gewesen für meine Paddelpläne auf Skopelos und auch die Bootstour in den Marine-Park. Mit und nach dem Sturm wird das wohl schwierig.

Und ich sitze frierend unter grau-bewölktem Himmel. Im von den Berge des Pilion geschützt am Pagasitischen Golf liegenden Volos hat es kaum Wind, aber draußen über der Ägäis stürmt es.

 

Volos hat über 85.000 Einwohner, dafür präsentiert es sich an der Paralia städtisch, lebendig und mit Flair. Weniger schön die verrammelten, vermalten und vernachlässigten Läden zwischen Busstation und Hafen, die destruktive Kraft der Graffiti überall. Ich bin nicht wirklich scharf darauf, hier länger zu bleiben.

 

Gestern hatten wir noch in einem Tsipouradiko vorne an der Paralia Raki getrunken und Mezedes gegessen und von dem ewig gleichen Lied des Leierkastenmannes (nicht traditionell manuell betrieben, sondern elektronisch) nerven lassen - T'asteria tou voria bis zum Ohrenbluten. Puh. Kein optimaler Start.

Und es geht gerade so weiter.

Frustriert gehe ich nach dem Frühstück erst mal wieder ins Bett. Ich hab ja jetzt Zeit.

 

Theo, der in einem anderen Hotel abgestiegen ist, meldet sich um zehn. Er wird am Mittag auf den Pilion fahren, für eine Woche. Dahin war ich so wenig zu locken wie er nach Skopelos. Wir treffen uns in einer Woche wieder. Nun aber ein gemeinsames, für mich zweites Frühstück im "Stoa". Lauwarmer Nes in einer große Tasse und noch ein Toast. In der Grünanlage vor uns sind fleißige Gärtner am Werk, stutzen und entfernen Agaven und Büsche. Zwei Ape-Dreiräder dienen als ihre Fahrzeuge. Die lokalen Senioren treffen sich zum Zeitungslesen und Meinungsaustausch im "Stoa". Griechischer Alltag, unaufgeregt. Mir ist kalt. Sonne hab ich seit der Ankunft in Griechenland keine gesehen, während in der Heimat der Sommer kein Ende nimmt. Verrücktes Klima.

 

Theo und ich trennen uns, ich gehe aufs Zimmer, ziehe mich wärmer an und packe meine Sachen. Deponiere sie an der Rezeption. Frage, wie es mit einer möglicherweise notwendigen weiteren Übernachtung aussieht. Ja, wenn ich nicht zu lange warte. Mal sehen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

 

Natürlich fährt auch die "Flyingcat" nicht. Das hatte ich mir schon fast gedacht. Ob es mit der "Protefs" was wird? Ich informiere meine Vermieterin auf Skopelos und überlege dann, wie ich den Nachmittag herumbringe. Immerhin regnet es nicht. Also wandere ich zunächst entlang des Hafens, wo die beiden Fähren "Protefs" und "Express Skiathos" nebeneinander liegen. Die Express ist zwar nicht viel länger, aber dreimal so breit wie die kleine "Protefs" (auch "Protevs" oder "Proteas" oder "Proteus") der Fährgesellschaft von Symi, ANES, mit der ich 2010 nach Kastellorizo gefahren bin. Bei schönstem Wetter.

Um die Ecke dann die fliegende Katze und der Delphin. Beide mit Flugverbot heute und wohl auch morgen.

 

Entlang der Paralia, dem Nachbau der "Argo" (die Argonauten sollen hier ihre lange Reise begonnen haben) und dem Schild mit dem Syrtaki-Weltrekord (5.641 Menschen am 31. August 2012) schlendere ich bis zum negresco-ähnlichen Gebäude der Universität Thessaliens, wo die Mole beginnt. Auf ihr entlang bis zum Ende - fast ein Kilometer. Guter Blick auf Hafen samt Kränen, Schiffe, und die Hänge des nördlichen Pilion. Zwischen den beiden Katamaran-Rümpfen gähnt die "Express Skiathos" von vorne mit einem finsteren Loch entgegen. Ich gähne zurück. Noch sieben Stunden Zeit für Volos. Mindestens.

