Von Chrissomilia nach Fourni

 

Ungefrühstückt verlassen wir das Haus um kurz vor sieben Uhr am Morgen. Vielleicht haben wir Glück und finden in Chrissomilia ein geöffnetes Kafenio. Wenn nicht, so haben wir reichlich Vesper und Wasser dabei. Wie wir aus dem Haus treten sehen wir die „Panagia Theotokos“ ablegen. Hallo, wir wollen mit, und es ist doch noch gar nicht sieben Uhr!

Schreiend laufe ich vor zum Ufer, schaffe es, mich auf dem Schiff bemerkbar zu machen. Ein Mann, der in der Werft an seinem Kaiki arbeitet, ruft „trexte, trexte“ (lauft, lauft!), und das machen wir dann auch – wir rennen zum Anleger. Um dort zu erkennen, dass die Fähre sowieso wieder angelegt hätte – sie hat nur anders angelegt, mit der Klappe nach hinten, damit Baumaterial an Bord getragen werden konnte. Besatzung und einige Pakistani empfangen uns grinsend.

 

Pünktlich um sieben Uhr geht es dann wirklich los. Zuerst hinüber nach Thymena, wo die Pakistani das Baumaterial abladen. Die Pakistani sind wohl die neuen Albaner…. Das Fährkaiki liegt noch dort, es fährt erst später hinüber nach Fourni. Weiter geht die Fahrt nun um den nordwestliche Zipfel von Fourni herum, dann hat man einen guten Blick auf unser Ziel und unsere heutige Route – die Straße ist vor allem im nördlichen Bereich prägnant in den Berg hineingefräst – diese Verschandelung konnten wir schon von Ikaria aus bewundern. Der Weg zieht sich erst hinauf auf fast 400 Höhenmeter, entschwindet dann auf die andere Inselseite um weiter südlich wieder zu erscheinen und sich fast bis auf Meereshöhe abzusenken, eher es wieder bergauf nach Panagia geht. Das letzte Stück soll laut Karte ein altes Monopati abkürzen können. Vierzehn, fünfzehn Kilometer schätze ich, und es sieht ordentlich weit aus. Ich verschweige der Mutter das Auf und Ab, es könnte sie demoralisieren.

 

Das Wetter ist bewölkt und trübe, wenn wir Pech haben wird es unterwegs regnen. Aber heute ist die letzte Gelegenheit, denn morgen bleibt die Fähre den ganzen Tag in Fourni.

Ein markanter dreieckiger Felsen wird passiert – er wirkt von der Ferne wie ein Segelschiff. Dann sehen wir Chrissomilia (= die Goldstimme) schon vor uns liegen. Genauer: unten am Ufer Kambi Chrissomilias und ein ordentliches Stück darüber (150 bis 200 Meter) den eigentlichen Ort. Ungefähr eine halbe Stunde waren wir unterwegs, als wir in Kambi anlegen. Außer uns verlässt nur ein junger Mann mit einem Farbeimer das Boot, er wünscht uns einen „good walk“ bevor er in ein Auto steigt und an das andere Buchtende zu einem Kaiki fährt.

Dass hier um halb acht Uhr am Morgen kein Lokal geöffnet ist, ist uns schnell klar. Ein echter Fourni-Ort: viele Boote, wenig Häuser, etwas unaufgeräumt, und still. Am Südende des Anlegers beginnt eine Straße, die sich in Serpentinen hinauf nach Chrissomilia windet. In der Karte ist ein Fußweg eingezeichnet, die Direttissima. Ich frage einen Fischer, außer dem jungen Mann und einer Katze das einzige sichtbare Lebewesen, wo der Weg abzweigt: gleich hier, hinter dem Haus.

Dann geht es aufwärts.

 

Endlose Stufen. Zum Glück ist es noch früh am Morgen und bewölkt, damit frisch. Gefühlte tausend Stufen später sind wir an den ersten Häusern von Chrissomilia, aber es geht weiter aufwärts, am Rande des Ortes entlang. Rund hundert Einwohner soll Chrissomilia haben (vierzig Kambi Chrissomilias), wir sehen keine einzige davon. Und auch kein geöffnetes Kafenio. Schließlich erreichen wir auf etwa zweihundert Meter Höhe die Straße nach Fourni – vierzehn Kilometer werden angezeigt. Wobei wir hoffen, die letzten Kilometer abkürzen zu können….

