An der Südküste

 

Am Montag frühstücken wir mit Strom und mit Dimitri. Der erzählt mir nebenbei, dass sein Sohn ein ausgezeichneter Tänzer sei und sogar vor gut eineinhalb Jahren bei der Eröffnung eines Museums in Athen (ich vermute jetzt mal: des Akropolis-Museums, ein anderes fällt mir nicht ein) vorgetanzt hätte und vom Ministerpräsident die Hand geschüttelt bekommen hätte. Hoppla, das hätte ich mal früher wissen sollen! Ich hab nämlich eine Mission: ich soll Figuren des „Ikariotikos“, des typischen Inseltanzes in Erfahrung bringen, für unsere Tanzlehrerin und den Tanzkurs. Der Ikariotikos – oder das was wir dafür halten – ist ein schneller Tanz mit Schulterfassung, den ich besonders liebe. Und von dem soll er Figuren geben. Mist – da hab ich eine echte Tanzkoryphäe in den Fingern gehabt, und wusste es nicht! Der Sohn ist nicht mehr da, er arbeitet nicht im Hotel, hat nur ausnahmsweise ausgeholfen. Da bleibt nur noch die Hoffnung auf ein Panigiri in den nächsten Tagen. Am Samstag ist Konstantin-und-Eleni, das Namenstagsfest mit den meisten Betroffenen. Ob das hier irgendwo gefeiert würde, frage ich Dimitri. Ja, in Avlaki. Mhh, der Ort sagt mir jetzt nichts, aber ich werde gleich in der Landkarte nachsehen ob das in Reichweite liegt. Es liegt sechs oder sieben Kilometer östlich von Armenistis, wohin wir morgen umziehen wollen – das passt!

 

Das Frühstück zieht sich in die Länge – es gibt viel Austausch mit Dimitri, der durch die aktuelle Situation Griechenlands sehr niedergeschlagen ist. Einer derartigen Diskussion auf Englisch und Griechisch bin ich kaum gewachsen, aber es tut Dimitri gut, Verständnis zu finden. Wir bekommen sein Gästebuch, sollen uns eintragen. Als Erste dieses Jahr, welch Auszeichnung. Dann muss noch die Sache mit dem Mietwagen geklärt werden. Sein Freund Christos wird ihn gleich bringen, für zwanzig Euro am Tag. Und tatsächlich steht wenige Minuten später ein blauer Chevrolet Matiz vor der Türe, samt dem Vermieter. Nein, mit dem Jeepaki wird es nichts werden, Christos rät heftigst ab: im Oktober haben extreme Regenfälle die Straßen auf der Insel schwer geschädigt, vor allem die unbefestigten im Westen. Und die Dörfer dort wären außerdem sowieso nicht so interessant… Nun, das hätte ich gerne selbst beurteilt, aber das schwache Nervenkostüm meiner Mutter als Beifahrerin auf schlechten Straßen kenne ich, und uns wird trotzdem nicht langweilig werden, Ikaria bietet auf befestigten Straßen genug. Und sonst wird eben gewandert, das ist uns eh lieber.

 

Kurz darauf nehmen wir mit unserem Auto die Straße nach Osten, Wanderschuhe, Badesachen und Proviant im Kofferraum. Unser Ziel ist der Ort Faros, auch Fanari genannt. Dort liegt der Inselflughafen, aber deshalb wollen wir nicht hin. Nein, wir wollen ans Ost-Kap Drakano, wo ein hellenistischer Wachturm aus Marmor steht. Unterhalb soll es einen absoluten Traumstrand geben, hat unser inselerfahrener Freund W. gesagt, der inzwischen mehr in Sfakia heimisch ist. Ich habe mir schon vor dem Urlaub die ausgezeichnete Ikaria-Landkarte von 2010 von Terrain besorgt, die das Stück von Fanari bis zum Turm als „schlecht befahrbaren Feldweg“ ausweist. Die drei, vier Kilometer werden wir zu Fuß gehen. Am Rande von Fanari parken wir das Auto, hier beginnt die Staubpiste, ein nur noch bedingt lesbarer Wegweiser zeigt uns die richtige Abzweigung.

