Kastro Koskina

 

Heute verlassen wir Armenistis und Ikaria. Als ich im Hotel bezahle, bin ich überrascht: ich bekomme eine Quittung. Dass man in fast jeder Taverne inzwischen eine Quittung bekommt, daran habe ich mich gewöhnt. Dass ich beim Tanken in Agios Kirykos eine bekam (und beim zweiten Tanken in Xylosirtis wieder eine bekommen werde) fand ich verblüffend. Und nun hier im Hotel Daidalos. Es geht also, und nicht nur deshalb kann ich das Hotel uneingeschränkt empfehlen. Wir sind nicht die einzigen Gäste, die heute abreisen: ein echter Massenexodus scheint stattzufinden, und witzigerweise werden wir einige „Mitbewohner“ am Abend in Agios, auf der Fähre, und auf Fourni wiedertreffen. Schrieb ich schon, dass Ikaria kleiner ist als man denkt?

Zunächst geht es nach Osten, bis Evdilos. Dort fahren wir an der Abzweigung nach Xanthi, Akamantra und Manganitis erst mal vorbei und müssen wenden. Eine eher schmale Straße, und sofort geht es bergauf. Schöne Gegend, bald einsam und gebirgig. Irgendwann sehen wir dann unser erstes Tagesziel vor uns: das Kastro Koskina auf einem exponierten Felsensporn gelegen.

 

Weiter bergan darauf zu, hinter Steli wird es noch einsamer und die Landschaft kärger. Kurz vor der Passhöhe zweigt dann links die Piste zu Kastro ab. Laut Terrain-Karte ist sie nicht befestigt, ich bin aber wild entschlossen, es zumindest mit dem Auto zu probieren. Es sind nämlich gut drei Kilometer, die übel durch die Gegend mäandern, sprich: Luftlinie ist es nur wenig mehr als ein Kilometer. Und ich hab überhaupt keine Lust, mit der Kirche ums Dorf zu wandern. Falls wir festsitzen, sind wir immerhin zu zweit – dann muss die Mutter schieben. ;-)

Leider hab ich die Rechnung aber ohne sie gemacht (dabei hatte ich ihr gar nichts gesagt) – keine fünfzig Meter nach der Abzweigung furchen ein paar tiefe Rinnen die Piste, geziert mit größeren Steinbrocken, und der Protest vom Beifahrersitz wird heftig. Ich will ganz vorsichtig und im Schritttempo weiterhoppeln, befürchte aber von nebenan hysterische Anfälle. Mit Ausstieg wird gedroht (dann wäre immerhin Ruhe). So macht das keinen Spaß, und kostet Nerven. Außerdem ist das hier nicht der richtige Ort für einen Streit, weil eine tolle Gegend. Ich gebe nach und will wenden. Die Mutter steigt aus – schade, dass sie immer noch so wenig Vertrauen in meine Autofahrkünste hat. :-( Ich bin sauer, parke das Auto in einem schattenlosen Knick, ziehe die Wanderschuhe an. Wir stiefeln grätig die Piste entlang. Ok, sie hat es so gewollt, ist eben ein Stück. Nicht meine Schuld!

An einer Stelle fließt ein Bach über die Straße, tausende von kleinen Kaulquappen tummeln sich in einer aufgestauten Pfütze. Unterhalb muss irgendwo ein stehendes Wasser sein, man hört Frösche quaken. Wieviele der Quappen werden es wohl bis zum Frosch schaffen? Zwei, drei Tage noch, dann ist die Pfütze ausgetrocknet.

Wie ich gerade feststelle, dass die Piste weiter vorne durchaus wieder besser befahrbar wäre als zu Beginn, fährt ein Auto vorbei. Könnte uns eigentlich mitnehmen, bleibt aber dann unweit vor uns rechts stehen. Da steht schon ein LKW, und ein paar Männer sind zugange: sie verladen Steine. Die steinreiche Gegend dient als Steinbruch, große geschichtete Felsenbrocken liegen herum, man bedient sich nach Bedarf. Zwei Haarnadelkurven weiter oben ist die Gegend gar nicht so unfruchtbar wie es von unten erscheint: es hat gepflegte Weinberge, in zweien wird gerade gearbeitet. Wir schleichen uns schnell vorbei ehe wir gesehen werden. Sonst denken die wieder „was für Idioten, rennen freiwillig in der Sonne herum…“. Das frische Grün unterhalb der Burg stammt aber nicht von Gras oder Frucht, sondern von einer Macchia aus Farnen, durchsetzt mit Zistrosen. Farn – wieder ein neues Griechenland-Insel-Erlebnis. Wir bewegen uns kaum auf die Burg zu, sondern ständig parallel dazu, dann wieder eine Haarnadelkurve, same procedure. Vielleicht könnte man in einem trockenen Bachbett die Kurven abkürzen, aber es sieht alles recht zugewachsen aus. So latschen wir eben außenherum. Befahrbare Passagen wechseln mit tiefen Rinnen, die Sonne knallt mittäglich von oben.