Die Straße steigt auf den nächsten zwei Kilometern kontinuierlich an, bis auf etwa 350 Meter über Meer.

Der Himmel klärt sich, und der Blick auf Ikaria, Thymena und auf Fourni ist überwältigend! Die runde Bucht erinnert fast an Santorin, auch wenn die Hänge nicht so steil sind. In der ersten Stunde überholt uns nur ein Auto, es bremst, bereit, uns mitzunehmen. An einem einsamen Gebäude, das von der Ferne wie eine Taverne aussah, rasten wir, Frühstück um neun. Nur Kaffee fehlt.

 

Es geht weiter bergauf, ein Verkehrsschild zeigt zwölf Prozent. Die Straße wurde erst in den letzten Jahren asphaltiert, gnadenlos in den Hang gefräst, der sich an manchen Stellen durch Abrutschen und Bröckeln rächt. Hinter uns wird die Pyramide des Korakas sichtbar, des höchsten Berges von Fourni, 514 Meter hoch. Und an einer Stelle können wir auch nach Osten gucken, zum Kerkis auf Samos.

An der höchsten Stelle der Straße steht die Kapelle des heiligen Charalambis, kurz danach zieht die Straße in einem Bogen auf die andere Inselseite hinüber, ein Schäfer treibt seine Schafe hinaus. Diesen und den zahlreichen Ziegen ist es zu verdanken, dass die Insel so kahlgefressen ist, hier im Nordosten der Insel sind Bäume Mangelware, nur Steine und niedrige Macchia wachsen.

 

Unter uns liegt jetzt die Insel Agios Minás, nur noch sporadisch von Hirten und Arbeitern einer Fischzucht bewohnt. In einer Bucht gegenüber die Häuser des Weilers Kamari.

Die Sonne brennt inzwischen doch ganz gut, und das Gehen auf der Straße macht auch nicht mehr die Anfangsfreude. Den weiteren Verlauf der Straße können wir gut einsehen, die Mutter merkt nun, was ich schon länger wusste: es geht fast bis auf Meereshöhe hinab ehe die Straße dann auf den Bergrücken oberhalb Fournis aufsteigt. Das gefällt ihr nicht. Ich sehe aber auch das alte Monopati, das die letzte Kurve abkürzt und das ich gerne nehmen möchte. Es ist aber noch ein Stück bis dort, und zunächst geht es bergab. Noch eine große Herde, eine Kreuzung mit einer netten Ikonostasi, mal wieder ein Auto, das dritte bis jetzt. Seit Chrissomilia sind wir jetzt zwei Stunden unterwegs, plus der halben Stunde Aufstieg von Kambi Chrissomilias. Die Hälfte haben wir.

Ein weiteres Fischerdörfchen liegt nun recht an der Küste, Balí heißt es, und assoziiert Fernost. Oder Kreta. Das nächste Auto, das uns entgegenkommt, ist die Müllabfuhr – die wollen uns jetzt nicht mitnehmen.

An der tiefsten Stelle, nur vierzig Meter über dem Meer, verzeichnet die Terrain-Karte zwei Mülldeponien und einen Steinbruch. Schutt, betonierte Wände – hier ist es nicht schön. Aber den zahllosen Ziegen gefällt es. Dummerweise vermute ich, dass das Monopati weiter vorne abzweigt, versuche es in einem trockenen Bachlauf, komme aber nicht hinauf. Dann sind die Felsen links zu hoch um hinaufzukommen. Wir hätten auf dem niedrigen Kamm zwischen den Ziegen schon den Weg suchen sollen, dort war es flach. Zurück steht aber auch nicht zur Debatte.

Ein weitere Versuch, ich mache einen Weg aus, aber man muss ziemlich klettern. Obwohl von der Straße genervt, will die Mutter da nicht hinauf und bleibt auf Asphalt. Dann ist es eben nichts mit Abkürzen.

 

Das nächste Stück wird hart, es geht wieder aufwärts, und die Wanderlust ist auf dem Tiefpunkt. Auf der Straße Gehen hat ja den Vorteil, dass man gleichzeitig gucken und laufen kann und sich nicht auf den Weg konzentrieren muss. Aber die Füße brennen irgendwann.

