Die Insel und zwei Wochen Urlaub lagen vor mir, als das Flugzeug um acht am Morgen einen Bogen um die Ostspitze Ikarias flog und auf der Piste landete. Ich hatte mir wieder die Nacht auf dem Athener Flughafen um die Ohren geschlagen, dieses Mal präpariert mit einem dünnen Seidenschlafsack, der mir auch in den folgenden Nächten noch erwärmende Dienste leiste würde. Die letzten April- und ersten Maitage waren kalt gewesen an der Ägäis, aber jetzt sollte es wärmer werden.
Der bestellte Fiat Panda stand, versehen mit einem Namensschild, unverschlossen vor dem Flughafen. Ich sollte dann während der Öffnungszeiten in das Büro von Ikaria Holidays in Nas kommen um den Vertrag zu unterzeichnen. Weil heute Samstag war und das Büro des Verleihers am Wochenende geschlossen, konnte das frühestens in zwei Tagen geschehen. Kein Problem für den Verleiher offenbar. Der Panda erweist sich als neu: keine 5000 Kilometer hat er auf dem Tacho, und auch noch nicht die für längeren Gebrauch obligatorischen Macken und Kratzer. Dass Mietwagenleihe noch auf so vertrauensvoller Basis geschehen konnte, hatte ich lange nicht mehr erlebt. Und es gefiel mir. Außer fünfzig Euro Anzahlung waren keinerlei Sicherheiten getätigt worden.
Den neuen Trolley in den Kofferraum und los geht es. Der nagelneue Trolley-Vorgänger hatte im Januar auf dem Gepäckband in Stuttgart einen irreparablen Reißverschlussschaden erlitten - ein Konstruktionsfehler von Samsonite, nachdem mir das Gleiche schon im Oktober auf Paros mit dem betagten Vorgängertrolley passiert war. Aber Koffer-Express hatte umgehend und problemlos ausgetauscht. Super Service!
Ein Frühstück wäre schön, und so steuere ich Fanari an, die Siedlung, die südlich so nahe der Landebahn liegt, dass ich beim Landen in die Kaffeetassen der Cafés dort hätte gucken können. Wenn denn dort eines offen gewesen wäre. Tote Hose noch hier. Auch Therma zehn Kilometer weiter schläft noch tief, so dass ich die Fehlinformation abspeichere, dass dort saisonal noch nichts los ist. Zumal sich die Inselhauptstadt Agios Kirykos dann als so belebt zeigt, dass ich dort sogar aus mehreren Cafés auswählen kann. Aber inzwischen ist es auch schon halb zehn.
Ikaria also. Nachdem das Kajaken auch dieses Frühjahr noch ausfallen würden (die Bandscheiben, und Kajaks sind schwer...), war Wanderurlaub angesagt. Da bei mir zuhause im Internet Radio oft Ikariakí Radiofonía dudelt, samt Werbung für Tavernen in Agios Kírykos und Läden in Agios Políkarpos, entstand eher unterschwellig der Wunsch, wieder mal Ikaria mal besuchen. Und der Flug am Morgen passte. Nur die Weiterreise, die war noch offen. Nicht das Ziel, aber Blue Star Ferries hatte, aus welchen Gründen auch immer, die Maipläne nach dem 4. Mai noch nicht veröffentlich. Mir war's aber egal, denn ich hatte dieses Mal kein Quartier vorher gebucht. Mehr Spontanität, weniger Vorbuchen. Ging doch früher auch. Auch wenn es schwer fällt, sich nicht von den Hochglanzbildern der Buchungsplattformen verführen zu lassen. Und preiswerter ist es vor Ort sowieso.
Als ersten Standort steuere ich heute Armenistis an. Ich kann mir Zeit lassen und fahre an der Küste entlang nach Westen. Das Wetter ist wunderbar, und an den Straßenrändern blühen üppig Wildblumen. Diese Pracht habe ich von vor 14 Jahren in Erinnerung, als ich das erste Mal auf Ikaria war. Etwas später im Mai war das damals.
