Gortys und Lentas

Wir werden heute nach Gortys fahren, und danach einen Abstecher an die Südküste nach Lentas unternehmen. Wenn die Zeit es noch erlaubt, geht es auch Richtung Asteroussia-Berge.

Aber zuerst genießen wir das Frühstück mit Kaffee à discrétion, Käse, Schinken, Salami, hartgekochtem Ei, Joghurt, Honig, Saft, Obst. Es wird in den nächsten Tagen noch Erweiterungen erfahren (Dakos! Kleine Sfakian Pittes! Köstlich!), und die einzige Verbesserung, die ich anzubringen hätte, wäre offene Milch statt der mülllastigen Dosenmilchportiönchen. Auf alle Fälle können wir so gestärkt in den Tag starten.

 

Barbara fährt heute, und entsprechend ist das Wetter wolkenverhangen und regendrohend.

Über Moroni und Kapariana sind wir schnell in der Messara-Ebene, dann noch ein Stück nach Osten, und schon sind wir in Gortys (auch Gortyn oder Gortyna). Unseren Fiat stellen wir auf dem großen Parkplatz nördlich der Straße ab, der erahnen lässt, dass hier manchmal deutlich mehr los ist als heute. Deutlich, denn heute sind wir die einzigen Besucher. Ein Zustand, an den wir uns gewöhnen könnten.

Drei Euro kostet der reduzierte Wintereintritt, wir bekommen noch ein Informationsblatt in die Hand gedrückt (bitte nachher wieder abgeben) und verlieren uns nun auf dem Gelände zwischen den Ruinen der Agios-Titos-Basilika (6. Jhd), dem Odeon und zahlreichen alten Olivenbäumen.

 

In Gortys gibt es Spuren von Siedlungen seit der Jungsteinzeit, die Gründungsmythen gehen auf die Minoer zurück (Europa! Der Stier! Die Zeugung des Minos durch beide!). Danach kamen die Dorer und bauten Gortys zur Stadt aus, samt entsprechendem Stadtrecht, dem ersten in Europa (siehe später).

Was man hier aber noch sieht, stammt vor allem aus römischer Zeit. Im 4. und 3. Jahrhundert vor Christus soll Gortys bis vierzigtausend Einwohner gehabt haben! Natürlich war auch der Apostel Paulus da, im Jahr 59 hat er hier gepredigt, samt Titos im Schlepptau. Und im 2. Jahrhundert wurde Gortyna Bischofsitz, daher die halbe Basilika. Später dann der Niedergang, die Stadt wurde verlassen.

Reichlich Geschichte hatte hier also Zeit, Spuren zu hinterlassen.

Am wichtigsten und interessantesten sind die Gesetzestafeln aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert mit dem Stadtrecht. Die 42 Steinblöcke mit den Gesetzestexten zu Familien-, Erb- und Strafrecht befanden sich ursprünglich in einem öffentlichen Gebäude an der Agora. Der Text wurde in einem altdorischen Dialekt geschrieben und besteht aus zwölf Kolumnen mit je 53 bis 55 Zeilen. Das Witzige dabei ist, dass die Textrichtung in jeder Zeile wechselt, die Buchstaben also dann gespiegelt sind ("wie der Ochse pflügt").

12 (?) Gesetzestafeln verbauten die Römer dann später im Odeon als dekorativen Wandschmuck, was man durchaus verstehen kann - sieht auch gut aus. Ob sie das lesen konnten? Gesetzestexte zu Ehebruch, Beleidigung oder Erbrecht als Deko in einem Gebäude, das der Unterhaltung dient? Mhh, wohl eher nicht.

 

Die gewölbte Wand wurde aus restoratorischen Gründen später überdacht und abgezäunt - es gibt ja immer Leute, die glauben, sie müssten bei antiken Inschriften aktuelle Ergänzungen vornehmen. So kann man die Schrift zwar schlecht lesen (mhh, mein Altdorisch ist eh nicht so toll), aber doch immerhin die gut erhaltenen Original-Tafeln bewundern. Schön, dass sie sich nicht in einem Museum befinden.