 

Nach wenigen Metern können wir auf die Piste des Flughafens blicken. Der 1995 eröffnete Flughafen bietet Flüge nach Athen (Olympic Air), Samos, Thessaloniki, Iraklio und - Limnos (mit der kretischen Sky Express)! Momentan ist aber alles ruhig dort, nichts im Anflug.

Der Ginster fängt am Weg gerade an zu blühen, der Duft ist unglaublich! Meistens sind wir zu früh dran für Ginster, aber Erinnerungen an Südfrankreich und die Peloponnes werden wach. Gelber Ginster, grüne Hänge, roter Mohn, türkisblaues Meer – ein Fest der Farben! Dazu der Duft, der leichte Wind, die angenehmen, nicht heißen Temperaturen. Eine Freude, so zu wandern!

 

An einer Wegbiegung stoßen wir auf ein kleines Denkmal: es steht hier zum Gedenken an vier Menschen, die am 11. Februar 2003 bei schlechtem Wetter mit einem Rettungshubschrauber über dem Meer hier vor der Küste abstürzten (das Denkmal wurde ein Jahr später aufgestellt). Ikariotische Tradition?

Der über tausend Meter hohe Gebirgszug des Athéras, der Ikaria fast in der ganzen Länge durchzieht und teilt, läuft hier im äußersten Osten recht sanft aus. Beim Blick nach Westen sehen wir den Küstenort Fanari und dahinter die ansteigenden Berghänge. Im Osten ragt die Pyramide des höchsten Berges der Nachbarinsel Samos, des Kérkis, 1.434 Meter in die Höhe, mit der Wolke am Gipfel wirkt er wie ein rauchender Vulkan. Und auch den Hauptort der Insel Fourni können wir bald sehen, von hier aus liegt er nicht mehr hinter Thymena versteckt.

 

Schafe drängen sich im Schatten eines Feldrains, Mistkäfer rollen Kugeln über den Weg, und nach einer weiteren Wegbiegung sehen wir unser Ziel: den Wachturm von Drakanos. Ganz schön groß, und tatsächlich eine Landmarke! In der Antike gab es hier die Siedlung Drakanon, und mit dem Turm aus dem dritten oder vierten vorchristlichen Jahrhundert kontrollierte man das Meer zwischen Chios, Samos, Fourni und Ikaria. Der Turm soll noch bis in byzantinische Zeiten genutzt worden sein.

 

Eine Viertelstunde brauchen wir noch, dann sind wir dort. Das ganze Gelände ist eingezäunt, man kommt nicht hinein. Neben dem Turm gibt es noch ein Tor sowie mehrere Mauern und Fundamente. Aber der Turm ist wunderschön! Obwohl seine Quader so massiv sind, wirkt er doch filigran und zerbrechlich. Man hat ihn in den letzten Jahren offensichtlich renoviert, dennoch ragen an manchen Stellen Steinquader ein Stück aus dem Gemäuer. Gut zehn Meter ist es hoch, und die weißen Steine geben ihm etwas irreales. Einige Tafeln innerhalb des Geländes erläutern die Ausgraben, wie kommen nicht rein und können sie nicht lesen. Egal.

Leider gibt es keine geeignete Stelle für eine Rast, und so beschließen wir, das unterhalb liegende Kirchlein Agios Giorgos zu diesem Zwecke aufzusuchen, von dort muss es auch zum Strand gehen. Wir gehen die Piste ein Stück zurück bis zur Abzweigung zum Kirchlein. Man könnte auch den Zaun entlang hinunter und dann auf einem Ziegenpfad auf den Weg.

Die Kapelle sieht vom Stil her irgendwie wie eine Almhütte aus: große Steine beschweren die Schieferplatten auf dem Satteldach, ein Natursteinportal umrahmt den Eingang. Die Türe ist nicht verschlossen, wir können hinein ins gepflegte Innere, eine Kerze anzünden und singen. Die Steinbänke um das Gebäude laden ein zu einer Rast. So erinnert mich das an die Kapelle auf dem Profitis Ilias auf Nisyros, nur ein paar hundert Höhenmeter tiefer, und käferfrei. Aber genau so einsam - wir sind seit Fanari niemandem begegnet.