Ohne Halt fahre ich über Xylosýrtis und durch Chrystóstomos. Diese Steinhäuser, stimmt, die hatte ich ganz vergessen. Ich freue mich am Blick aufs Meer soweit es das Fahren erlaubt. Westlich von Plagiá wird die Landschaft kärger und steiniger, und dann steigt die Straße bis zum Pass bei Agios Dimitrios hoch. Der wenige Nachtschlaf macht sich nun vehement bemerkbar, und bevor ich das Auto irgendwo in den Graben setze, halte ich auf der Passhöhe (550 Meter über Meer) und mache auf dem Parkplatz mit Blick auf das Kastro Koskinou ein Nickerchen. Der böige Wind schüttelt das Auto immer wieder durch, in den letzten Tagen war deshalb sogar der Fährverkehr auf der Ägäis eingeschränkt.
Erfrischt kurve ich dann auf der Nordseite talwärts. Hier ist es noch grüner und üppiger als auf der Südseite. Zu Ehren von Mikis Theodorakis drehe ich eine Schleife durch Dafni, 1948 sein zweiter Verbannungsort. Gerade lese ich seine Bücher "Die Wege des Erzengels", habe den ersten Band beendet und den zweiten ins Reisegepäck gepackt. Noch bin ich erst bis 1946 in Athen gelangt. Kein fröhlicher und einfacher Lesestoff, und die Seiten zu seinen musikalischen Kompositionen, die das vielleicht auflockern könnten, überspringe ich oft. Trotz umfangreichem Anmerkungsteil und Glossar erfordert das Lesen viel Aufmerksamkeit und ein gutes Gedächtnis. Es wird noch dauern, bis ich Ikaria darin erreiche. Aber es ist ja das ganze Jahr 2025 Theodorakis-Jahr, zu Ehren seines hundertsten Geburtstages. Ob man das auf Ikaria sehen wird?
Auch den Hafenort Evdilos streife ich nur. Versuche dann, in Kampos die Kirche Agia Irini zu entdecken, bei der am Montag ein Panigyri stattfinden soll. Im Vorbeifahren ist nichts zu sehen, auch keine der sonst obligatorischen Wimpelketten. Dafür immer noch reichlich verrostete Autowracks, für die Ewigkeit am Straßenrand abgestellt und oft bizarr von Pflanzen überwachsen. Ikarias schöne Autowracks - da liesse sich leicht ein Kalender gestalten. Dann passiere ich Strände mit wilden Wellen. Kein Badewetter heute. Egal, wegen des Badens bin ich eh nicht hier.
In Armenistis fahre ich gleich zum Hotel "Daidalos". Die Straße ist zu eng, so parke ich ein Stück weiter und gehe zurück. Die Eingangstüre ist offen, ich betreten den weiten Empfangssaal. Niemand da. Weiter hinten, in der Küche, werkelt aber jemand. Eine Frau, die ich nach einem Zimmer frage. Das Hotel hätte noch nicht offiziell offen, aber die Zimmer wären schon fertig. Sie zeigt mir eines im ersten Stock. Nicht groß, aber mit Balkon zum Meer hin. Passt für eine Person. Im Zimmer nebenan würde schon eine Frau wohnen, erzählt sie. Bei der Frage nach dem Preis ruft sie den Boss, Kostis, der in der Anlage zugange ist. Vor der Hoteleröffnung ist noch viel zu tun, auch wenn der Pool bestimmt nicht vor Juni befüllt wird. 35 Euro ist der Preis pro Nacht bei vier bis fünf Nächten Verweildauer. Frühstück gäbe es aber erst ab Montag, wenn eine Gruppe kommen würde. Gut, es hat in diesem Zimmer im Gegensatz zu vergleichbaren auf den Kykladen keinen Heißwasserkocher oder gar eine Kapsel-Kaffeemaschine samt Tassen und Zubehör. Aber dafür ist der Preis echt gut, und den einen Tag werde ich auch ein Frühstück improvisieren können.
Ich parke das Auto auf dem hoteleigenen Parkplatz - bei zwei geparkten Wagen wird es schon eng, vor allem wenn die abgestellten Autos nicht mit Verstand geparkt sind, wie ich noch merken werde.