 

Ein Stück hinter dem Odeon steht die immergrüne Platane von Gortyna. Sie trägt auch jetzt im Januar wirklich Laub, wobei ich das nicht unbedingt als grün bezeichnen würde. Hier soll also Zeus mit der phönizischen Prinzessin Europa den Minos gezeugt haben, der dann auf Kreta herrschte, und dessen Frau Pasiphaë sich dann ebenfalls in einen Stier verguckte und mit ihm den Minotauros produzierte. Woran wieder Daidalos beteiligt war, und das Labyrinth baute und dann kam Theseus und Ariadne ...., ok, ich glaube, das führt jetzt zu weit. Zurück also nach Gortys im Januar 2018. Die Platane finde ich nicht soo eindrucksvoll, da gefallen mir die (aktuell ebenfalls grünen) Ölbäume mit ihren knorrig-löchrigen Stämmen besser.

 

Die Aufseherin freut sich über Besucher, hält sich aber diskret im Hintergrund. Der Self-Service ist verwaist, oder sollen wir die dicke schwarzweiße Katze grillen, die um uns herumschleicht? Nein, das Frühstück hält noch vor.

Inzwischen guckt sogar ab und zu die Sonne heraus, und so überqueren wir die Straße um uns das Gelände südlich davon anzusehen. Ein Schäfer ist mit seinen Schafen unterwegs, ein schönes Bild.

 

Zwischen dem weitläufigen Olivenhain mit dem grünen Kleeteppich (ich weiß, ich wiederhole mich, aber die Natur tut das auch) liegen die Ruinen und Fundamente backsteinerner Gebäude wie Prätorium, Nymphäum und Apollontempel. Säulen wie gigantische Mikadostäbchen. Ein Berg Scherben.

Schön, hier zu spazieren.

Und dann fängt es wieder an zu regnen. Kretischer Landregen. Also zurück zum Auto.

Bis zum Ort Agii Deka ist es nur noch ein Katzensprung. Die niedrige steingraue Hauptkirche Agii Deka mit dem hohen Glockenturm und der Bahnhofsuhr ist leider verschlossen. Schade, so können wir keinen Blick auf die Marmorplatte werfen, in der sich die Knie der zehn christlichen Märtyrer während ihrer Enthauptung um 250 n.Chr. eingedrückt haben sollen.

Kleiner Oberlehrerexkurs: Die heiligen Zehn= Ágii Deka/Άγιοι Δέκα, und keineswegs Agia Deka, das wäre eine Heilige namens Deka...

 

Am westlichen Ortsrand war das Grab der Zehn, unter einen Kapelle namens Agia Limni = der heilige See. Hier war früher ein Teich - bei Binnengewässern neigen die Griechen zu Übertreibungen - bis man 1927 die Gebeine der Heiligen fand, den Teich trockenlegte und eine Gedenkkapelle baute. In die Grabstelle kann man noch hineingucken.

Falls man mit dem Auto durch die Gassen von Agii Deka zur Grabkapelle fährt: Vorsicht - da steht einmal eine Säule im Weg!

Theo schlägt vor, einen Rundkurs zu fahren, von Plora über Agios Kirillos hinab nach Lentas, oder über Platia Peramata und dann die Küste entlang. Den Rückweg dann über Krotos und Miamou auf der östlichen Straße. Allerdings weist meine Anavasi-Karte (1: 100.000, 2016) nur die Straße bis Platia Peramata und die östliche Straße über Miamou als asphaltiert (orange) aus, die Küstenstraße und die Querstraße als unbefestigt (gelb). Im Gegensatz zur Theos Karte von Road Edition (1:50.000, 2016), die alle diese Straßen als Asphaltstraßen (gelb) bezeichnet.