 

In der vorletzten Kurve so etwas wie ein Parkplatz – Respekt, wer es bis hier geschafft hat! Zum Glück kein Auto da. Ab hier wird es kriminell, selbst mit Allrad würde ich da nicht fahren! Dann ist die Piste zu Ende. Ein Schild bezeichnet das Kastro Koskina, aber das sehen wir ja sowieso schon die ganze Zeit. Eine desolat wirkende Lastseilbahn führt hinauf zum Plateau, von dem herab uns die Georgskapelle grüßt. Ein Hauch Alexis Zorbas: „Boss, hast du jemals etwas so bildschön einstürzen sehen?“

Nun ist kein richtiger Weg mehr auszumachen, es geht auf den Felsen zu. Man sollte sich eher links halten, dort sind später Stufen auszumachen. Der Boden ist überall mit Ziegendreck bedeckt, penetrante Fliegenmyriaden umschwirren uns. Hoffentlich ist das Kastro überhaupt offen! Ich erschrecke als ich eine Holzleiter vor mit sehe – zum Glück ist sie nur seitlich angelehnt und nicht mehr nötig um in die Burg zu kommen. Eine steile Steintreppe führt hinauf zum offenen Tor, und hindurch auf ein überraschend kleines Plateau mit der unverputzten Kapelle darauf und ein paar Mauern. Viel ist vom Kastro Koskina nicht mehr übrig – die byzantinische Festung soll aber nie eingenommen worden sein. Kein Wunder bei der exponierten Lage!

 

Der Blick ringsum entschädigt für alle Mühen des Weges: nach Süden und Osten auf die Kette des Atheras hinter einem Hochtal, nach Westen auf ein grünes Tal (und unseren Weg), nur nach Norden versperrt ein mächtiger Steinriegel die Sicht Richtung Evdilos. Einsam ist es, und von Krähen umflogen.

Die Mutter kommt hinterher, der Schlussanstieg hat ihr zugesetzt, beinahe hätte sie aufgegeben.

Weil es hier ganz ordentlich zieht, gehen wir erst in die Kapelle – die Türe ist ausgehängt. Nur eine einfachste Einrichtung befindet sich in der nackten, aber solide renoviert wirkenden Kirche: Kerzenhalter, Georgsikonen und –ikönchen, ein grober Holztisch, zwei Holzbänke, blanker Felsenboden. Links in einer Nische ein zum Altar umfunktionierter Säulenstumpf – beeindruckend. Wenn man hier eine Kerze anzündet muss man keine Angst haben, etwas anzustecken – es ist nichts da. Allerdings auch keine Kerze, und erst recht kein Feuerzeug oder Streichholz.

 

Wieder draußen wage ich mich etwas an den Rand des Plateaus vor, aber es geht ganz schön runter. Der Aufzug sieht auch nicht aus als ob er noch in Funktion wäre – vielleicht hat man ihn zum Transport von Baumaterial zum Befestigen der Mauern und der Kapelle benutzt.

Nach einer nicht allzu langen Rast machen wir uns wieder an den Abstieg, der nicht so schlimm ausfällt wie befürchtet – die Stufen sind aber trotzdem übel steil!

Abwärts sieht man den Weg mit allen seine Kurven noch besser vor sich liegen – es verlockt sehr, die Kehren abzuschneiden. Die Mutter widerspricht aber vehement – sie mag sich nicht die Beine verkratzen. Tja, das hatten wir tatsächlich lange nicht mehr, wenn man von dem Bisschen in Miliopo absieht. Dafür erschrecken wir Schafe und beobachten Kugel rollende Mistkäfer: faszinierend, wie zwei Käfer versuchen, ihre Kugel gegen einen dritten Käfer zu verteidigen. Dabei stürzen sie schon mal über einen Stein ab und die Kugel rollt davon. Die finden sie aber immer wieder, den Angreifer auf der Spur. Irgendwann verlieren sie sich dann im hohen Gras am Wegrand.

Wenigstens die letzte Kurve lässt sich problemlos abkürzen, von hier hat man auch einen guten Blick auf den unterhalb gelegenen Stausee, an dessen Ufer zur Abwechslung mal ein paar Kühe stehe.

