Der Wind bleibt uns erhalten, und auch die Sonne hat sich am Vormittag noch nicht durchgesetzt. Beim benachbarten Reisebüro Aegean Travel leihe ich für 28 Euro pro Tag einen Suzuki Alto mit 58.000 Kilometern. Vier Tage wollen wir ihn brauchen. Im Vergleich zum sportlichen und leisen Citroën C3, den wir auf Samothraki hatten, ist er eine rechte Klapperkiste, aber mit ihm ist die Hemmschwelle, auch Schotterpisten zu fahren, niedriger. Und das ist gut, denn Limnos hat reichlich unbefestigte Straßen.
Wir verlassen Myrina Richtung Süden, lassen uns in Platy auf einen Irrweg zum Strand verführen. Der sieht bei den trüben Wetter wenig einladend aus, die touristische Infrastruktur ist schon eingemottet. Zurück auf der Hauptstraße sind wir verwirrt ob der labyrinthischen Verkehrsführung durch das Bergdorf Thanos. Das kann doch nicht die Hauptdurchfahrt sein? Ist es doch, wie ich drei Tage später bei der Durchfahrt in Gegenrichtung bestätigt sehe. Samt megasteiler, aber enger Durchfahrt, und Ampel. Ampeln an einspurigen Durchfahrten - das gibt es auf Limnos öfters, vor allem in Myrina.
Hinter Thanos wird es öde. Oder besser: karg und einsam. Entlang der Bucht von Nevgatis - wer möchte hier Urlaub machen? Rechts die Fakos-Halbinsel. Abweisend irgendwie. Es gibt dort keinen Ort, nur Schotterstraßen. Und Militär. Am Dienstag werde ich den Versuch, weiter auf die Halbinsel vorzudringen, schon nach wenigen Metern abbrechen.
Als wir am Ortsrand von Kontias bei der Windmühlenreihe halten, fühlen wir uns weit weg von Myrina. Die fünf Windmühlen, gepflegt restauriert und in der Saison oder besseren Zeiten als edles Feriendomizil genutzt (wieso gibt es auf der zugehörigen Website keinen Fotos von innen?), sehen nackt und mäßig einladend aus. Auch Kontias, das im Reiseführer wegen der gut erhaltenen Steinhäuser - erbaut von wohlhabenden Seeleuten und Händlern - als sehenswert genannt wird, zeigt sich auf den ersten Blick zugeknöpft. Steingrau alles: die Häuser, die Kirchen, die Straßen, die Mauern, der Himmel. Zudem muss man eine einspurige Ortsdurchfahrt (ohne Ampel) passieren, zum Glück kommt mir gleich am Anfang ein dicker LKW entgegen und dann keiner mehr. Wir stellen das Auto vor der großen Kirche Christi Himmelfahrt ab und bummeln dann zu Fuß durch den Ort, erst bergwärts.
Ein wenig Sonne täte der Optik und uns gut. Aber selber schuld, wenn man im Oktober unterwegs ist.
Dann hinab zum Ortszentrum mit Pantopolio und Kafenio. Da sitzen doch immerhin auch einige Einheimische und beobachten den fließenden oder ob der Enge gelegentlich stockenden Verkehr. Man ist hier aber Fremden gegenüber reserviert - kaum mal ein Gruß oder ein freundlicher Blick. Die Reserviertheit der Einwohner war mir schon auf Samothraki aufgefallen. Corona geschuldet, oder eine Frage der Mentalität?
Weil die Wirtin des Bistros mit dem urgriechischen Namen "La Ronde" (offenbar nach dem Namen des Besitzer Στρογγυλός = rund) aus diesem Schema ausbricht und uns einladend anlächelt (bestimmt ist sie keine Einheimische), lassen wir uns auf der winzigen Terrasse an der Durchgangsstraße auf einen Elleniko nieder. Zu Theos Enttäuschung, der gerne ein großes Auto in der engen Durchfahrt fotografiert hätte, kommt keines.
Am Tisch hinter uns sitzt ein Touristenpaar (Holländer?). Es gibt also auch ausländische Touristen auf Limnos. Aber wenige, und obwohl die Insel doch recht groß ist, werden wir in den folgenden Tagen immer wieder die gleichen sehen.
Weiter nach Portiano. Wir lassen die Hügel zurück, die Landschaft wird flacher und offener. Rechts der Blick hinab zur Küste und hinüber zum Kap Pounta. Hinter dem Golf von Moudros der Südostteil der Insel. Die Sonne scheint allmählich den Kampf mit den Wolken zu gewinnen, der Himmel zeigt erst hellblaue Löcher. Gut!
