Der Himmel ist bewölkt und das Meer aufgewühlt als wir am Morgen aufwachen.
Das Hotelfrühstück besteht aus einem kleinen Buffet mit Brot, Butter, hartgekochten Eiern, einer Sorte Wurst, einer Sorte Käse, Honig, Marmelade, Joghurt, Dosenpfirsichen, O-Saft von der angerührten Sorte sowie Kaffee oder Tee. Variationen dieses Programmes wird es an den nächsten Tagen nicht geben, aber man kann sich natürlich nach eigenem Gusto das Frühstück selbst erweitern. Etwas perplex sind wir, als wir von einer blonden jungen Frau auf Deutsch angesprochen werden – sie wäre hier für die Gäste zuständig, wenn wir was brauchen würden, sollten wir uns an sie wenden. Ich frag nach den Wetterprognosen, sie meint, hier in die Ecke würde es der Regen selten mal schaffen.
Die Zahl der Frühstücksgäste hält sich noch in Grenzen, das französische Paar kennen wir doch aus Manganitis?
Wir beschließen, nach Christos Raches (auch Christós Rachón) hinaufzufahren, das sind nur wenige Kilometer. Christós Ráches ist der Hauptort hier im Westen und genießt einen merkwürdigen Ruf, nämlich den, dass hier tagsüber die Bürgersteige hochgeklappt seien und der Ort erst am Abend nicht vor neun Uhr zu Leben erwache – dann aber um so heftiger, und auch mal bis zum frühen Morgen. Außerdem ist der Ort die kommunistische Hochburg auf dem kommunistischen Ikaria – gerne wird verbreitet, Mikis Theodorakis wäre hier 1947 in der Verbannung gewesen, was aber so nicht stimmt – er war in Vrakades.
Die Straße steigt direkt hinter der Küste steil an, und nach ein paar hundert Metern stehen da zwei Anhalter, Mutter und Sohn, Holländer. Wir nehmen sie mit, sie wollen zum großen Stausee und ab dort wandern. Da wollen wir zwar auch hin, aber zuerst nach Christos. Dort haben sie dann immerhin schon die Hälfte und finden sicher einen weiteren Lift. Den nächsten Anhalter nur wenige Meter später müssen wir dann aus Kapazitätsgründen stehen lassen.
Christos liegt ungefähr auf 300 Metern über dem Meer, die kurvige Straße ist sehr schön und aussichtsreich, am Rand blüht es überall. In dem Weiler Agios Dimitrios könne man gut essen, sagt uns die Holländerin, aber auch in Christos.
Christos ist nur der Hauptort einer ganzen Ansammlung von Weilern, die sich über die Hänge dahinziehen. Schwer auszumachen wo der eine aufhört und der nächste anfängt. Wir sind schon dort, parken auf dem ausgewiesenen Parkplatz nahe dem Zentrum und wünschen den Holländern einen schönen Tag.
Durch eine schmale Gasse gelangen wir in die grau gepflasterte Fußgängerzone – zur Straße hin auf allen Seiten abgesperrt durch mächtige Findlingen und ein Steintor.
Ehrlich gesagt, so auf den ersten Blick sieht Christos jetzt nicht wirklich unbelebt aus, gegen elf Uhr am Vormittag. Überall sitzen Leute, Schüler gruppieren sich auf der Platia bei der Kirche, die Läden sind offen - ganz normales Dorfleben. Das heißt, nach unseren Dorferfahrungen von Manganitis, Xylosyrtis oder Perdiki steppt hier echt der Bär, das einzige, was hochgeklappt ist, ist ein Stapel Stühle vor einer Taverne. Mhh, ich möchte mal gerne abends herkommen und mir die Steigerung ansehen. Leider werde ich die Mutter an den nächsten Abenden aber nicht dazu überreden können…
Der Ort ist sympathisch und bestimmt ein gutes Standquartier wenn man auf Meeresnähe verzichten kann. Traurig sieht von außen allerdings die kleine Bücherei aus – wieder ein Foto für meine Sammlung „die unscheinbarsten Bibliotheken der Welt“. Wenigstens sie wird dem Ruf von Christos gerecht und hat geschlossen. Ob sie um Mitternacht geöffnet hat?