64 Kilometer bin ich heute vom Flughafen hierher gefahren.
Und dann sitze ich in meinem kühlen Zimmer - die Meeresfront geht genau nach Norden - und fühle mich angekommen, aber auch irgendwie ratlos. Und friere. Aktivität hilft da, und nachdem ich meine Sachen aus- und eingeräumt habe, gehe ich zu zum Supermarkt, der ganz unten am kleinen Hafenanleger liegt und kaufe das nötigste für die nächsten Tage. Ein Café habe ich nur eine Minute ortauswärts vom "Daidalos" auch gesehen. Apropos Café - ich habe Hunger, und ein Kaffee könnte ich auch brauchen. Die touristische Infrastruktur von Armenistis, das kaum mehr als eine Touristensiedlung ist, ist noch nicht richtig in Betrieb, aber das Zaccharoplastion Ikaros mit Bewirtung an der Kreuzung in der Ortsmitte ist geöffnet, und dort gönne ich mir einen Diplo mit Galaktobureko. Überlege dabei, ob die Quartiere gegenüber, "Erofili" und "Kirki", mehr Sonne abbekommen. Nein, sicher nicht um diese Zeit. Vielleicht das "Galini", das oberhalb liegt und wo Günter abgestiegen wäre, wenn er seinen Urlaub nicht kurzfristig hätte stornieren müssen. Wir wären zumindest die ersten Tage zusammen gereist. Schade.
Beim späteren Ouzo auf meinem Balkon - nun in der Sonne - lerne ich dann meine Zimmernachbarin kennen: Walli aus München (wohnend, nicht gebürtig), zeitweilige Soloreisende aus Überzeugung (sie ist verheiratet, braucht aber ihre Auszeiten) und mit leichtem Gepäck unterwegs. Sie ist schon eine Woche auf der Insel, zuerst in Agios Kirykos im Hotel "Kastro". Es wäre so lausig kalt gewesen, dass sie sich schließlich einen kleinen Wasserkocher gekauft habe, um heißes Wasser für eine improvisierte Wärmeflasche zu bekommen. Und für einen Kaffee - mehr braucht sie nicht zum Frühstück. Sie ist erstmals auf Ikaria, aber sonst öfters auf Kreta unterwegs. Wir werden noch reichlich Gelegenheit haben, über Loutro, Finix und Livaniana fachzusimpeln. Einen Mietwagen lässt ihre Reisekasse nicht zu, aber sie erkundet die Gegend gerne zu Fuß. Für die Fahrt von Agios Kirykos hierher hat sie sich ein Taxi gegönnt. 70 Euro hat es gekostet, was ich für die lange Fahrtzeit von etwa eineinhalb Stunden durchaus preiswert finden. Aber es sind tatsächlich auch nur etwa 45 Kilometer.
Auf Ikaria wurde sie durch einen Griechen aufmerksam, der von den Panigyria hier und dem Tanz Ikariotikos erzählte. Ja, das ist auch ein Grund für mich, hier zu sein.
Natürlich treffen wir uns später beim Abendessen in einer der beiden geöffneten Tavernen wieder, im "Paschalia", und setzen uns zusammen. Das Essen hier ist gut und preiswert, nach einem Teller ausgezeichnete Linsensuppe gönne ich mir noch Kokkoras Kokkinisto me patates. Mit einem Viertel Wein - Wasser gibt es offen im Krug, das Leitungswasser hier ist gut trinkbar - bezahle ich 18 Euro. Kann man nichts gegen sagen. ;-)
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In der Nacht friere ich. Ich schlüpfe erst noch zusätzlich in meinen dünnen Schlafsack, hole dann aber doch eine Decke aus dem Schrank. Hilft bedingt.
Mit Joghurt mit Honig, Käsecrackern und Orangensaft improvisiere ich ein Frühstück auf dem Balkon, der morgens noch in der Sonne liegt. Der Wind hat nachgelassen, es könnte ein schöner und sonniger Tag werden. Der Versuch, in der Küche an heißes Wasser für einen Instantkaffee zu kommen, ist gescheitert - dort ist niemand. Walli kann schließlich aushelfen, und steuert auch noch Lokoumades bei, von denen sie am Vorabend eine große Schachtel von einer Frauengruppe geschenkt bekommen hat. Danke!
Sie erzählt mir vom Strand in Nas, und wie man dort am besten hinkommt weil das ausreichend tiefe Wasser des aufgestauten Baches den Zugang versperrt. Nass in Nas - da war doch was? Ich habe nicht richtig zugehört, was ich am Nachmittag bereuen werde.