Ein Schild in Portiano verweist auf den ANZAC-Friedhof. Wir biegen links ab und finden das gepflegte und weitläufige Gelände hinter dem regulären örtlichen Friedhof. ANZAC steht für "Australian and New Zealand Army Corps". Diese Truppen kämpften im 1. Weltkrieg für die Alliierten gegen die Osmanen, und erlangten traurige Berühmtheit, als bei der Schlacht von Gallipoli (ab dem 25. April 1915, der in Australien, Neuseeland und auf Tonga als Gedenktag begangen wird) an den Dardanellen sehr viele dieser Soldaten fielen (die Alliierten verloren diese Schlacht trotzdem). Manche behaupten, die ANZAC-Truppen wären als Kanonenfutter verheizt worden. Ich erinnere mich an den Spielfilm "Gallipoli" (1981, von Peter Weir, mit Mel Gibson), den ich vor vielen Jahren gesehen habe. Ein junger Australier möchte unbedingt in diesen fernen Krieg und macht sich älter als er ist, und geht durch die Wüste, um in der Fremde angenommen zu werden.
Auf Limnos fanden keine Kampfhandlungen statt, aber die Insel diente ab März 1915 wegen ihrer Nähe zu den Dardanellen als Basislager, es gab zehn Krankenstationen. Es starben auf Limnos nicht nur zahlreiche der bei Gallipoli Verwundeten, sondern auch Angehörige des Pflegepersonals, darunter zwei kanadische Krankenschwestern. Schuld waren der kalte Winter 1915/16 und die schlechte Versorgungslage. Auch nach dem Rückzug der alliierten Truppen von der Halbinsel Gallipoli Anfang 1916 blieb Limnos ein Außenposten der Alliierten. Erst am 30. Oktober 1918 wurde bei Limnos, genauer: an Bord des Kriegsschiffes "HMS Agamemnon" in der Bucht von Moudros, vom türkischen Marineminister Rauf Orbay und vom britischen Admiral Somerset Gough-Calthorpe der Waffenstillstand von Moudros unterzeichnet.
Auf dem Friedhof befinden sich die Gräber von 348 identifizierten Verstorbenen. Ein weiterer Friedhof befindet sich bei Moudros und hat über 800 Gräber.
Die schlichten Grabsteine sind in mehreren Reihen über das Gelände angeordnet. Sie tragen den Namen, das Alter und meist die Regimenter der Toten. Dazu ein kurzer Spruch. Unter jedem Stein schlummern nicht nur ein, sondern gleich mehrere Schicksale, und so packt einen das Grauen je mehr Steine man liest. Und die Wut über dieses sinnlos Sterben. Und darüber, dass die Menschen hundert Jahre später auch nicht gescheiter geworden sind. Zumindest nicht die Mächtigen. Oder gerade die nicht.
Nachdenklich suchen wir nun bei Paleo Pedino die Piste auf die Pounda-Halbinsel. Ich möchte gerne zur Kapelle Agios Nikolaos, die auf einem Felseninselchen im Golf von Moudros liegt, zugänglich über einen schmalen Damm. Beim ersten Mal fahren wir an der unscheinbaren Abzweigung mit fast unleserlichem Wegweiser "Russian Cemetery"vorbei, beim zweiten Mal trauen wir uns auf die Schotterstraße, die breit und in mäßigem Tempo auch gut befahrbar ist. Der Wind, den wir zwischenzeitlich fast vergessen hatten, findet hier in der flachen Küstengegend kein Hindernis und weht stürmisch. Drei Kilometer sind es bis zum Beginn des über hundert Meter langen Dammes, an dessen Ende das Kirchlein lockt.
Die Wellen schlagen immer wieder über den schmalen Betonweg, der teilweise mit angeschwemmtem Seegras bedeckt ist. Ich gehe trotzdem darüber, muss aber kurz vor dem Ziel umkehren, da hier das Wasser über die ganze Breite des Steges steht. Nasse Füße möchte ich dann doch nicht.
Weiter östlich auf dem Kap entdecke ich einen Steinkegel - wieder ein Denkmal für Tote. Dieses Mal für 500 verstorbene russische Kosaken. Mehr als 20.000 der zarentreuen Elitesoldaten wurden nach der Oktoberrevolution nach Limnos evakuiert und lebten bei Pedino unter ärmlichsten Verhältnissen. 500 von ihnen starben dort, über die Hälfte an Grippe. Egal ob Revolution oder Krieg - am Ende steht Elend, Vertreibung und Tod.