An der Schule vorbei – die Ikarioten sterben definitiv nicht aus – drehen wir eine Runde durch den Ort und kommen an einem der typischen Steinhäuser vorbei. Bewohnt sind sie nur noch selten, die Deckenhöhe genügt nicht den Ansprüchen des 21. Jahrhunderts. Aber nett auszuschauen! An der hinteren Giebelseite fallen die hühnerleiterartigen Trittsteine auf, ein großer Backofen außerhalb vervollständigt das blumenverzierte Ensemble. Und eine „Schutzmauer“ vor dem Haus hat es auch, allerdings mit Abstand, und nicht sehr hoch. Alle Häuser liegen im satten Grün der Hänge – ein Obst- und Gemüsegarten.
Dann lockt uns ein Duft von Backwaren in den Fourno – gerade kommt ein Blech Käsekringel aus dem Ofen - wer kann da schon wiederstehen? Wir nicht, und dann gibt es noch so leckere Käsetaschen, und Apfeltaschen, mhhh! Der Bäcker ist ein netter junger Mann, langhaarig und großgewachsen, sehr sympathisch. Sein Backwerk ist auch einen größeren Umweg wert! Überhaupt sind die Einheimischen recht groß und gutaussehend, ein bisschen wild wirken sie… Was für einen andere Typ Menschen werden wir dagegen auf der Nachbarinsel Fourni sehen – eher klein und gedrungen.
Oberhalb von Christos liegt ein Stausee – unser nächstes Ziel. Der Himmel hat sich weiter verfinstert, wir meinen schon Donnergrollen zu hören.
Rechts geht die Straße nach Vrakades ab, und da, die beiden Anhalter – die kennen wir doch: wieder Mutter und Sohn, die wir natürlich erneut mitnehmen. Der düstere Himmel macht die Ecke um den Stausee nicht heimeliger, und nachdem wir den See ein Stück umrundet haben, endet die asphaltiere Straße – wie in der Karte verzeichnet – und geht in eine breite Schotterpiste über. Endstation für uns, wir lassen die Tramper aussteigen, sie wollen ab hier wandern. Bei der Wetterprognose finde ich das riskant, ich wünschen ihnen einen guten Marsch und dass sie nicht nass werden mögen.
Ich hatte gedacht, man könne zum Wasser im Stausee hinabsteigen, aber der ganze See ist mit einem stabilen Zaum abgesperrt. Außerdem sieht er nicht einladend aus: Steine, Sand, ein paar Bäume, eine unbelebt wirkende Uferböschung. Ich folge zu Fuß der Schotterpiste - nach einem ziemlich üblen Stück in einer Kurve, an dem wir gehalten haben, geht es eigentlich wieder. Ich kann die widerstrebende Mutter überreden, noch ein paar Meter weiter zu fahren – am liebsten würde ich bis Pezi fahren. Aber nach ein paar hundert Metern wird ihr Protest zu laut, und weil es auch kaum was bringt, immer nochmal hinter die Kurve zu gucken, und wieder, und weil es nun wirklich donnert, kehren wir um. Hinter dem See ist auf der Karte eine Moto-Cross-Strecke eingezeichnet – ja, das kann ich mir vorstellen, und irgendwo bei Raches hab ich auch eine Werkstatt gesehen, die Geländemaschinen vermietet.
Überraschend kommt ein Warnschild, dass Fahrradfahrer hier kreuzen – eine Mountain-Bike-Strecke gibt es hier auch noch. Ein Dorado für Bikefahrer hier…. Allerdings sieht der Radfahrer auf dem Warnschild nach frühem zwanzigstem Jahrhundert aus – keine Spur von Sport!