Auf dem Meer zieht ein ungeheuer hoch beladener Frachter vorbei, in der Ferne haben wir ihn ob seiner Unform zuerst für eine Insel gehalten. Durch etwas Gestrüpp führt ein gut sichtbarer Weg hinunter zum Traumstrand. W. hat nicht zu viel versprochen: eine halbrunde, flache Bucht mit weißem Sand und etwas Kies, daneben eine weitere Bucht mit Kieseln. Nun kommt der ultimative Härtetest – ich will baden. Da niemand da ist, kann ich auf den Bikini verzichten. Das Wasser hat erstaunliche 21°C, fühlt sich aber deutlich kälter an und ist hier aber so flach, dass ich auch nach mehreren Metern Waten nicht weiter als bis zu den Oberschenkeln nass werde. Und die Luft ist kühl. Ok, das reicht als „Bad“ für heute. Nächstes Mal nehm ich einen Neoprenbikini mit…

 

Ein Flugzeug startet auf dem Flughafen, wir hören es brummen, später sehen wir es über Samos drehen. Wenn es nicht hochkommt, stürzt es auf den Ort Fanari. Sollte man eigentlich auf einer Insel, die nach Ikaros benannt ist, einen Flugplatz bauen? Oder eben gerade?

 

Von der Kapelle wandern wir auf einen schmalen Pfad wieder zum Turm hinauf und auf der Piste zurück nach Fanari. Das Auto steht in der Sonne und ist brüllend heiß (später werden wir merken, dass die Heizung volle Pulle aufgedreht ist...). Ein Erfrischungsgetränk wäre nett, in Fanari hat bestimmt ein Café geöffnet, wir nehmen die Stichstraße hinunter zum Strand. Der ist überraschend weitläufig, recht kiesig, wird geziert von einzelnen Findlingen, und hat zwei geöffnete Tavernen nebeneinander. Bei Frappé und Elleniko beobachten wir zwei am Strand spielende Mädchen und genießen den Restnachmittag.

Bevor wir nach Agios zurückfahren drehen wir noch eine Schleife zum Flughafen. Der ist größer als gedacht und bleibt vor allem durch die große Zahl dort geparkter Autos in Erinnerung. Die Abzweigung zur Serpentinenstraße hinauf nach Katafighi verpasse ich, aber das macht nichts, wir kommen da schon noch hinauf.

Da wir mit unserem blauen Matiz nicht in den äußersten Westen kommen werden, haben wir beschlossen, einen Tag länger in Agios zu bleiben und uns morgen die Tour entlang der Südküste vorzunehmen. Da gibt es auch einiges zu gucken, und das alles auf der Rückfahrt von Armenistis zu sehen könnte zu viel werden.

 

Natürlich verpassen wir am Abend die Ankunft der „Nissos Mykonos“ nicht. Sie ist auf ihrem Weg nach Samos. Heute erst gegen 20 Uhr, mit wenigen Fahrgästen und pflanzenlos. Ein Postauto fährt vom Schiff, lädt aus und geht dann wieder an Bord. Ein fliegender Geflügelhändlerwagen steht am Hafen, bleibt aber da. „Kotopoula! Gallopoules! Kaponia!“ werden wir die nächsten Tage immer mal wieder hören. Und die Fähre gleitet in ein Abendrot-Himmel-Meer vom feinsten – haben wir Glück mit dem Wetter!

Eigentlich hätten wir gerne das Mezedopoleio „To Synapanti“ ausprobiert, aber das hat zu. Also wieder zu „Tzouri“, das heute ein eher überschaubares Speisenangebot hat – es ist Montag, Werktag, die Wochenendgäste sind weg. Wir essen vegetarisch und gut. Im Cafe nebenan wird Domino gespielt – wie jeden Abend: Inzwischen kennen wir schon viele der Einheimischen und der Gäste.

 

Und der Vollmond nähert sich seiner Vollendung…

Gegen halb neun Uhr am Dienstag Morgen kommt wieder die Kleinfähre „Panagia Theotokos“ von Fourni. Gestern ist sie nicht gefahren – montags nie. Müssen wir nächste Woche eben die „Nissos Mykonos“ nehmen, kein Problem. Blöd nur, dass die vergleichsweise spät fährt, erst kurz vor neun Uhr auf Fourni ist. Ach, heute noch nicht unser Problem!