Dabei ist die Aussicht nun verschärft genial: wir können sehen wie weit wir schon gewandert sind, unten locken sandige Buchten. Das Auto, das jetzt radiolautsprecherdröhnend vorbeifährt, ist der Fischhändler. Fahrende Fischhändler auf Fourni – ein Paradoxon? Während der ganzen Wanderung auf der Straße hat uns kein Dutzend Autos passiert, man muss sich also wirklich keine Sorgen machen wegen wachsenden Verkehres. Schade nur, dass die Straße dennoch den alten Weg und die spätere Piste ruiniert hat – die wären schöner zu laufen gewesen.

Nach einer letzten Ikonostase und einer letzten Kehre sehen wir die Kirche Panagia vor uns. Von hier geht die Direttissima in einem trockenen Bachbett hinab nach Fourni, das wir vom Kirchenvorplatz aus sehen können. Oder rechts entlang, über einen Hügel mit der antiken Akropolis und einer Georgskapelle.

Nach einer Rast entscheiden wir uns für den linken Weg, der zwar gut erkennbar ist, aber trotzdem ziemlich zugewachsen ist, steil und steinig. Vorsicht ist angesagt bei den losen Geröllbrocken wenn man so mit Schwung von oben kommt.

 

Wandern auf Fourni ist nicht wirklich vergnügungssteuerpflichtig, die Wege verkommen. Eine halbe Stunde brauchen wir für den halsbrecherischen Abstieg, hätten wir die Tour in der Gegenrichtung gemacht, hätten wir vielleicht hier schon aufgegeben. Der Himmel ist wieder zugezogen und grau, sicher wird es bald regnen.

 

Fünf Stunden nachdem wir in Chrissomilia das Schiff verlassen haben erreichen wir – zuletzt durch verblüffend grünen Gärten und müllrecyclende Hühnerställe – die Platia an der Kirche in Fourni. In der ersten Taverne, zufällig das „Kali Kardia“ fallen wir ein zwecks Flüssigkeitsaufnahme.

Ob wir auch etwas wessen wollen, werden wir vom freundlichen Wirt gefragt (der hat wohl im Heu gearbeitet, an seinem Hemd hängen Strohhalme). Er hätte gebratene Minifischchen. Hatten wir zwar nicht vor, aber wir ordern eine Portion, die zusammen mit Brot, Bier und Limo gut schmeckt. Die Taverne ist nur klein, drei Tischchen vor dem Haus. An einem sitzt ein Paar merkwürdige Engländer, fleißig  biertrinkend, sie zahnlos, Unterschicht, Stammgäste offenbar.

Plötzlich bekommen wir noch einen Teller Fischchen auf den Tisch gestellt. Eigentlich waren wir schon satt, und da die Portion nachher auch – zu einem günstigen Preis allerdings - auf der Rechnung auftaucht, missfällt uns dieses Geschäftsgebaren. Eine dritte Portion bekämen wir umsonst, sagt der Wirt, aber wir lehnen ab. Da werden wir wohl doch nicht mal zum Abendessen herkommen.

Den Nachmittag entspannen wir auf dem Balkon, gönnen uns später Kaffee und Kuchen (Galaktobureko – lecker!) im benachbarten Café („homemade cakes“). Es regnet immer mal wieder leicht, aber nicht so stark, dass sich irgendeiner der Einheimischen davon beeinträchtigen ließe.  Ein junger Mann lenkt ein ferngesteuertes Schiff durch den Hafen, ein kleines Modell eines Fischerkaikis. Da fällt mir ein, dass vor fünfzehn Jahren die Jungs hier am Ufer mit selbstgebastelten Blechschiffen spielten, aus alten Olivenkanistern. Schiffe auf Fourni – die Nummer eins. Wer spielt da mit Autos?

 

Gegen halb sieben kommt die „Panagia Theotokos“ von ihrer Inseltour zurück, morgen hat sie Ruhetag.

Wir essen spät und nur wenig bei Miltos, hatte ja schon reichlich über den Tag verteilt. Die Insel ist leerer geworden seit unserer Ankunft am Montag, viele Gäste sind heute Nacht abgereist. Aber die Saison beginnt ja erst.

 

 

*

Freitag, unser letzter Tag auf Fourni.  Wir könnten noch in den Inselsüden wandern, aber nach den gestrigen Erfahrungen haben wir keine rechte Lust. Außerdem regnet es immer mal wieder.

So mache ich eine Fototour durch die betriebsame Werft und hinauf zum Windmühlenstumpf oberhalb davon, beobachte die Ausbesserungsarbeiten am Schornstein der „Panagia Theotokos“.