An der Kreuzung nehmen wir nun die Straße nach Vrakades, von der Dimitri, unser Wirt in Agios Kirykos, gesagt hatte, sie wäre hervorragend ausgebaut, und man könne ab Vradakes auf der Straße auch ohne Allrad vorsichtig zum Kloster Panagia Evangelistria Mavrianou hinabfahren. Und er hat (zumindest teilweise, nämlich bis Vrakades) recht: durch die zunehmend steiniger und öder werdende Landschaft zieht sich eine carrerabahnähnliche Straße, in den Kurven trotzdem schon wieder leicht abbröckelnd. Unterhalb liegt ein Ort namens Kouniadi, wir bleiben oben und erreichen Vrakades, etwa auf 600 Meter über dem Meer gelegen.
Der Himmel vor uns sieht finster aus, und wir überlegen, wo wir an der schmalen Straße, die hier endet, am besten parken sollen. Erst mal wenden, ein Wegweiser fällt mir auf: er bezeichnet einen einstündigen Fußweg nach Lagada. Dann steige ich aus, kann ich da bleiben?
Ein Donnern in der Luft erschreckt mich. Nicht ein einzelnes langes Donnern, sondern ein langgezogenes dumpfes Geräusch. Ein junger Mann, der vorhin an einem Haus gearbeitet hat, kommt mit suchendem Blick um die Ecke, schaut dann mit aufgerissen Augen auf etwas hinter uns. Ein zweiter kommt dazu. Ich drehe mich um, und sehe auf dem kahlen Felsengrad über uns, vielleicht einen Kilometer oder etwas mehr entfernt, einen dunklen Luftwirbel – eine Windhose!
Nicht mit einem Schlauch wie ein Tornado – dazu sind die Wolken zu tief. Nein, der Wirbel ist direkt in den graubraunen Wolken, und was mich noch viel mehr erschreckt, das ist dieses Tosen, dieses andauernde laute Grollen!
Ich habe keine Ahnung, wie lange so ein Wirbelsturm dauert, und wie schnell er ist, und ob es gefährlich werden kann wenn wir hier bleiben.
Der eine der Männer hat inzwischen sein Handy herausgezogen und telefoniert – wen ruft man denn da an? Stormchaser? Ich blicke den anderen fragend an: ob es besser ist, wir machen uns davon? Auf alle Fälle, meint er, wobei seine Kenntnis über Wirbelstürme der meinen vermutlich nicht weit voraus ist. Ich mache schnell noch ein paar Fotos und ärgere mich später darüber, dass ich nicht an die Videofunktion meines Fotoapparates gedacht habe. Dann flüchten wir von dieser unheimlichen Erscheinung, erschrocken trete ich ordentlich aufs Gas. Nach der ersten Kurve verschwindet die Naturerscheinung aus der Sicht, und nach zehn Minuten sind wir uns schon nicht mehr sicher, ob wir sie wirklich gesehen haben…. Aber das Geräusch hängt uns noch nach.
Bei der Kapelle Panagitsa unterhalb von Christos fängt es an zu tröpfeln, und als wir am Hotel in Armenistis sind, regnet es richtig. So „wohnen“ wir am Nachmittag, waschen Wäsche, die bei dem feuchten Wetter kaum trocken will, und genießen das leckere eingekaufte Gebäck.
Gegen 17 Uhr hört der Regen auf und wir wollen, ausgerüstet mit Schirm und Regenjacke, entlang der Strände nach Gialiskari gehen. In dem trüben Wetter und mit den tiefhängenden Wolken sieht die Küste traurig aus, wir versuchen, auf den Livadi-Strand zu kommen, aber der Oktogremos-Fluß, der am Rande des Strandes ins Meer fließt, schneidet den Zugang ab. Vermüllt die Flussränder, unaufgeräumt der Strand – hier ist noch keine Saison. Wenn wir weiter wollten, müssten wir auf der Straße gehen und das Flusstal auslaufen, dazu haben wir dann doch keine Lust, zumal es wieder anfängt zu regnen. Der Sonnenuntergang fällt dann heute auch ins Wasser.