Dimitri hat verständlicherweise nichts dagegen, dass wir eine Nacht länger bleiben wollen. Das Frühstück wird auch heute gesprächsintensiv. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, ist sein Vater während des Zweiten Weltkrieges von den Deutschen umgebracht worden – kein Wunder mag er sie nicht…

 

Wir fahren westwärts. In Therma Lefkados, nur ein Katzensprung von Agios Kirykos, soll es irgendwo besonders heiße Quellen geben. Die scheinen aber geheim zu sein – wir sehen kein Hinweisschild darauf, nur eine gespenstische Hotelruine im Hinterland. So fahren wir weiter zum Kloster Lefkados Evangelismos, das oberhalb der Straße liegt. Wir parken an derselben und gehen die paar Meter einen Feldweg hinauf. Am Ende des Weges liegt das Kloster, außerdem aber auch ein Haus, ein Altenzentrum wenn ich das richtig verstanden habe. Das soll wohl geschlossen werden, zumindest hängt ein Transparent dort, und es findet eine kleine Kundgebung statt. Da wir von nichts eine Ahnung haben, wenden wir uns lieber dem Kloster zu. Dort soll laut Dimitri noch eine betagte Nonne wohnen, offen sei es aber nicht. Da hat er leider recht. Wir hatten gehofft, doch irgendwie einen Weg hinein zu finden (à la Nektarios auf Patmos, nur ist hier die Glocke außer Reichweite), aber das Klostergelände ist mit einer hohen Mauer und Bäumen umschlossen. Hübsch bepflanzt und gepflegt ist es aber, das schiefergedeckte Kirchendach und die weißen Mauern gefallen uns. Versuche, von der anderen Seite näher an die Kirche zu kommen, scheitern. Eröffnen aber immerhin einen besseren Blick auf das Kloster. Tja, dann fahren wir eben weiter.

Mit dem Suchen und Finden ist das heute so eine Sache: Ersteres klappt, Zweiteres nicht. Im Ort Xylosyrtis suchen wir vergeblich die Quelle mit dem unsterblichen Wasser und die behauene Natursteinfigur namens „Nereïde“. Irgendwie schneidet uns ein Flusstal den Weg zum Ufer ab. „Unsterbliches Wasser“, das ist ja fast wie bei Alexander dem Großen und seiner Schwester. Wer würde da nicht gerne einen Schluck nehmen? Vielleicht ist die Quelle inzwischen versiegt, im Reiseführer von 1990 wird so was angedeutet.

Immerhin gefällt uns der „Holzriegel“ recht gut, weiträumig zieht er sich unterhalb der Straße den Hang entlang, mit seinem frischen Grün, den Steinhäusern und den Bäumen erinnert er ein bisschen an eine Alpendorf. Aprikosen wurden hier früher angebaut, inzwischen ist die Produktion aber mächtig geschrumpft. Dann ist da auch noch die Bäckerei geöffnet und hat leckere käsegefüllte Kringel. Wir werden mal wieder nach unserer Herkunft gefragt und erfahren nach der wahrheitsgemäßen Antwort, dass man Angela Merkel nicht mag. Gar nicht. Arme Angie, das hat sie auch nicht verdient!

Ab Xylosyrtis entfernt sich die Straße von der Küste und führt auf halber (na ja, drittel) Höhe unterhalb dem Atheras-Hauptkamm (der hier „Pramos“ heißt) nach Westen. Es wird kurviger, und die Straße hat reichlich bis gullygroße Löcher. Vorsichtig fahren ist angesagt, ich muss den Blick auf die Straße richten, was wirklich schade ist, denn die grüne und bergige Landschaft gefällt uns. Zum Glück ist kaum Verkehr, so kann ich genießerisch dahinzotteln. Wir passieren Chrysostomos unterhalb, den „Goldmund“ schauen wir uns vielleicht auf dem Rückweg an. Die Zahl der am Straßenrand vergessenen Autos und der Löcher in der Straße nimmt zu.

 

In Plagiá verpasse ich - abgelenkt durch einen winzigen Friedhof – die Hauptstraße und muss durch den Ort fahren, auf einer schmalen Holperstraße. Einen echten Ortskern gibt es nicht, ein paar Einheimische schauen uns verwundert nach. In Panoramalage dann an der Hauptstraße ein Café, letzte Raststätte vor Evdilos? Wir hoffen auf eine Verpflegungsmöglichkeit in unserem Tagesziel Manganitis.