Sehe den Leuten des amerikanisch-türkischen Katamarans beim Wasser-Schleppen zu:  eine Frischwassertankstelle mit Schlauch scheint es am Anleger hier nicht zu geben, so werden alle Wasserbehälter aktiviert, von der Wasserflasche bis zum 10-Liter-Eimer, und eine gut einstündige Prozession im Gang gesetzt. Nur der Skipper muss nicht schleppen, er trägt auch die Verantwortung. Gegen Mittag legt das Schiff dann ab.

Unsere Zimmervermieterin Katerina werkelt in ihrem „Garten“ neben dem Haus, sie ist sehr stolz darauf. Da die nackte Erde kaum etwas hergibt, hat sie viele Pflanzen in großen Kübeln, halbierten Ölkanistern und leeren Fischtransportkisten angepflanzt. Gärten auf Fourni – wenn sie mitteleuropäische Gärten sehen würde….

 

Am Nachmittag gehen wir am Friedhof vorbei zum Kambi-Strand, genauer: zuerst in die Taverne „Giorgos“ auf einen griechischen Salat und gekochte Zucchini mit Kartoffeln. Ein halber Liter Weißwein nicht zu vergessen. Zum Glück sind wir drinnen, denn es geht ein ordentlicher Regenguss nieder. Die Taverne mit ihrem Aussichtssitz ist ein herrlicher Platz um abzuwarten bis der Regen aufhört und über das grüne Tal von Kambi und die vorgelagerte Insel Kisiria (auch Diapori genannt) zu gucken.

Danach gehen wir noch an den Strand, das Wasser hat leicht zugelegt auf zwanzig Grad Celsius, aber die Zahl der Badegäste ist geschrumpft. So entblättert sich die Mutter ausnahmsweise etwas mehr und wir sind beide völlig verdattert als plötzlich drei Männer – zwei davon sind die inzwischen wohl unvermeidlichen Pakistani - einen Betonmischer direkt an uns vorbeischieben und hinter einem der Häuser in Strandnähe verschwinden. Die reinste Fata Morgana….

 

Auf dem Rückweg sehen wir die Inseln Fourni, Kisiria, Thymena und Ikaria hintereinander liegen, wobei sich über den Bergrücken des Atheras auf Ikaria wasserfallartige Wolken wälzen, ein beeindruckender Anblick!

In Fouri-Stadt kaufe ich die Tickets für die Fähre „Panagia Theotokos“ um sieben Uhr am nächsten Morgen. Sechs Euro zehn kostet die Passage pro Kopf. Diese Fähre (früher „Blue Velvet“) fährt übrigens – weitab der genannten Kykladen – für die Linie „Paros-Antiparos“ – kann mir das jemand erklären?

Die Ticketverkäuferin ist völlig hilflos gegenüber den Fragen eines französischen Touristenpaares, das nach Thymena will. Die junge Frau, chic gestylt, weiß kaum die eigenen Fährzeiten, oder ist es ein Sprachproblem? Ich helfe aus so gut ich kann, verweise auf das Kaiki und die Kleinfähre. Die Franzosen möchten gerne auf den Gipfel auf Thymena, auf der Karte ist aber kein Weg verzeichnet – warum auch, kein denkender Grieche geht da freiwillig rauf, es existiert auch keine Kapelle, die das vielleicht nötig machen würde. Ob sie am nächsten Tag hinübersetzen? Auf der Frühfähre werden sie nicht sein.

Am letzten Abend essen wir wieder bei Nikos, eine kleine Portion Moussaká, überbackene Tomaten, gebratene Minifische. Die Küche meint es definitiv zu gut mit dem Ölverbrauch, alles schwimmt, die Pommes sind am schlimmsten. Schade, am ersten Abend war das Essen so gut, seither hat es nachgelassen. Oder wir haben das Falsche bestellt.  Kinder spielen auf der Straße und am Fähranleger Verstecken – so lange sie schwimmen können, kann ihnen nichts passieren, nur selten kommt ein Auto.

Wieder gibt es Rakí und ein kuchenartiges Dessert aufs Haus, danach wälzen wir uns in unsere Unterkunft. Wir müssen noch packen.

 

Eigentlich wären wir gerne noch länger geblieben. Nochmals nach Thymena hinübergefahren und dort ein wenig gewandert. Oder uns hier den Inselsüden angeguckt. Wir sind noch lange nicht fertig.

Vielleicht kommen wir ja wieder.