Von Kambos nach Mesta

 

Als unsere Fähre, die OINOUSSAI III, gegen halb neun am nördlichen Anleger von Chios anlegt ist an der Uferpromande noch sehr wenig los. Wir wollen etwas frühstücken und setzen uns in das Café am Wartesaal des Busbahnhofes. Dort treffen sich die Rentner für ihren morgendlichen Elleniko zur Zeitung. Uns steht der Sinn eher nach einem Omelette. Ich gehe rein an die Theke, gucke was es gibt und frage die Bedienung nach einem Omeleta. Das hätten sie nicht, meint sie, und erntet heftigen Widerspruch vom Mann hinter der Theke: sie hätten ganz wunderbare Omeletes! Wenig später bekommen wir zwei feine, grün durchsetzte Kräuteromelettes serviert. Die Quittung (ja, die gibt es jetzt eigentlich immer) wird, wie oft auf Chios, einfach mit Tesafilm an den Tisch geklebt. Der Koch fragte dann nachher ob es geschmeckt hat. Und wie!

Gegen zehn Uhr miete ich bei Chios Economy Rent a Car am Fähranlieger einen Hyundai Getz für acht Tage (25 Euro pro Tag). Wir werden das Auto am nächsten Montagsabend zurückgeben bevor unsere Fähre nach Piräus geht. Einen längeren Aufenthalt in Chios-Stadt haben wir gestrichen – die Stadt macht uns nicht sehr an: Zu groß und laut nach der Inselruhe von Psara und Inousses.

 

Wir fahren nach Süden aus der Stadt heraus, denn unser Ziel ist Kambos. Kambos, das ist das fruchtbare Gebiet südlich von Chios-Stadt, in dem sich zahlreiche Landsitze aus dem neunzehnten Jahrhundert inmitten riesiger Zitrusplantagen befinden. Hohe Mauern sichern die Früchte der Orangen-, Mandarinen- und Limonenbäume vor unberechtigtem Zugriff. Im Zitrus-Museum werden wir später viel über den Anbau, die ausgeklügelte Bewässerung und den Handel mit den Früchten erfahren. Jetzt machen wir einen Spaziergang anhand des neuen Reiseführers „Chios“ aus dem Michael-Müller-Verlag. Auf Psara und Inousses nutzte uns das Buch wenig – zu stiefmütterlich wurden diese Inseln abgehandelt (und ich hab den Verdacht, der Autor war gar nicht auf Inousses). Aber hier auf Chios wird es uns gute Dienste leisten (auch wenn wir einige ärgerliche Fehler finden und Wanderkarten vermissen werden).

 

Zwischen den hohen Mauern geht es sich stellenweise wie in einem Labyrinth. Selten kann man einen Blick auf die Zitrusplantagen werfen – schade. Aber die alten Häuser sind schön. Prächtige Wappen über den Toren, sandsteingestreifte Fassaden, maurischer Stil. Viele sind inzwischen in Hotels umgewandelt. Wenn man keine Orts- und Strandnähe braucht sind das bestimmt schöne Unterkünfte (muss ja nicht gleich in den Argentikon Luxury Suites sein – nichts für den schmalen Geldbeutel). Verlaufen kann man sich auch leicht hier – sieht alles so ähnlich aus. Die herabknallende Sonne lässt uns weiterhin an den Wetterprognosen für die nächsten Tage – Wettersturz mit Abkühlung auf 15°C – zweifeln.

Wir erreichen das Zitrus-Museum, das laut Reiseführer montags (heute ist Montag) geschlossen hat, aber zu unserer Freude trotzdem geöffnet ist (auch über den Mittag). Mit Öffnungszeiten ist man in Griechenland - vor allem außerhalb der Saison – sehr flexibel.

 

Das private Museum befindet sich in einem der schönen Landsitze (erbaut 1742), im Garten hat es ein hübsches Café, in einem Laden gibt es jede Menge lokaler Produkte – vor allem Zitrusprodukte - zu kaufen. Weitere Läden der Organiation Citrus Memory Scent gibt es in Chios-Stadt und Athen.