Walli will heute nach Postkarten gucken, und am Strand von Livadi baden. Sie hat schon in Briefmarken investiert (2 Euro das Stück für den Versand nach Deutschland!). Ich möchte zum Einstieg eine einfache Wanderung machen, vom Chalaris-Stausee zu den Wasserfällen von Ryakas. Packe aber auch die Badesachen ins Auto, und vergesse die Badeschuhe. Eine Drybag hätte im Reisegepäck vielleicht auch nicht geschadet, aber das weiß ich noch nicht.
Über Agios Dimitrios - das gibt es hier auch reichlich - fahre ich hinauf nach Christos Raches. Tanke an der Tankstelle vor dem Ort den Wagen voll: 32 Liter - der Tank war am Flughafen etwa ein Drittel gefüllt. Fast zwei Euro kostet der Liter - Inselpreise. Im Inselwesten sind Tankstellen nicht so dicht gesät, und nun muss ich mir keine Sorgen machen, womöglich irgendwo jwd ohne Sprit liegenzubleiben. Ich werde keine ganze Tankfüllung verfahren - am Ende werden es 432 Kilometer sein, die ich auf Ikaria zurückgelegt haben werde.
Die Tankwartin frage ich dann auch nach dem Panigyri vom Agia Irini morgen. Sie guckt kurz nach und zeigt mir dann auf ihrem Smartphonedisplay ein Bild eines Plakates: Am 5. Mai in Kambos, από νώρις το μεσημέρι (früh am Mittag). Wann das denn losgehen würde, frage ich sie. 15 Uhr vielleicht, meint sie. Ich merke mal wieder, dass Zeitangaben in Griechenland eine völlig andere Bedeutung haben als in Deutschland. Und in Ikaria erst recht. Meine Wirtin in Agios Kirykos wird mir einmal "kalo apogevma" (einen schönen Nachmittag) wünschen, als ich abends um acht Uhr das Haus verlasse. Nachmittag am Abend - in Griechenland beginnt der Nachmittag um 16 oder 17 Uhr und geht erst gegen 21, 22 Uhr in den Abend über. Folglich dauert der Mittag mindestens bis 16 Uhr.
Grübelnd fahre ich weiter bergwärts. Ohne Stopp in Christos Raches. Im Dorf Profitis Ilias - ausnahmsweise mal kein Gipfel - stehen viele Autos. Neugierig halte ich und gucke. In der Kirche ist ein Gottesdienst zugange. Nicht so spannend. Eine Weinkellerei gibt es hier auch, Afianes. Ein Weinprobe wäre ja schon mal interessant, ist aber als Autofahrerin schwierig. Zumal die ikariotischen Weine als hochprozentig gelten. Das muss ich wohl auslassen.
Es geht durch waldiges Gebiet. Hinter Profitis Ilias teilt sich die Straße, rechts geht es nach Vrakades und Kouniadi, links zum Stausee. Den erreiche ich kurz darauf. Er liegt auf einer Höhe von über 700 Metern über Meer und ist überraschend gut gefüllt. Die befestigte Straße endet hier. Ich habe mich bei der Urlaubsvorbereitung nicht zwischen den beiden Landkarten von Skai-Terrain und Anavasi entscheiden können, und einfach beide gekauft. Die von Skai ist neuer (2024), übersichtlicher und lesefreundlicher, die von Anavasi (2022) enthält die plausibleren und detaillierteren Wandervorschläge. Vorsicht beim parallelen Gebrauch: bei Skai sind gelbe Straßen befestigte Straßen, bei Anavasi unbefestigte.
Leider gibt es bei Outdooractive kaum Tracks und bei openstreet nur wenig brauchbares Kartenmaterial auf Ikaria, aber mein heutiger Wanderweg ist auf beiden gedruckten Karten eingezeichnet und ich habe mir die entsprechenden Ausschnitte abfotografiert. Mal sehen, wie es auf Ikaria mit der Markierung von Wegen aussieht. Da bin ich allerdings etwas verwöhnt von Hydra, Naxos, Amorgos und Tinos.