Das Abendessen nehmen wir in der namenlosen Taverne über der Straße ein – laut Quittung (ja, die gibt es!) heißt sie „Bainto“ (Μpaïnto). Die schöne Gorgone, die an der Wand hängt, brauch ich sowieso für meine Sammlung. Am Nachbartisch sitzt das englische Paar, das wir vom „Synapanti“ in Agios kennen, und das heute das Zimmer neben uns bezogen hat. Die Insel ist kleiner als man denkt…
Auch im „Bainto“ schmeckt das Essen gut. Nun hoffen wir auf trockenes Wetter für morgen!
Und das Wetter ist bestens am nächsten Tag! Wir können draußen auf der Terrasse frühstücken, wo es in der Sonne fast schon wieder zu heiß wird. Heute wollen wir in die Chalaris-Schlucht und stellen uns aus den Wandertouren 30 und 31 des Dieter-Graf-Führers „Samos, Patmos, nördlicher Dodekanes“ eine Rundtour zusammen: erst hinauf nach Agios Dimitris (genauer: Litani), dann am oberen Rand der Chalaris-Schlucht entlang, schließlich hinab in die Schlucht, nach Nas und wieder zurück nach Armenistis.
Dazu geht es westwärts aus dem Ort hinaus bis zur Villa Dimitri. Oberhalb der Straße steht hier die Kapelle des heiligen Savvas - endlich mal wieder eine geöffnetes Gotteshaus, ein zwar neues, aber sehr gepflegtes. Von hier aus wandern wir bergwärts, erst nach Westen auf einem gut sichtbaren Pfad, dann auf einem allenfalls zu erahnenden Weg durch das Gras und östlich zu einem Wäldchen. Endlich erreichen wir einen Feldweg, dem wir nun nach Osten und später nach Süden folgen, immer sanft bergauf, auch für die Mutter zu schaffen.
Die blühende Natur ist einfach überwältigend, wir haben so etwas in Griechenland noch nie erlebt! Besonders beeindruckt uns der Schopflavendel, den wir noch nie wild gesehen haben – nur im Topf in heimischen Gärtnereien. Dazwischen ist alles blaßrosa von zerknitterten Zistrosen, königsblau von Lupinen, und rote Tupfen vom Mohn hat es natürlich auch. Ein Lüftchen sorgt dafür, dass uns nicht zu heiß wird, der Blick auf das Meer erfrischt auch. Nach einer Biegung sehen wir die Hänge um Raches (= Berg-Rücken) vor uns liegen, dahinter guckt der Atheras über ein Wolkenband. Einige Hänge sind nur grün und baumlos – wir vermuten, es hat hier vor längerem gebrannt.
Entlang des Feldweges führt ein schwarzer Schlauch Wasser – ein Anblick, an den wir uns auf Ikaria noch gewöhnen werden. Gelegentlich gönnt ein Löchlein darin uns eine sprühende Dusche. Nach einer guten Stunde erreichen wir an einem Bach die Straße Armenistis – Christos, auf der wir nun weiter müssen. Ein Mann auf einem Moped ist der Erste, dem wir auf dieser Wanderung begegnen, er kommt uns entgegen, hat eine Ziege auf dem Rücken. Moment, eine Ziege?
Nein, es handelt sich um einen der typisch ikariotischen Rucksäcke aus einem kopflosen (immerhin!) Ziegenbalg samt Beinen, „filakí“ genannt. Bei Hermann Richter, dem Wanderführer, den wir vor Jahren auf Sifnos trafen, haben wir so eine Tasche schon mal gesehen – und uns nicht so recht vorstellen können, dass die Teile bequem sind, die Fellhaare kitzeln bestimmt, und warm ist auch. Leider ist der Mopedfahrer vorbei ehe ich meinen Fotoapparat zücken kann. Ich hoffe, ich habe nochmals Gelegenheit, einen Filaki zu sehen.