Gegen drei Uhr sind wir hungrig und durstig wieder beim Auto, das fröhlich in der Sonne vor sich hingrillt. Das Wasser in der Flasche ist lauwarm, der Proviant im Koffer verstaut. Wo ist hier die nächste „Raststätte“? Über den "Agios-Dimitrios-Pass" (keine Ahnung ob der wirklich so heißt!) und dann nach Plagia in die Loungebar „Araxe“. Hoffentlich gibt es da auch was zu essen, ich hab Kohldampf! Zum Pass ist es nur ein Katzensprung, auf dem Kastro waren wir schon höher. Überwältigend, wie sich der Norden und der Süden der Insel unterscheiden: hinter uns liegen die fruchtbaren und grünen Hänge des Nordens, vor uns die steile und steinige Südküste. Die neue Kurvenstrecken Richtung Agios Kirykos kennen wir ab der Kreuzung, die nur wenig unterhalb der Passhöhe liegt, schon, inklusive der übelsten Schlaglöcher.

Vor Plagia hat das Lokal tatsächlich geöffnet, wir bestellen Bier und Limo und fragen nach Essen. Es gibt genau zwei Angebote: Toast und Clubsandwich. Panagia mou - und das in Griechenland! Traurige Zeiten. Wir entscheiden uns für das Clubsandwich und bekommen wenig später tatsächlich sauber gestapelte, belegte und geviertelte Toastscheiben inmitten von Chips serviert. Ungewohnt, aber essbar. Und sättigend.

Danach stellt sich Nachmittagsmüdigkeit ein. Wir fahren gemächlich nach Agios, halten an einem der Strände vor dem Ort und legen uns für ein Nickerchen dort in den Schatten. Unsere Fähre fährt erst um acht Uhr ab, da haben wir noch reichlich Zeit.

In Agios finde ich das Büro unseres Autoverleihers Christos verschlossen, ich rufe ihn an, und er erscheint kurz darauf. Ich habe den Matiz am Hafen geparkt, samt Gepäck – kein Problem, er kommt nachher zur Fähre und holt das Auto ab. Für die siebeneinhalb Tage verlangt er 140 Euro, berechnet uns also nur sieben Tage - ich hatte mit mehr gerechnet. Dann kaufen wir die Tickets für die Fähre, sieben Euro fünfzig fallen für die kurze Strecke bis Fourni pro Person an. Nun haben wir immer noch genug Zeit für einen Ouzo me meze in unserer Lieblingstaverne „Stou Tzouri“. Wir bekommen leckere Saganaki-Ecken zum Ouzo, und Keftedakia. Und wie wir da so sitzen tröpfeln peu à peu unsere diversen Hotelnachbarn in Agios ein: das ältere griechisch-französische Paar, er (Grieche) immer mit Plastiktüte (war zum Panigiri extra beim Friseur), sie meist alleine unterwegs. Das abweisendes englische Paar, er mit Backenbart von oben herab, sie gepäckschleppend und hässlich. Grüßen nicht mal. Die werden doch nicht auch nach Fourni wollen?

 

Als wir die Fähre sich von Osten her (Evilos und dann um das Kap Drakanos) nähern sehen, gehen wir zum Hafen, laden die Trolleys aus. Wo bleibt Christos, unser Verleiher? Ich lege den Schlüssel ins Auto, hier kommt ja nichts weg. Da kommt er, ich sag es ihm schnell, kanena provlima.

Pünktlich legt die Fähre an, inzwischen haben wir schon ein fast inniges Verhältnis zu diesem Schiff. Das Gepäck lassen wir heute ganz unten, nicht in der Gepäckaufbewahrung auf halber Höhe der Rolltreppe - ziemlich dämlich angebracht, da sich Aufgebewillige samt Taschen auf der Rolltreppe stauen und andere Passagiere unfreiwillig blockieren. Schnell hinten hinaus aufs Deck, letzte Blicke auf Agios werfen. Die Fähre hat schon wieder abgelegt, schnell und pünktlich erleben wir die „Nissos Mykonos“ in diesem Urlaub. Und gut belegt – im Innenraum sind erstaunlich viele Leute.

Im Vorbeilaufen sehe ich einen bärtigen Mann mit hellblauem Hemd und – Ziegenfellrucksack! Juhu, doch noch ein Filaki (wegen der Betonung bin ich mir nicht sicher, ich habe filáki und filakí gefunden). Und was für ein prächtiger! Ich kann mir in aller Ruhe zwei Fotos klauen von dem haarigen Beutel. In dem tollen Viel-mehr-als-nur-ein-Kochbuch „Culinaria Griechenland“ fand ich einen Artikel über die Herstellung dieser archaischen Teile.

So nehmen wir einen letzten Gruß aus Ikaria mit auf die Reise nach Fourni. Und wie so oft lassen wir die eine Insel wehmütig zurück während wir gespannt der nächsten entgegenharren.