 

Der Eintritt in das Museum ist frei, die junge Frau, die im Café bedient, zeigt uns den Eingang und weist uns auf einen gut 20-minütigen Film hin, den sie für uns abspielt. Der ist auf Griechisch mit englischen Untertiteln, und man sollte ihn sich unbedingt ansehen wenn man sich für die Inselgeschichte interessiert.

 

Die Genueser führten im 15. Jahrhundert die Zitrusfrüchte auf Chios ein, das schnell zum internationalen Handels- und Umschlagplatz wurde und die Früchte als Luxusprodukte nach halb Europa und in den Vorderen Orient verkaufte.

Angebaut wurden und werden hier vor allem Bitterorangen, Grapefruits, Bergamotten und Zitronen, außerdem auch Quitten. Besonders bekannt sind die Mandarinen (Mandaríni Chiou), die hier inzwischen sogar eine DOC-Bezeichung (Denominazione di origine controllata) haben, also eine geschützte Ursprungsbezeichnung.

 

Im grundwasserreichen Kambos wurden die Plantagen mit einem ausgeklügelten System bewässert, Wasserräder förderten das Wasser aus Brunnen in Kanäle, die sich dann unter den Bäumen weit verzweigten. Der Anbau, die Ernte und die Verpackung (die Früchte wurden einzeln in dünnes bedrucktes Papier eingewickelt – das erinnert mich an meine Kindheit, da gab es das manchmal noch bei Mandarinen) war sehr arbeitsaufwendig, das Produkt teuer. Bis nach Russland reichten die Handelswege!

 

Die Globalisierung bedeutete Mitte/Ende des 20. Jahrhunderts das Ende des weltweiten Handels – die Konkurrenz war billiger, und viele der arbeitsintensiven Plantagen fallen inzwischen dem Bau von Häusern zum Opfer. Nun versucht man mit Likören, Säften, Marmeladen und Süßigkeiten die Früchte zu vermarkten und die Plantagenlandschaft des Kambos zu erhalten. Billig sind diese Produkte nicht gerade, aber diese über Jahrhunderte gewachsene Kulturlandschaft mit ihren schönen alten Villen ist unbedingt erhaltenswert!

 

Nach dem Museumsbesuch gönnen wir uns einen Saft und eine Schokoladen-Orangenkuchen im Gartencafé. Dort sind inzwischen fast keine Plätze mehr frei. Ist auch schön hier im Schatten der Bäume zu sitzen. Den wohlgenährten Katzen, die überall herumliegen, scheint es ebenso bestens gehen.

Ein Mittagsschläfchen wäre jetzt eigentlich nicht schlecht, aber wir haben ja noch kein Quartier und es mangelt hier fernab vom Strand an Liegestühlen. Also in der Mittagswärme zurück zum Auto, und dann Fahrt nach Südwesten. In einem der beiden Mastixdörfer Véssa oder Mestá würde ich gerne für die nächsten Tage unser Standquartier aufschlagen.

 

Die Abzweigung nach Agios Giorgios Sykoussis und zur nördlichen Straße haben wir irgendwie verpasst, und so bleiben wir auf der südlichen Straße bis zum Töpferdorf Armólia, am Fuße eines Berges mit Burgruine gelegen. Von hier gibt es eine Straße nach Vessa, und sie führt mitten durch das Waldbrandgebiet vom August 2012, das direkt hinter Armolia beginnt.

Panajia mou – das sieht wirklich übel aus! Keine Mastixbäume sind hier betroffen, sondern Nadelbäume – Kiefern vermutlich. Die Brandfläche erstreckt sich, wie wir in den nächsten Tagen sehen werden, von Armolia im Süden bis Vessa und Avgonima im Westen, Nea Moni im Norden und Agios Giorgios Sykoussis. Ich kenne Chios nicht vorher, aber es soll vor dem Brand an manchen Orten „schwarzwaldmäßig“ ausgesehen haben (sagte Dea) – davon ist nichts mehr zu sehen. Ein Jammer, und wir werden gelegentlich ein Gefühl von Herbst/Winter haben wie wir es in der Ägäis noch nie gespürt haben.

Jetzt streifen wir das Desaster aber nur.

 

Vessa ist eines der mittelalterlichen Mastixdörfer der Region Mastichochorio, gelegen in einem weiten (nun weitgehend verbrannten) Tal. Mittelalterlich heißt hier vor allem: braungrau in graubraun. Wer Vorstellungen von kykladisch-weißen Dörfern hat, der ist auf Chios definitiv falsch. Chios ist anders.