Der Wind ist stärker geworden, er bläst mit Macht über die Mole.

Wieder zurück und weiter entlang der Paralia. Ein netter Park mit Palmen und Kiefern. Die Kirche Agios Konstantinos dahinter ist mein Ziel, nicht alt (1955 wurde die Altstadt von Volos bei einem Erdbeben stark zerstört), und verschlossen, aber mit leuchtenden Mosaiken an der Front. Und einem hohen weihnachtsbaumähnlichen Gestell daneben. In drei Monaten dann...

 

Das Tsipouradiko "25ari" lockt zur Einkehr. Auf der glasgeschützten Terrasse sitzt man gut, und zum Glas Tsipouro kommen zwei Teller, einer mit gebackenen Kartoffelscheiben, der andere mit Mavromatia-Salat und eingelegten Sardellen. Schmeckt nicht schlecht, und ich beschließe, mir jetzt Volos und den Tag schön zu trinken. Zum zweiten Tsip kommt ein Teller mit Oktopus-Salat, ausgezeichnet, wenn auch etwas im Magen liegend.

Soll ich jetzt weitersaufen, oder mir doch noch etwas in Volos ansehen? Ich entscheide mich für Zweiteres, und zwar für das Rooftile and Brickworks Museum N. & S. Tsalapatas. Häh, Dachziegel und Ziegelsteine? Geht's noch? Aber erstes hat das Museum bis 18 Uhr geöffnet, während die anderen, staatlichen Museen schon um 15 Uhr schließen, zweitens gibt es überall archäologische und volkskundliche Museen, aber Ziegelstein-Museen? Kaum. Und drittens gehört das Museum zu denen der Stiftung der Piräus-Bank, die sich um traditionelle griechische Handwerke und Kleinindustrien kümmert. Wie auch das Marmorverarbeitungs-Museum in Pirgos/Tinos, und das hat mir sehr gut gefallen.

 

Ich bezahle acht Euro für Mezedes, Schnaps, Brot und Wasser und gehe - entlang der Reste der dreispurigen Gleise vergangener Bahnlinien und vorbei an einer Drehscheibe - Richtung Weststadt. Passiere den Bahnhof, wo mich zehn verrostete, bedacht nebeneinander stehende Dampflokomotiven zu einem Fotohalt veranlassen. Gegenüber gammelt ein einstmals blau gestrichener Wagen hinter diverser grüner Botanik vor sich hin, und das gelbe Bauzüglein mit den Graffiti-Bemalungen hat auch schon bessere Zeiten gesehen.

Wirklich hübsch und gepflegt ist aber das Bahnhofsgebäude, das der Vater des 1888 in Volos geborenen italienischen Malers Giorgio de Chirico, Evaristo De Chirico gebaut hat.

Früher war Volos mal ein Bahnknotenpunkt, daher auch die dreigleisige Strecke. Früher.

 

Das erhöhte Passagieraufkommen auf dem Bahnsteig und den Gleisen - wer will, geht einfach darüber - lässt mich auf einen bald kommenden Zug schließen. Tatsächlich kommt gerade ein derart mit Graffitis überzogener Triebwagen in den Kopfbahnhof, dass man die Originalfarbe nur noch erahnen kann. Die mit Kreide auf eine Tafel geschriebenen Abfahrtszeiten (eigentlich nur nach Larissa, wo man umsteigen muss) und die vor dem Bahnhof schlummernden Hunde runden das Bild ab. Eisenbahnen in Griechenland - das ist aktuell ein eher trauriges Kapitel (ob die Übernahme durch die italienischen Staatsbahnen 2017 daran etwas ändern wird?), darüber können auch Museumsbahnen wie die Pilion-Bahn kaum hinwegtrösten. Wir sind auch lieber mit dem Fernbus statt mit der Bahn von Thessaloniki gekommen - schneller und komfortabler.