Um zehn nach elf Uhr starte ich die Aufzeichnung, und weil ich das Auto nicht direkt am Beginn des Wanderweges abgestellt habe, sondern im Schatten am Stausee und zu faul bin, zurück zu gehen, suche ich erst mal etwas zu weit westlich im lichten Wald - Nadel und Laub - herum bis ich den richtigen Einstieg, eine Fahrpiste, gefunden habe. Auf dieser gehe ich in Serpentinen aufwärts. Der Wanderweg schneidet die Kurven gelegentlich ab, aber diese Abkürzungen sind kaum zu erkennen und ich lasse sie aus. Dunkelviolette Blumen leuchten am Boden. "Frauenspiegel" sagt die App. Schon praktisch, die diversen Helferlein auf dem Smartphone!
Ein blaues Schild überrascht am Wegrand: Radweg! Hoffentlich kommen keine Downhill-Biker angeprescht und sausen an mir vorbei. Aber ich bin völlig alleine hier unterwegs. Die Griechen habe am Sonntagmittag (oder ist das von Vormittag?) anderes zu tun, und ausländische Touristen gibt es noch kaum.
Es ist eine felsige Gegend, voller große Steinbrocken. Inzwischen bin ich über der Baumgrenze und es gibt freie Aussicht (ja!!). Die Insel links, das muss Mykonos sein. Oder Tinos? Chios ist weiter östlich auszumachen, und offenbar die Türkei noch weiter drüben. Gute Fernsicht heute.
Wenig später zweigt der Fußweg von der Piste ab und führt östlich eines niedrigen Gipfels namens Pachiá Kefála vorbei. Wobei niedrig relativ ist: der Gipfel ist 946 Meter hoch, da träumt manche Insel von. Gelegentlich gibt es rote Punkte und Steinmännchen als Wegmarkierungen, aber leider nicht so häufig, dass man es sofort merkt wenn man falsch geht. Was leicht ist, denn es hat zahlreiche Ziegenpfade, und gelegentlich schrecke ich die Hornviecher auch auf. Das mit dem falschen Weg ist nicht so schlimm, denn die Richtung stimmt, und ich quere bald eine Piste auf einer Hochebene namens Erifi, und kurz darauf eine zweite.
Allerdings bin ich offenbar weiter westlich als gedacht. Macht nichts, denke ich, und folge einem Bach, der laut meiner Karte zu den Wasserfällen von Ryakas führen müsste. Genauer: ich bin auf einer Piste, die parallel zum Bach verläuft und zu einer Steinhütte mit Picknickplatz davor in einem Wäldchen führt. Und dort endet. Ein Trampelpfad führt hinüber zum Bach, wo ich auch schon das Rauschen von Wasser höre. Zwischen runden Felsen treffen hier zwei Bäche aufeinander und springen über Steinstufen. Kaulquappen tummeln sich in Pfützen, Frösche quaken. Ein Idyll.
Nett alles, aber nicht wirklich Wasserfälle. In Sachen Wasserfällen werden in Griechenland allerdings oft andere Maßstäbe angelegt als in Deutschland, aber das finde ich jetzt doch etwas mickrig. Kann nicht sein, dass es das ist. Ich klettere herum, quere den ersten und den zweiten Bach, komme aber dann nicht weiter nach unten, wo der vereinigte Bach durch eine Enge im Felsen fliest. Hier bin ich falsch. Zurück, und neuer Versuch auf dem Felsen weiter westlich. Hier sind steile Klippen, zu gefährlich, hier abzusteigen. Den Bach kann ich sehen, aber keine Wasserfälle. Mist.
Es ist inzwischen ein Uhr vorbei und ich bin hungrig und durstig. Ich setze mich an den Tisch an dem Häuschen und raste. Ich war länger unterwegs als gedacht und muss es am ersten Tag ja nicht gleich übertreiben. Ok, dann halt keine Wasserfälle. Aber bevor ich zurückgehe, möchte ich noch ein Stück gen Süden, wo man von einer Erhebung einen Blick nach Süden haben müsste.
Und wie man den hat! Ich sehe die felsigen Abhänge des Atheras-Gebirges, das Ikaria von West nach Osten durchzieht. Dahinter Fourni und Thymena. Und viel weiter rechts eine langgestreckte Insel, überraschend nah. Sieht aus wie Amorgos. Kann das sein? Ja, das ist Amorgos, wie ein Blick in die Landkarte bestätigt. Davor Kinaros und Levitha, und dahinter, das könnte Astypalea sein. Ist aber schon sehr im Dunst.