Ab Plagia ist endgültig Schluss mit grün und fruchtbar, Felsen bestimmen nun das Bild. Felsbrocken auch auf der in den Hang hineingefrästen Straße, die sich bis auf fünfhundert Meter über Meereshöhe hinaufzieht um dann in einem Pass in den Norden der Insel hinüberzuführen. Wir bleiben auf der Südseite, sehen zum ersten Mal auf Ikaria Ziegen, am liebsten im Schatten der Straßenbegrenzungen. Was die hier fressen, wo es nur Steine gibt?

 

Beeindruckende Landschaft und Straße! Nun wieder abwärts, vor Steinschlag wird gewarnt. Toulas Tunnel kündet laut Karte vom nahen Seychellen-Strand, aufgeschüttet aus dem Abraum des Tunnels. Als wir wieder im Hellen sind, stehen da planlos aktiv wirkende Baufahrzeugen, die Straße ist breit, aber kein Strand oder Weg zum selben in Sicht. Nein, da kann man nicht mit dem Auto hin, und wir hätten ja die Bergschuhe im Kofferraum.

Wir fahren mal weiter. Erreichen Manganitis, und nun will ich schon zum Strand und Baden (das Wetter würde sich morgen ändern, meinte Dimitri, wir sollten heute baden). Also die erste Straße links hinab Richtung Meer, sieht ganz gut aus. Ist es aber nicht. Nach einer uneinsehbaren Haarnadelkurve mit 12 Prozent Gefälle ist vor uns plötzlich eine Baustelle – die halbe Straße ist frisch asphaltiert. Rückwärts komme ich nicht wieder rauf, zu steil! Also doch ganz vorsichtig am Asphalt vorbeischieben, ein einzelner Mann bearbeitet die Teerfläche in der Mittagssonne und winkt uns vorbei. Wir stellen das Auto ab, wollen Manganitis nun zu Fuß erkunden. Die rechte schmale Straße endet bei einem Ferienhaus. Überhaupt scheint Manganitis hier vor allem aus Neubauten zu bestehen, von einer inseltypisch unter eine Felsenplatte gebauten Hütte einmal abgesehen. Wieder zurück, und die Straße zum Meer hinab. Das ist weiter weg als gedacht, und die Ferienhäuser nehmen pompöse Ausmaße an. Nur etwas Grün fehlt noch. Komischer Ort! Wieder zum Auto, zum Glück noch nicht losgefahren, denn an der Baustelle kommt jetzt uns erst mal die Müllabfuhr entgegen. Tja, da wird der arme Bauarbeiter nacharbeiten müssen, zum Glück ist es kein Zement, wo jedes Katzenpfötchen und jeder Ziegenhuf für die Ewigkeit (na, fast) eingeprägt bleibt.

 

Wir folgen nun der Straße in den Ort so weit es geht. Ein klarer Ortskern ist nicht auszumachen, keine Taverne, kein Laden. Wir müssen wenden, natürlich an einer engen, steilen Stelle, und ein Mietauto drängelt von hinten. Unter einem großen Baum, gelehnt an einen riesigen runden Stein steht ein Bänkchen, gegenüber gibt es einen Parkplatz. Guter Platz für eine Mittagsrast, Picknick mitten im Ort…. Die anderen Mietwagenfahrer – Franzosen - haben nun auch gewendet, fragen ob wir eine geöffnete Taverne gesehen hätten. Hier nicht, die letzte war wohl in Plagia. Hätten wir zu Fuß zum kleinen Hafen hinuntergehen sollen? Hätten wir wahrscheinlich, keine Ahnung warum wir es nicht gemacht haben. Sich ausbreitende Urlaubsträgheit vermutlich, griechischer Slow-Down-Modus, und es ist auch ganz schön warm heute…

Wir fahren zurück. Trinken einen Kaffee in Plagia in der Barlounge „Araxe“, die tatsächlich geöffnet hat. Vom Balkon hat man einen unglaublichen Blick auf das Meer und Thymena - fototechnisch natürlich von einem Stromkabel durchschnitten, ich verzichte. Aber das Geländer ist so, dass ich Kleinkinder da nicht spielen lassen würde… Relaxte Musik im Hintergrund – das chillige Ambiente ist für ein Dorf am Rande Ikarias etwas unwirklich. Draußen erwartet uns dafür dann ein ganz realer Ziegenbock mit Gemecker.