Das etwas westlicher liegende, große, aus Glas und Ziegelsteinen errichtete Gebäude der Touristeninformation lockt mich an. Es gibt viele Prospekte über Volos und den Pilion, weniger über die Sporaden, die bis 2011 zum Bezirk Magnesia gehörten. Natürlich nehme ich die beiden Prospekte über die Pilion-Bahn für meinen Bruder mit. Mal sehen, ob Theo am Wochenende mit ihr fahren wird.

 

Zum Ziegeleimuseum mit der düsteren Reihe schwarzer Schornsteine ist es nun nur noch ein Katzensprung. Der Kartenverkäufer erschrickt fast über die Besucherin. Und fragt vorsichtshalber nach, ob ich wüsste um was für ein Museum es sich hier handelt. Ja, das wisse ich schon. Woher ich von dem Museum wüsste? Mhh, vorgestern im Internet gelesen als sich die mögliche Notwendigkeit eines längeren Volos-Aufenthaltes abzeichnete. Und die Empfehlung der Piräus-Bank-Museen (ich erwähne Tinos).

Erleichtet verkauft er mir für drei Euro eine Eintrittskarte. Und hat sogar ein deutschsprachiges Faltblatt für mich, mit einem Plan des Museums. Das ist notwendig, denn das Gelände ist weitläufig.

 

Das Museum befindet sich in der 1926 errichteten und 1975 stillgelegten Ziegelei der Brüder Nikoletas und Spiridon Tsalapatas, 22.000 Quadratmeter groß, davon 7.500 überdacht. Hergestellt wurden verschiedenen Arten von Backsteinen und Dachziegeln (8 bis 9 Millionen Ziegel im Jahr) , bis zu 250 Menschen arbeiteten hier. 1995 wurde die Ziegelei unter Denkmalschutz gestellt, und 2004 bis 2006 das Museum errichtet.

Nun hab ich mir bisher noch nie Gedanken über die Herstellung von Ziegelsteinen gemacht, und die zweisprachigen Tafeln - Griechisch und Englisch - überfordern mein Englisch (mein Griechisch sowieso). Ich folge einfach dem Weg durch die Produktion und versuche, diese nachzuvollziehen. Das gelingt nicht immer, aber die großen, zuerst dampf-, dann strombetriebenen Maschinen zum Mahlen des Tones, zum Pressen in Formen, und zuletzt der riesige Ringofen Marke Hoffmann, 50 mal 25 Meter groß, sind sehr beeindruckend. Und lernen tut man dabei immer etwas.

Zweimal treffe ich doch tatsächlich noch andere Besucher in dem verzweigten Gebäude. Bin ich vielleicht nicht die einzige Touristin, die heute ungewollt einen Tag in Volos verbringen muss?

 

Es ist Viertel nach fünf, als ich - vorbei an einer französischen Feldbahnlokomotive, Hersteller Decauville, und zahlreichen Loren sowie einem friedlich grasenden Kaninchen das Museum verlasse. Zeit, mich wieder um meine mögliche Weiterreise zu kümmern. Wieder durch das vernachlässigte Viertel, das aber jetzt etwas lebendiger geworden ist, zum Hafen ins Ticketbüro mit dem freundlichen älteren Herren. Er könne noch nicht endgültig sagen, dass die "Protefs" fahren würde, aber es sähe gut aus. In einer Viertelstunde wisse er genaueres.

 

Im überteuerten Yachting Club Volos nebenan bekomme ich für drei Euro einen Teebeutel, den ich in einer kleinen Tasse lauwarmen Wasser baden lasse. Egal, ich hab wieder Hoffnung, Volos hinter mir zu lassen. Wobei ich natürlich auch die Nacht noch hier bleiben könnte, und morgen Vormittag bei Tageslicht mit der "Express Skiathos" fahren könnte. Statt im Dunkeln zu fahren und nachts um 23 Uhr am falschen Ende von Skopelos anzukommen. Nein, das ist keine Option. Und wer weiß, was morgen ist. Dann kommt ja irgendwann "Zorbas".