Die nächste Viertelstunde müssen wir auf der Straße wandern – zum Glück hat es kaum Verkehr. In dem Weiler Litani weist uns ein Schild die Richtung, und kurz darauf lassen wir uns blöderweise von einem weiteren Wegweiser verwirren (wir wollen ja nach Nas, und nicht nach Christos) und zu einem Irrweg verleiten. Wir merken es, als wir zu weit von der Schlucht weg kommen, fragen zwei hilfsbereit und über uns amüsierte Männer an einem ziegenhorngeschmückten Hof und müssen wieder zurück. Nun finden wir den richtigen Einstieg, ein guter Weg, und es kommen uns zwei Wanderer entgegen, Deutsche, die wir vorgestern schon im „Paschalia“ gesehen haben. Sie kommen schon seit 15 Jahren im Frühjahr nach Ikaria weil es hier so schön ist und so gut wanderbar. Als überzeugte Wanderer schauen sie mit leichter Verachtung auf uns Mietwagenleiher herab – ja, mei, man kann ja das eine tun ohne das andere zu lassen. Dass man nur beim Wandern die Muse hat, in aller Ruhe die vielen kleinen Mosaiksteinchen am Wegesrand aufzunehmen und zu einem Bild zusammenzusetzen, wissen wir auch. Wir erzählen von unserem gestrigen Wirbelsturmerlebnis, und sie geben uns den Tipp, dass der Weg von Vradakes nach Lagada einer der schönsten Höhenwege auf Ikaria sei.
Von hier oben aus kann man gut den Chalaris-Fluss unten in der Schlucht sehen, die Schlucht ist recht breit. Der Weg führt, nach kurzem Abstieg am Anfang, immer ziemlich weit am oberen Rand der Schlucht entlang.
Ein Mal weist ein Wegweiser nach Proespera, einem Dorf, das jenseits der Schlucht liegt, man muss hier also den Fluss queren, und könnte eventuell auch im Flussbett wandern. Angesichts der Tatsache, dass Frühjahr ist, der Fluss also viel Wasser hat, und es gestern stark geregnet hat, muss man wohl mehr von Canyoning reden – darauf haben wir keine Lust! Wir bleiben also oben, gelegentlich steigt der Weg so hoch an, dass ich schon denke, wir werden nie im Flussbett herauskommen! Und das möchte ich, trotz des hohen Wasserstandes, schon.
An einer Flussbiegung sieht man gut ins das Tal hinein, einige Menschen liegen am Ufer in der Sonne, die Strandalternative.
Viele Eidechsen gibt es hier, und die größeren Echsen, Hardun genannt, die wir vom letzten Jahr auf den Dodekanes schon gut kennen. Wir sind hier an der Grenze zu einem Naturschutzgebiet der „Natura 2000“, das sich ab hier über den ganzen Westen Ikarias erstreckt und auch die Höhenzüge des Atheras weiter östlich sowie das Fourni-Archipel nicht auslässt.
Endlich zweigt links ein Weg ab in die Schlucht, wer es bequemer haben will, kann auch direkt über den Bergrücken auf die Straße nach Nas. Steil steigen wir auf einem Zick-Zack-Weg zum Wasser hinab, wo am Ufer nochmals die möglichen Routen auf den Felsen gemalt sind: flussaufwärts „River-Trekking“ – etwas für den Sommer. Wir „trekken“ flussabwärts, an den grauen Uferfelsen entlang, die zum Glück sehr griffig sind, gelegentlich ist leichtes Klettern erforderlich (aber kein Vergleich mit der Aradena-Schlucht!). Nie ohne meine Bergschuhe, sie geben Halt und Sicherheit, auch wenn sie viel Platz im Gepäck beanspruchen (ich hab Schuhgröße 42…). Den schwarzen Schlauch, der entlang des Ufers führt, sollte man übrigens nicht als Halteseil interpretieren. Irgendwie entbehrt er so nahe am Wasser aber doch der Notwendigkeit.
Hier unten ist die Schlucht wirklich schön, aber da wir nicht im Hochsommer bei großer Hitze hier sind, können wir das Erfrischende des Wassers und der üppigen Vegetation, von denen gerne geschwärmt wird, nicht so sehr empfinden.