 

Wir stellen das Auto an der Durchfahrtsstraße ab und schlendern durch den nachmittäglich ruhigen Ort. Die Gassen sind so schmal, dass sie schon gezwungenermaßen autofrei sind – die Breite war ausreichend wenn ein beladenes Lasttier durch die Gassen passte. Viele Häuser wurden originalgetreu restauriert, die Gassen sind blumengeschmückt, weinüberrankt und aufgeräumt. Wir erreichen die Agios-Dimitrios-Kirche, die am oberen Ortsrand liegt und mit einem schönen Chochlaki-Bodenmosaik aufwarten kann. Hier hat man einen guten Überblick über den Ort, der sich fast in Tarnfarben an die steinig-verbrannte Landschaft anpasst. Ursprünglich war der ganze Ort von einer Mauer geschützt, diese wurde in sicheren Zeiten nach und nach durch- und aufgebrochen.

An der Platia hat es eine geöffnete Taverne, ein paar Leute sitzen dort. Sonst ist der Ort wie ausgestorben – gerade 113 Einwohner hat Vessa laut Census 2011. Wir haben eine Unterkunft gesehen, sie wirkte geschlossen. Irgendwie ist Vessa nicht das was wir uns vorgestellt haben – zu unbelebt, zu traurig.

 

Wir fahren weiter Richtung Küste. Die verbrannte Erde folgt uns bis kurz vor Eláta, einem Dorf, das malerisch an einem Hang liegt. Am Straßenrand steht im Ort ein Dreirad, das werde ich die nächsten Tage fotografieren, denn wir kommen hier noch ein paar Mal durch.

An der Küste liegen einige nette Badebuchten, zum Beispiel die von Agia Irini mit einem kleinen Bootsanleger, oder die von Potami. Gelegentlich ragen Wachtürme an der Küste auf, sie stammen von den Genuesern aus dem 14. Jahrhundert. Vierundzwanzig sollen es gewesen sein, eine Handvoll verteilt sich heute noch gut sichtbar entlang der Westküste.

Dann kommt der Hafen von Mesta, Limenas Mesta. Der Anleger ist riesengroß und betoniert, der Ort trostlos und überschaubar – eine Ansammlung von provisorisch wirkenden Häusern entlang der Küste, zahlreiche Fischerboote und -bötchen, eine Taverne, die Hafenpolizei, Müllcontainer – kein Ort um Urlaub zu machen. Irgendwie hatten wir uns das größer vorgestellt.

Bevor wir so richtig drin sind, sind wir auch schon wieder draußen, biegt die Straße wieder ins Inselinnere ab. Fünf Kilometer bis Mesta, und da liegen schon die steinfarbenen Häuser der grauen Stadt in einer Ebene vor uns – alles auf einer Höhe, überragt nur vom hohen roten Kirchendach und dem Glockenturm. Mal sehen ob wir hier fündig werden.

 

Wir stellen das Auto südlich des Ortes auf einem kleinen Parkplatz an der Bushaltestelle ab und gehen zu Fuß in den Ort. Die geschlossenen Stadtumrandung (Mauer wäre der falsche Ausdruck – sie besteht ja auch Wohnhäusern) ist noch vollständig, nur an der Toren kommt man in den Ort. Eine veritable Kastrosiedlung wie wir sie von den Kykladen kennen – nur nicht weißgetüncht malerisch-dekorativ, sondern steinern spröde, mehr an die Provence erinnernd. Die Dörfer waren hier alle so gebaut, und in der Mitte gab es eine Fliehburg, den Pyrgos – einen quadratischen Kasten, der letzte Rückzug in den Siedlungen, die vor allem auf gute Verteidigung ausgerichtet waren. Den Pirgos von Mestá (Ta Mestá – Plural Neutrum) gibt es nicht mehr – er wurde abgerissen und an seiner Stelle steht nur die große neue Taxiarchis-Kirche (um 1860, es gibt auch eine alte, kleine Taxiarchis-Kirche). Die Kirche ist geöffnet, und so können wir das helle, prächtig ausgestattete Gotteshaus besichtigen. Der Hof ist mit schönen Kieselmosaiken ausgelegt, und neben der Kirche liegt die heimelige Platia, an der sich zwei Cafés und ein Restaurant befinden.