 

Wir biegen hangwärts nach Chrysostomos ab nachdem wir uns den Friedhof an der Straße angesehen haben. Der Ort liegt auf dreihundert Meter über dem Meer am hier olivenbaumgrünen Hang des Pramos, die Terrain-Karte verzeichnet einen Monopadi hinauf auf den Grat (1.000 Meter über Meer), den man übrigens fast auf ganzer Länge begehen kann. Eine interessante Vorstellung! Eine schmale Straße führt in den nachmittäglich ruhigen Ort mit seiner Johannes-Kirche (Agios Ioannis Chrisostomos). Die inseltypischen unverputzten Steinhäuser kann man hier noch sehen, und die üppig blühenden Gärten. Nur noch wenige Einwohner leben hier, viele sind nach USA ausgewandert. Wir bummeln durch die Gassen, nichts Spektakuläres, aber nett.

In Xylosyrtis möchte ich nochmals einen Versuch mit der unsterblichen Quelle und der Steinfigur unternehmen. Wir halten am östlichen Ortsausgang, und nun sehen wir das Hinweisschild auf das „Athánato nero“. Ein tief eingeschnittenes Flusstal trennt den Weg vom Ort, kein Wunder haben wir vorhin nichts gesehen. Am Wegrand blüht es wieder unglaublich. Eine Frau erklärt uns den Weg, wir biegen aber trotzdem falsch nach rechts ab und landen unten im keineswegs trockenen Flusstal. Schön hier, aber nicht das Gesuchte. Also wieder ein Stück hinauf und der Betonpiste folgen. Wir kommen ans Ufer, und da liegen auch große Steine im Wasser, die von Natur geformt und von Menschenhand ausgeschmückt sein könnten. Bizarre Formen, löchrig, oder wie eine Ohrmuschel. Im Wasser eine Figur wie eine Frau auf einen Stein gekuschelt.

Nur hatte ich mir die „Alte“ (Gria), eine Natursteinfigur, die ein Künstler zur „Nereïde“ umgestaltet hat, viel größer vorgestellt. Stehend, nicht liegend. Von der Quelle auch keine Spur, doch versiegt? Die Mutter sammelt mal wieder Steine. Ich gehe zurück zur Piste und weiter ostwärts, bis die Betonstraße in Stücke zerlegt vor mir liegt. Und dort, hinten an einem Betonfundament und unter einem großen Stein, ist sie, die Quelle, sprudelt aus zwei Rohren. „Immortale water Xilosirtis is here“ steht zur Sicherheit auf den Stein geschrieben. Unsterbliches Wasser – nichts wie her damit! Etwas mühsam kommt man hin, Unsterblichkeit gibt es nicht umsonst. Mit der hohlen Hand lässt es sich schöpfen – schmeckt kühl und gut. Es handelt sich tatsächlich um Heilwasser, gut für Nieren und Magen, das hier ungenutzt ins Meer plätschert – früher wurde es in Krügen nach Agios geliefert und verkauft. Lohnt nicht mehr.

 

Ich winke der Mutter, und wie ich mich so umsehe, sehe ich sie dann endlich weiter östlich: die „Alte“ oder „Tochter des Meeresufer“. Eine vielleicht fünf, sechs Meter hohe Steinfigur, die mit den Füßen im Wasser steht. Wir hätten sie schon längst sehen können, würde sie sich gegen die großen Granitsteine der Küste stärker abheben. Doch noch ein Erfolgserlebnis heute!

Aber Nereïde? Oder "Tochter des Meeresufers"? Ich finde sie allenfalls hässlich genug für eine Alte, buckelig wie sie da steht. Verschönernde Bearbeitungsspuren kann ich auch keine ausmachen.

Wenn ich es mir so überlege, so handelt es sich bei den zwei Figuren vielleicht um zwei verschiedene Steine - die "Tochter des Meeresufers" UND die "Alte". Haben die Reiseführerschreiber schlecht recherchiert? Möglich wäre's.