Gegen drei Uhr am Mittag erreichen wir die Küstenstraße (besser: Schotterpiste), die hier den Fluss überquert und weiter die Küste entlang nach Westen führt . Links kommt man auf ihr zum Strand von Nas und zu den Resten des antiken Artemis-Tempels (und zum Kloster Evangelistria, aber das sind reichlich Kilometer). Rechts zum Ort Nas mit Tavernen (hoffen wir). Wir wollen zuerst in eine Taverne (Bier! Limo! Radler!) und dann an den Strand, also gehen wir rechts. Ein freundlicher Hund wedelt uns vor seiner Hütte an – wir sehen öfters die – allerdings nur halbe – Variante des ikariotischen Tores. Und der Chalaris produziert auch noch einen recht beindruckenden Wasserfall hier unten, bevor er sich in einem großen Fragezeichen zum Meer hinab windet.
Von der Straße können wir dei Artemistempel-Fundamente und den Strand sehen. Dann sind wir in Nas, das als Ort zu bezeichnen ich etwas übertrieben finde: eine Handvoll Tavernen, und zwei Dutzende Ferienhäuser verteilen sich entlang der Hänge. Die zuerst angesteuerten Tavernen sind geschlossen, offen finden wir eine, die mit Gorgonen lockt – kein Wunder: sie heißt „Ναϊάδες“.
Erfrischt und gestärkt wenden wir uns dann dem Strand zu – und haben ein Problem: es führt ein wunderbarer Treppenweg hinab zum Fluss, aber wir können hinüber nicht kommen – das Wasser ist zu tief! Sappradi, das gibt es doch gar nicht, das muss doch irgendwie gehen! Die in die Felsen gehauene Treppe hat sogar ein Geländer, ich klettere darunter durch und vorsichtig auf einen großen, vorgelagerten Felsen. Nun sehe ich den Strand und auch den Fluss zwar besser, aber flacher wird er dadurch auch nicht. Mindestens hüfttief ist das Wasser hier, und wahrscheinlich saukalt. Außerdem grün-schlammig. Der Tempel liegt direkt auf der anderen Flussseite – außer Reichweite.
Ich sehe einen Mann vom Strand kommen, mal sehen wo er hinübergeht: ganz vorne an der Mündung, und dann viel weiter links als wir stehen über den Felsen.
Ich überlege gerade ob ich es riskieren soll, da kommt ein Paar die Treppe herunter, der Mann, fotoapparatbewehrt bis zum Anschlag voraus. Ich kann ihn mit einem Stopp-Schrei gerade noch abhalten, ganz vorne, am Ende der Treppe, auf den Felsen zu springen – da ist eine richtig tiefe wassergefüllte Lücke, und der Felsen sehr schräg. Die Mutter, auf der Treppe geblieben, zeigt ihm wo es besser geht, wortlos klettert er zu mir auf den Felsen, drängt zum Strandblick. So entgeht ihm, dass seine Frau es ihm nachtun möchte. Nicht aber uns: sie schwingt sich unter dem Geländer hindurch, klettert einen Schritt den Felsen hinab, springt dann sofort einen viel zu großen Satz auf einen viel zu steilen Stein, findet mit ihren schicken Sneakers natürlich keinen Halt, rutscht ab, stürzt, schlägt auf den Rücken und Kopf, überschlägt sich auf dem schrägen Felsen wie in Zeitlupe – und fällt ins Wasser. Vollbad. Ich stehe nur zwei, drei Meter von ihr entfernt, aber ich habe keine Möglichkeit, sie zu halten.