 

Insgesamt wirkt der Ort mit seinen verzweigten Gassen überschaubar auch wenn man sich leicht verläuft. 337 Einwohner wurden 2011 gezählt. Verloren gehen kann man nicht. Wir landen am Ende einer Sackgasse und fragen drei nette schwarzgekleidete Frauen, die vor dem Haus handarbeiten, ob es hier weitergeht. Nein, da kommt man raus aus dem Ort – das wollen wir nicht. Über ihnen hängen schon die ersten Tomatenketten zum Trockenen an einer Hausfassade, typisch für die Mastichochoria. Wer kann bei dem Fotomotiv in Signalrot schon nein sagen? Noch dazu mit den drei Damen, die auch nicht gegen ein Foto haben. Sehr freundlich sind die Leute hier.

Mesta gefällt uns. Sogar sehr. Hier wollen wir bleiben. Im Internet habe ich vorher schon recherchiert – es gibt einige schöne Appartements in renovierten mittelalterlichen Häusern, zum Beispiel Lida Mary, Medieval Castle und Floradi. Nicht alle ganz preiswert. Aber dort treffen wir sowieso niemand an – ist die Saison schon zu Ende?

An der Platia direkt beim Restaurant „O Meséonas“ sitzt ein älterer Herr vor einem Haus und ein Schild preist die Zimmer von Dimitris Pipidis an. Ich frage ihn nach einem Zimmer. Ja, natürlich hat er eines, und ruft nach Koula, seiner Frau? Tochter? – er selbst hat nämlich einen verletzten Fuß und ist deshalb gehandicapt.

Sie führt uns eine Gasse entlang der Platia nach Osten und zeigt uns eine Wohnung, die sich über dreieinhalb Etagen erstreckt: Bad und Küche unten, kleines Wohnzimmer und Balkon eine (hohe) Etage höher, und ein paar Stufen darüber das schöne Schlafzimmer, das mit seinem Spitzbogen ein wenig an einer Kirche erinnert. Darüber noch ein weiteres Schlafzimmer, das wir nicht benötigen. Vierzig Euro soll die Wohnung pro Nacht kosten, ein fairer Preis. Wir schlagen ein, und wie ich noch überlege wo denn nun eigentlich das Auto mit unserem Gepäck ist, und wie wir das über das mittelalterliche Kopfsteinpflaster schleppen sollen, meint Koula, direkt hinter dem Haus wäre ein Stadttor, da könnten wir mit dem Auto herfahren und ausladen. Stimmt, durch das Tor ist man schon wieder draußen aus dem Ort, und da ist ja auch schon der Parkplatz. Mestá ist kleiner als man denkt.

Wir richten uns ein und kaufen im benachbarten Mini-Minimarkt ein paar Lebensmittel für die nächsten Tage. Brot gibt es dort auch. Und da ist auch noch eine Psistaria namens „Mestousiko“.

 

Am Abend gehen wir aber ins „O Meséonas“ an der Platia. Die Taverne wird im MM-Reiseführer empfohlen, und man sitzt sehr nett an der Platia. Nur wenige Touristen verlieren sich am Abend dort, die Saison ist definitiv vorbei. Eigentlich hatte ich gedacht, dass auf Chios mehr los wäre. Und wo sind eigentlich die türkischen Touristen, die anscheinend in der Nachsaison so gerne und verstärkt nach Chios kommen? (Touristische Websites über Chios sind oft in Griechisch, Englisch und Türkisch verfügbar.)

Wir sind nicht so hungrig und bestellen nur ein paar Kleinigkeiten – Kolokithokeftedakia, Bekri Meze, Skordalia – und es schmeckt sehr gut! Mit 18 Euro (ein halber Liter Wein und Wasser inklusive) auch preiswert. Wir kommen wieder. Und das nicht nur weil uns die nette Wirtin Despina am nächsten Tag die liegengebliebene Tasche meiner Mutter nachträgt und es an der Platia ein offenes WLAN gibt.

Mesta – ein Volltreffer!

 

Dann werden wir uns die nächsten Tage mal in der Umgebung umgucken.