Welche hat nun recht? Barbaras guter Vorschlag, auf alle Fälle die östliche Straße hinab zu nehmen, dann kann man in Lentas immer noch sehen in welchem Zustand die anderen Straßen sind, scheitert an der unzureichenden Beschilderung in Plora: Plötzlich sind wir auf der westlichen Straße. Umdrehen? Theo beharrt auf der Befahrbarkeit, und weil ich mich nicht streiten will (den Kartendiskurs hatten wir letztes Jahr schon), kurven wir die breite Asphaltstraße nach Agios Kirillos hinab. Er wird es dann schon sehen. Wir leider auch.

Eine Abzweigung nach Agios Kirillos übersehen wir mangels Auszeichnung. Gut, weiter endlose Kurven hinab zur Küste nach Platia Peramata, einem gewächshausgefüllten Tal mäßiger Attraktivität mit Blick auf Kali Limenes, wo zwei Frachter Schutz vor dem immer stärker werdenden Wind suchen.

Und die sieben Kilometer lange Straße nach Lentas nur eine unbefestigte Piste ist, die sich entlang der Küste zieht. Steht übrigens sogar im Fohrer, aber das lese ich erst später.

 

Barbara als Fahrerin und ich als Autoleiherin weigern uns nach fünfzig Metern, hier weiterzufahren. Ich hab schon zu oft schlechte Erfahrungen mit plötzlich löchrigen Pisten gemacht und hatte von vorneherein nur Straßen ab orange aufwärts als befahrbar definiert. Ob das Theo nun gefällt oder nicht (der ist ja auch haftungsmäßig außen vor).

Wir müssen als zurück. Die Stimmung ist stumm-gereizt, und der graue Himmel tut sein übriges. Wieder hinauf nach Agios Kirillos (die Abkürzung wieder nicht gesehen, aber die ist ja eh auch eine Schotterpiste) und nach Plora. Wie schön, hier waren wir vor einer guten Stunde schon mal. Nun also über Apesokari und hinein in die westlichen Ausläufer der Asteroussia-Berge. Das Landschaftsbild ändert sich: es wird karger, kahler. Das gefällt mir. Weniger gefällt, dass der Himmel schwärzer wird, und die Schlaglöcher größer. Schön langsam fahren, Barbara, immer bremsbereit.

Die Lyramusik von CD ist da eigentlich zu schnell. Bei den Fotohalten bläst der Wind ordentlich, und kalt.

Erstaunlich, dass das so abgelegene Lentas in der Antike der Hafen von Gortys gewesen sein soll.... Hoffentlich ist Lentas diesen langen Weg wert.

Die Antwort wenig später lautet: nein. Zumindest im Januar.

 

Es ist halb drei vorbei, als wir endlich am Ende der kretischen Welt ankommen und das Auto östlich des Ortes abstellen. Inzwischen haben wir ordentlich Hunger, aber mein Optimismus auf ein geöffnetes Lokal ist mit der Stimmung geschwunden. Und die paar Häuser mit touristischen und daher winterleeren Einrichtungen machen wir wenig Hoffnung. Vielleicht wenigstens ein Café, und ein paar Chips aus einem Laden. Oder eine Pitta vom Bäcker. Bei der "hauseigenen Bäckerei - Konditorei" ist aber alles verrammelt. Wie auch sonst.

Und mein Badethermometer zur Messung der Meerestemperatur hab ich auch umsonst dabei: die Wellen schlagen mit zu viel Wucht ans Ufer, da hole ich mir mehr als nasse Füße.

 

Ist das traurig hier. Und wenn Kazantzakis hier nackt gebadet hat (zum Entsetzen der Einheimischen, aber die hatte dann später Gelegenheit, sich an schräge Touristen zu gewöhnen. Oder mussten das. Wenn es Geld dafür gibt - warum nicht?) - wundert mich nur, dass er sich nicht gleich ersäuft hat.

Gut, ich bin jetzt grob ungerecht. Zumal wir an der Platia dann doch ein geöffnetes Lokal ohne Namen (Vavouris?) finden. Und es uns besser geht als dem Schaf, das davor auf einem Pickup einer ungewissen Zukunft entgegensieht.