Und unter mir, ganz in der Nähe, sehe ich den Fußweg, der zu den Wasserfällen führt. Wäre ich weiter östlich herausgekommen, hätte ich ihn mühelos gefunden. Ärgerlich. Aber gut, die paar Meter schaffe ich jetzt auch noch. Ich klettere hinab zu dem Weg und folge ihm bis er steil bergab geht und ich die Kaskaden nun sehen kann. Dabei bleibe ich einmal an ein Wurzel hängen, stolpere und stürze. Nix passiert, nur ein paar Kratzer. Aber der weitere Weg zu den Fällen führt nun sehr steil am Hang hinab, und ich beschließe, dass ich zu müde bin, um ihn hinabzusteigen. Von oben kann ich zwei Wasserfälle sehen, durchaus beeindruckend. Und nicht zu überhören.
Ich genieße noch ein wenig die Aussicht und mache mich dann auf den Rückweg. Auf dem richtigen Weg ist das einfacher, aber die Markierungen werden schnell wieder spärlich. An einer Mauer geht es links hinab zu Piste. Soll ich auf der bleiben und auf einem Umweg in einem weiten Bogen zurückgehen? Nein, ich nehme den abkürzenden Fußweg, zunächst gut markiert, sich dann wieder verlierend. Ein paar Pfähle mit Wegweiser helfen aber weiter. Und irgendwann erreiche ich wieder die Schotterpiste, auf der ich hinab zum Stausee gehe. Es ist drei Uhr mittags als ich dort ankomme. Diese Einstiegswanderung war länger als gedacht: 9,4 Kilometer sagt die Tracking-App, 324 Meter auf und ab, zweidreiviertel Stunde reine Gehzeit.
Jetzt gönne ich mit unbedingt eine Erfrischung und fahre hinab nach Christos Raches, wo ich bei einem frischgepressten Orangensaft und einem Galaktobureko im "Pandora" peu à peu abkühle. Sechs Euro für beides - gute Preise habe die hier auf Ikaria! Im Fenster hängt ein Plakat für das morgige Panigyri.
Noch ein kurzer Ortsbummel, der mich auch in den Laden von Ursula Kastanias führt. Die Ikaria-Website der auf Ikaria verheirateten Schweizerin hat mir schon manche gute Dienste erwiesen. Etwa der Panigyria-Kalender. Schade, dass im Blog dort leider schon lange nichts neues mehr geschrieben wurde. Sie ist im Laden und wir reden kurz. Wann denn das Panigyri morgen anfangen würde, frage ich sie auch, und sie meint nach Blick auf mein Plakatfoto "16 Uhr". Damit ich für das Panigyri passend ausgestattet bin, kaufe ich eines der T-Shirts mit Aufschrift είμαστε για τα πανηγύρια = wir sind wegen der Panigyria hier. Bin ich. :-)
So, und nun möchte ich gerne noch baden. Und zwar in Nas. Die Badesachen habe ich ja schon im Auto, und so fahre ich wenig später ohne Halt durch Armenistis hindurch. Stelle den Wagen im Ort auf dem Parkplatz an der Straße ab. Fülle die Stofftasche mit Handtuch, Bikini, Badethermometer, Wechselshirt. Autoschlüssel und Handy in die Hosentasche, der Rest bleibt im Kofferraum. Die Wanderstiefel habe ich schon am Stausee gegen meine leichte Schuhe getauscht.
Ein Treppenweg mit schütterem Handlauf führt hinab bis zu dem See, den der Bachlauf an seinem Ende bildet und der den Strand vom Ort trennt. Sieht toll aus! Was hatte Walli gesagt, wie war das nochmal mit dem Felsen? Ohne meine Wanderstiefel fühle ich mich nicht gut gerüstet für den trockenen Weg darüber. Zurück und die Stiefel anziehen? Socken an und aus, dann in die Stiefel - eine mühselige Plackerei wenn Socken und Stiefel wanderfeucht sind. Oder durchs Wasser. So tief wird das schon nicht sein, und so entscheide ich mich für zweiteres. Die Badeschuhe wären gut gewesen, aber barfuss geht auch. Ich nehme die Schuhe in die Hand, und hänge den Stoffbeutel um. Dann steige ich beherzt von der untersten Steinstufe ins Wasser. Das ist frisch und etwas über knöcheltief. Der Grund besteht aus leicht glitschigen Kieseln. Kein Problem. Ich halte mich nahe am Felsen, gehe vorwärts. Das Wasser wird langsam tiefer, Waden und Hosenbeine werden nass. Egal, weiter. Ich packe das Handy aus der Hosentasche in den Stoffbeutel, vergesse den Autoschlüssel in der Hosentasche. Und dann wird es richtig tief. Das Wasser steht mir nun bis zur Hüfte, aber ich bin auch schon fast drüben. Ein letztes Einsinken lässt mich bis zur Taille nass werden, dann erklimme ich den steilen Rand des Sand-Kiesstrandes. Das war jetzt doch nasser als gedacht!