Ihr Mann merkt es erst als wir schreien. Benommen, aber bei Bewusstsein taucht sie im trübbraunen Wasser wieder auf. Ihr Kopf blutet. Mit Mühe ziehen der Mann und ich sie aus dem tiefen, schlickigen Wasser, die Steine sind rutschig, sie findet keinen Halt. Man spricht Deutsch, in diesem Falle alpenländisch. Die Frau meinte, es wäre nix, es ginge ihr gut. Der Mann meint angesichts der blutenden Kopfwunde, man müsse wohl zum Arzt, nähen. Bestimmt kein Fehler. Wo hier wohl der nächste Arzt ist? Sie wohnen hier in Nas, haben zwar kein Auto, aber es kann sie jemand fahren. Sie ist nicht nur klatschnass (samt Fotoapparat), sondern auch blutverschmiert. Und wo sie sich bei ihrem Überschlag noch alles blaue Flecken und Schmarren geholt hat, das wird sie vermutlich erst die nächsten Tage merken. Noch dämpft der Schock den Schmerz, sie klettert, vorsichtig abgestützt, wieder die zwei Meter hohe Felsenwand zur Treppe hinauf, der Mann hinterher, ohne Worte. Dann entschwinden sie langsam auf der Treppe. Sie habe doch nur baden wollen, sagt sie vorher zur Mutter. Nun, der Wunsch ging in Erfüllung…
Wir stehen etwas bedröppelt da, und die Lust, über den Chalari zu kommen, ist weitgehend geschwunden. Obwohl wir nicht so unvorsichtig sind (oder soll ich sagen blöd?) und vernünftiges Schuhwerk an haben. Ich klettere weiter oben noch über die langgestreckte Felsennase, hier käme man schon zum Strand, das Wasser ist maximal knietief, hat aber ziemlich Strömung.
Ach, wenn wir wollen, können wir die nächsten Tage immer noch mit dem Auto herfahren und die Straße hinten im Flusstal auslaufen, und auf die andere Seite hinüber. Viel ist von dem Artemis-Tempel sowieso nicht übrig, und so Strandfans sind wir auch nicht – abgesehen davon, dass überall vor den heimtückischen Strömungen hier gewarnt wird (ob es die wirklich gibt, oder jeder nur vom anderen abschreibt?).
In einer guten Dreiviertelstunde wandern wir auf der Straße zurück nach Armenistis. Es soll etwas weiter oberhalb noch parallel einen schöneren Weg geben, aber wir sind ganz dankbar für achtloses Gehen. Und man hat einen guten Blick auf die Küste im sanften Nachmittagslicht. Faszinierend die kugeligen Dornsträucher mit über einem Meter Durchmesser – fast samtig sehen sie so in graugrün noch aus. Dann blüht überall am Straßenrand der Ginster mehr und mehr auf, den Mohn erwähne ich jetzt nicht schon wieder….
Irgendwann überholt uns ein Auto, in dem das österreichische Paar sitzt – sie fahren nun wohl doch zu einem Arzt. Wir werden sie zwei Tage später wiedersehen und fragen wie es geht - die Frau hat ganz schön Glück gehabt, nicht einmal eine Gehirnerschütterung. Die Kopfwunde musste aber genäht werden, und ob der Fotoapparat das Bad überlebt hat, wage ich auch zu bezweifeln. Trotzdem - das hätte schlimmer ausgehen können!
Das war eine wirklich schöne Wanderung heute!
Tief zufrieden gehen wir am Abend im Paschalia essen. Vorher hatten wir noch einen Blick in eine merkwürdige Taverne unterhalb davon geworfen, die heute ihren ersten Öffnungstag hat. Irgendein englischer Name, und der Wirt nordeuropäischen Typs sah so aus als wäre er getränketechnisch sein bester Gast. Allerdings wurde der Wein nicht geliefert – für uns ein Ausschlusskriterium.
Im Paschalia sitzen auch heute wieder die Stammgäste – das deutsche Wandererpaar zum Beispiel. Und ein einzelreisender Mann, der plötzlich aufsteht und mich fragt „Katharina?“ Es ist Günter, mir bekannt von diversen Griechenland-Internetforen, und wie wir passionierter Inselsammler. Dass wir uns in Armenistis vermutlich über den Weg laufen würden, hatten wir vorher gewusst. Witzig ist es jetzt trotzdem. Er ist schon seit Dienstag hier, und heute auch durch die Chalaris-Schlucht gewandert, uns etwas voraus.
Wir verabreden uns für den nächsten Tag, da wollen wir zum „Schutzdach Gottes“ und zum Panigiri in Avlaki, haben noch Platz im Mietauto und nehmen ihn gerne mit.