Wenig später ist es Gewissheit: die "Protefs" fährt! 19.45 Uhr! Ich kaufe das Ticket (€ 23,60), versehe mich in einer Nussrösterei mit einer Ladung Sesam-Erdnüsse und getrockneten Papaya, besorge mir in einem anderen Laden mit lokalen Spezialitäten noch einen Tsipouro-Vorrat (die aus Rethymno stammende Besitzerin würde mir gerne ihren kretischen Tsikoudia verkaufen, aber ich bleibe beim lokalen Tsip-Angebot, und bereue das auch nicht - der verkaufte Tsip aus der offenen Abfüllung ist sehr gut). Zum Abendessen noch eine Bougatza, mehr brauche ich heute nicht mehr.

Und um 19 Uhr hole ich mein Gepäck im "Jason" ab und betrete die Fähre. Endlich geht es richtig los. Auf die Inseln.

 

Na, es dauert noch. Es wird acht, und es wird Viertel nach acht bis die Fähre glücklich ablegt. Dann dümpelt sie noch eine Viertelstunde in Anlegernähe herum, dass ich schon befürchte, sie fährt wieder zurück wegen irgendwelcher Probleme. Da wären die zahlreichen Passagiere nicht glücklich, nach zwei Tagen ohne Fährverkehr zu den Sporaden ist die "Protefs" ziemlich voll. Und der süsse Hundewelpe, der auf dem Deck herumtollt und sich über jeden freut, der mit ihm spielt.

Aber um halb neun nimmt sie Fahrt auf, Kurs Sporaden.

Auf Decke ist es kühl und zugig, in der schwarzen Nacht ist außer ein paar Lichtern im irritierenden Mix aus Festland, Halbinsel (Pilion) und Inseln (Evia, Paleo Trikeri) nichts konkretes auszumachen. Ich verziehe mich in den Salon.

Eine Durchsage lässt mich aufhorchen: wer nach Ankunft der Fähre auf Skopelos den Bus der Fährgesellschaft ANES von Loutraki/Glossa nach Skopelos-Stadt nehmen möchte, solle sich bitte an der Rezeption melden. Bus? Wirklich? Ich hatte mich schon auf ein kostspieliges Taxi eingerichtet. Also melde ich mich an der Rezeption und melde meinen Fahrwunsch an. Meine Name wird aufgeschrieben, der Bus würde neben der Fähre warten und Nonstop nach Skopelos fahren. Perfekt. Und der Preis? Kostenlos, beziehungsweise im Fährpreis inkludiert. Super Service! Danke, ANES!

 

Die Fahrt ist ruhig bis wir irgendwann vor elf Uhr übel zu schaukeln beginnen: die Fähre ist jetzt aus dem Windschatten des Pilion heraus auf der Überfahrt nach Skiathos. Gegen die mich jäh überfallende Übelkeit hilft nur frische Luft, und bis wir wieder in Windschatten von Skiathos fahren, starre ich in der Kälte und gegen den Wind in die von einzelnen Lichtpunkten gesprenkelte Dunkelheit gen Skiathos. Gegen Reiseübelkeit hilft das immerhin.

 

Beim Zwischenstopp in Skiathos entleert sich das Schiff ziemlich. Das dauert. Es ist schon Mitternacht. Schnell noch eine SMS an meine Vermieterin Vicki - es wird spät. Signomi!

Ich gehe wieder unter Deck, und schlafe sofort im Sessel ein. Die Durchsage, dass wir uns Glossa nähern, weckt mich auf. Upps, das ging jetzt schnell. Halb eins zeigt die Uhr. Ich hab zwölf Stunden Verspätung, und bin im falschen Hafen. Aber sonst ist alles in Ordnung.

Und ich bin gespannt auf Skopelos.