Die plastikeingehauste Terrasse des Lokales ist gut belegt von Einheimischen und einem nichteinheimischen Typ, der am Nachbartisch in sein Notebook tippt. Ein Schriftsteller? Oder Journalist? Theo sagt nachher, der hätte in Deutsch geschrieben. Dann hat er unseren Disput über griechische Straßenkarten im Allgemeinen und kretische im Besonderen sicher mitgekriegt und sich amüsiert.

 

Der Ofen sorgt für wohlige Wärme, über den obligatorischen Fernseher flimmern unsäglich aufgeblasene Nachrichten und wenn man nichts Gegrilltes zu essen möchte, dann bekommt man ein gepflegtes Omelette mit Käse, dazu Bergtee oder Bier. Mit 15 Euro kann man preislich auch absolut nicht meckern. Das Bedienungsmädel versteht mein Griechisch so wenig wie mein Englisch. Soll ich es mal auf Deutsch probieren?

Etwas versöhnt mit Lentas fällt die weitere Ortsbesichtigung - Theo sucht sein Quartier aus dem letzten Jahrtausend - trotzdem überschaubar aus: Im Supermarkt Christina (auch Crristina) offeriert man Diverses auf Deutsch, in der Taverne Manouraki klingen die Speisen auf Französisch plötzlich deutlich edler als in Englisch oder Griechisch. Alles zu - Warten auf den Sommer.

 

Wir haben jetzt genug gesehen, und es ist auch schon spät. Zeit zur Rückfahrt, die Berge sind schon schwarze Silhouetten gegen die tiefstehende Sonne. Im Dunklen kommen wir in Zaros an.

Nachdem wir für heute kein Abendessen bei Irina bestellt haben und das "Sinantisi" erneut geschlossen ist, gehen wir in die einzige geöffnete Alternative: in die Pizzeria "Markos".

Zur Wahl stehen Gegrilltes, Pizza und Pasta. Barbara und ich entscheiden uns für je Souflaki-Pitta, die mit vielen Pommes und wenig Fleisch daherkommen. Theo bestellt Pasta Carbonara und ist erschüttert, als der Kellner ihm eine Auflaufform bringt, in der sich die Pasta unter einer dicken Schicht festem Käse versteckt. Ähm, also eigentlich hätte Käse auf Carbonara nichts verloren, sondern nur Ei und Sahne. Er probiert eine Gabel der zäh-harten Masse ehe er die Schüssel indigniert zur Seite schiebt. Appetit vergangen. Bei Essen ist mit Theo nicht zu spaßen (Barbara und ich kennen das schon von Diafani).

 

Dem aufmerksamen Wirt ist allerdings nicht entgangen, dass Theo die Pasta nicht angerührt hat. Ob es ihm nicht geschmeckt hätte? - Nein, er möge keinen Käse auf der Carbonara. Nun kann man förmlich sehen wie sich der Wirt die Frage stellt, warum jemand Carbonara bestellt, der keinen Käse mag: No cheese? - No cheese! - Ein kulturell-lukullisches Missverständnis? Hat er jetzt gesagt, er mache ihm dann Pasta mit Tomaten? Offenbar, denn kurz darauf bringt der Wirt einen Teller Spaghetti mit Tomaten. Sieht gut aus, geht aber direkt wieder zurück: Nein, danke. Kann der Wirt ja nicht wissen, das Theo auch kein Tomatenfan ist und ihm der Appetit sowieso längst vergangen ist. Und bevor der Wirt jetzt ein Messer herauszieht und seine Gäste absticht, gehen wir lieber.

Zwanzig Euro beträgt die Rechnung, und ich gucke lieber nicht, ob die Pasta da nun draufsteht oder nicht.

 

War heute ein gebrauchter Tag für Theo, und bestimmt gibt es keinen Wiederholungsbesuch bei Markos. Gut, manches kann morgen nur besser werden.

Zunächst aber wird es richtig stürmisch.