Ein weiteres folgt kurz darauf: wir sehen das nur aus dieser Richtung lesbare Schild „hot spring“ in Therma Lefkados, das auf einen breiten, mit niedrigen Mäuerchen eingefassten und sogar gepflasterten Weg hinweist. Schnell Badeklamotten und Badeschuhe geschnappt und dem breiten Weg gefolgt. Der endet wenige Meter nach einem Knick zuerst in einer Schotterpiste, dann muss man auf einem schmalen abbröckelnden Weg zum Kieselstrand hinunter, keine Treppe da. Tss, fängt so großartig an und endet so mickrig. Typisch griechisch, irgendwie...

Ich ziehe die Badeschuhe an, nähere mich dem Wasser, messe die Temperatur – hier ist nichts heiß. Weiter rechts hinter einer Felsenmauer sehe ich aber leichten Dampf aufsteigen und stolpere hinüber – das Gehen auf den großen Kieseln ist sehr unbequem, Wanderschuhe wären gut, aber die Badeschuhe sind besser als Sandalen.

Ein Paar hält sich auf wo das Ufer dampft – die Quellen sind nicht im Meer, sondern entspringen am Ufer, 58°C heiß. Das Badethermometer klettert dann auch ganz schnell auf fünfzig Grad, zwischen den braunen Steinen im Ufer wachsen grüne Algen. Man solle hier maximal fünfzehn Minuten baden, wegen der Radioaktivität des Wassers, sagt der Mann. Ehrlich gesagt, das sieht jetzt alles nicht so einladend aus, die Steine sind glitschig, verbrühen will ich mich auch nicht. Bis letztes Jahr wäre hier eine Art Becken aus Steinen im Meer gewesen, aber im Herbst und Winter wurde vieles wegespült. Nichts mehr davon zu sehen. Immer das Wetter als Ausrede...

So trete ich ungebadet den Rückzug an, die Mutter ist wegen der Unwegsamkeit und mangels Badeschuhen gleich weiter hinten geblieben. Im Hotel werde ich merken, dass mein rechter Badeschuh ein ordentliches Loch davongetragen hat, das ohne ihn wohl jetzt mein Fuß hätte. Hab ich die Schuhe nicht umsonst mitgenommen…

 

Das Meer liegt heute Abend ganz ruhig da, erneutes Abendrot. Sollte das Wetter morgen wirklich schlechter werden?

 

Das „Synapanti“ hat heute Abend geöffnet, wir setzen uns auf die Terrasse. Am Nachbartisch drei einheimische Männer, von denen einer irgendetwas zu feiern hat und die anderen einlädt. Außerdem ein britisches Touristenpaar, das uns in den nächsten Tagen noch öfters über den Weg laufen wird.

Im Angebot sind neben Mezedes vor allem gegrillte Speisen. Wir entscheiden uns für etwas, was wir sonst eigentlich nie essen: eine gemischte Grillplatte für zwei Personen. Vorab bekommen wir ein Karafaki Rakí aufs Haus – lecker. Den Briten ist Rakí anscheinend nicht vertraut. Typisch – dreiviertel aller Touristen kennen nur Ouzo, dabei wird Tsipurro oder Tsikoudia in Griechenland ebenso oft getrunken. Drei weitere Griechen, die sich an einem Tisch einfinden, sind dankbare Abnehmer des von den Briten verschmähten Getränkes - sie bestellen ein Karäffchen nach dem anderen zu ihren Vorspeisen, aber keinen Wein.

Im Lokal ist es laut, aber urig, wir genießen die unverfälschte Atmosphäre. Und die Grillplatte, bestehend aus verschiedenen einheimischen Würsten und Fleischarten, garniert mit Gemüse, ist sehr gut! Der Rotwein schmeckt auch, wir bestellen nach. Wasser aus der Leitung bekommt man hier selbstverständlich in einem Krug auf den Tisch gestellt – wer wird denn da abgefülltes in Plastikflaschen haben wollen? Schade, dass wir dieses Lokal erst so spät entdeckt haben! Einem weiteren Touristenpaar ungeklärter Herkunft (auch sie werden wir wiedersehen und ihre Herkunft nicht eruieren können) schmeckt das Essen nicht so, sie stochern im Salat herum, trinken nur Wasser. Man kann sich das Leben selbst schwer machen….

 

Morgen steht der Ortswechsel nach Armenistis an, ob es uns da auch so gefallen wird?

Mai 2011