Und der Strand ist barfuß echt saumäßig umbequem für meine winterverwöhnten Fußsohlen, ich schaffe es mit Mühe in den sandigen Bereich. Warum hab ich meine Badeschuhe nicht eingepackt? Hinüber zum Artemis-Heiligtum, oder besser: was davon übrig ist? Vergiss es!
Zuerst ziehe ich eh die nassen Über-Klamotten aus. Da sich doch ein paar Leute am Strand verteilen, geht hüllenlos Baden nicht. Ich wechsle den halbnassen BH gegen das Bikini-Oberteil. Der Slip ist eh nass, in dem gehe ich jetzt baden. Das Meer ist saukalt - kaum 17 Grad zeigt das Thermometer an. Der Binnenteich wäre sicher wärmer, aber auch trüber. Nach ein paar Schwimmzügen sind die 17 Grad erträglicher und ich halte es noch etwas länger aus. Nicht zu weit raus: hier gibt es tückische Unterströmungen. Dann in der Sonne trocknen.
Die Strandtrüppchen ziehen ab, vor der Qual der Wahl: durchs Wasser oder über die Felsen? Die meisten nehmen den Felsen, trotz Badeschlappen. Da ich schon mal nass bin, werde ich auch zurück den Wasserweg wählen. Die Klamotten sind inzwischen leicht angetrocknet, die packe ich in die Stofftasche samt den Schuhen. Handy und Autoschlüssel haben glücklicherweise keinen Wasserschaden erlitten und kommen jetzt in die kleine Plastiktüte vom Bikini, das Wechselshirt in die große vom Handtuch - das ziehe ich drüben an. Alles andere dazu in die Stofftasche, die ich gleich vor die Brust nehmen.
Und dann gleich beim ersten Schritt ins Wasser eine unvermutete Tiefe erreiche. Upps - da habe ich ein Loch erwischt! Ich weiche nach links aus: falsche Richtung, denn hier ist es noch tiefer. Jetzt bin ich bis zur Brust nass. Samt unterem Stoffbeutel. Sch...! Ich rette mich nach rechts, habe nun mehr Stand und plantsche hüft- bis knietief hinüber zur Treppe. Wringe erst mal aus die Sachen aus. Ziehe mir das Ersatzshirt über und wickle das feuchte Handtuch um die Hüften. So steige ich hinauf ins Örtchen, das zum Glück im sonntäglichen Spätnachmittagsschaf liegt und mir übermäßig viele Zeugen meines kläglichen Aufzuges erspart. Schnell ins Auto und zurück nach Armenistis ins "Daidalos". Wäscheleine gibt es auf dem Balkon keine, aber ich habe eine dabei, samt Wäscheklammern, und hänge die nassen Sachen auf. Eine richtige Dusche tut jetzt auch gut!
Und danach zum Sonnenuntergang ein Ouzo auf dem Balkon samt Schwätzchen mit Walli. Zu dem Panigyri morgen würde sie mitkommen. Das passt, denn alleine würde ich zwar auch hinfahren, aber in Gesellschaft ist es definitiv netter.
Und auch das Abendessen ist zu zweit netter. Dazu gehen wir heute in das Restaurant mit dem urgriechischen Namen "Mary Mary", im ersten Stock an der Kreuzung in Armenistis gelegen. Die Küche etwas gehobener, aber ausgezeichnet. Wir teilen uns Fava, Penirli (gefüllte Teigtaschen), Pommes und frittierte Zucchinisticks. Köstlich. Dazu eine halber Liter Wein. Das Wasser gibt es auch hier offen im Krug.
Mit 38 Euro liegen wir pro Person wieder unter zwanzig Euro.
Und morgen? Am Abend Panigyri. Und vorher? Mal sehen.