Wir fahren dort aber nicht hin, denn es ist inzwischen halb zwei vorbei, und wir haben Hunger. Dazu werden wir Moudros ansteuern, obwohl das eine Ecke weit weg ist. Seit Theo nämlich gelesen hat, dass es im "To Kyma" in Moudros Fischsuppe mit Rofos (Zackenbarsch) geben soll, will er da unbedingt hin. Und da es durchaus auch in meinem Interesse liegt, einen zufriedenen Reisepartner zu haben (bei schlechtem Essen wird er schnell ungenießbar. Wobei er leider auch geschmacklich sehr anspruchsvoll, um nicht zu sagen "eigen", ist ...), steuere ich nun Moudros an. Vorbei am Flughafen und um die Startbahn - weiträumig als militärische Sperrgebiet gekennzeichnet, ebenso wie die sich anschließende Kaserne. Auch auf den Erhebungen links sitzt das Militär in fast zivil wirkenden Häusern.
Nun schlängeln wir uns durch Moudros, das nicht so aussieht als würde sich über die Taverne hinaus ein Besuch lohnen. "To Kyma" finden wir natürlich am Ufer, genauer: am kleinen Hafen, wo ein paar kleine Kaikia liegen und im Sommer Bootsausflüge angeboten werden. Jetzt ist hier nichts los, und auch "To Kyma", ein sehr großes Lokal mit vielen Tischen draußen, sieht verlassen aus. Ist es aber zum Glück nicht. Und Fischsuppe haben sie auch. Mit Rofos. Theo strahlt, und wir verpassen es mal wieder, nach dem Preis zu fragen. Nix gelernt aus dem letzten Jahr. Na, wird schon nicht so heftig sein wie auf Kythnos.
Nach einer Viertelstunde bekommen wir zwei große, tiefe Teller, ordentlich gefüllt mit Sud und Fisch. Schmeckt ausgezeichnet, und wird geleert bis zum letzten Tropfen. Wunderbar. 35 Euro werden insgesamt fällig, 14 Euro pro Suppe plus Wein und Wasser. Ein fairer Preis, der uns nicht auf den Magen schlägt. Als Dessert bekommen wir noch Joghurt mit löffelsüßen Trauben aufs Haus, und dann wäre eigentlich ein Mittagsschlaf angesagt. Oder ein Tsipouro. Kann ich aber nicht, ich muss ja fahren. Und wohin?
Zunächst möchte ich zur Fokia-Höhle, die sich am Kap Sagrada/Fanaraki-Strand fünf Kilometer westlich von Moudros befindet. Wir irren zunächst etwas durch Moudros ehe wir den richtigen Ausgang nach Fanaraki finden und dort im Schatten einiger Bäume parken. Fanaraki ist ein wunderbarer und weitläufiger Sandstrand, auf dem es sich gerade einige Jugendliche im Sportoutfit mit Getränke häuslich einrichten. Falls hier im Sommer Liegen stehen, so hat man sich schon weggeräumt.
Ich halte mich östlich, wo ein Feldweg in fünf Minuten zu einer felsigen, leicht zerklüfteten Küste führt, die mich an Milos erinnert: Felsen in weiß mit rötlichen Adern, ocker, schwefelgelb und orange. Limnos ist, wie Milos, vulkanischen Ursprungs, und hier sieht man das auch.
Die Fokia=Robben-Höhle ist ein länglicher Felsenspalt im Meer, über den sich ein Felsenbogen spannt. Sieht interessant aus, aber wäre einen weiteren Umweg nicht wert, zumal ich dergleichen von Milos schon kenne. Schön wäre es, hier nun baden zu gehen, aber der Wind und die fortgeschrittene Tageszeit mit einhergehenden Kühle nehmen die Lust, sich in Badeklamotten zu werfen. Jetzt bin ich schon den zweiten Tag auf Limnos und habe noch nicht gebadet. Kein Badeurlaub diesen Herbst. Und auch kein Wanderurlaub.
Wir fahren zurück nach Moudros und steuern von dort die Ostküste an. Polióchni ist das Ziel, die älteste Stadt Europas. Sagt wikipedia: "Die ältesten der sieben archäologischen Ausgrabungsschichten weisen auf eine früheste Besiedlung im 5. oder 4. Jahrtausend v. Chr. hin, was Poliochni auch den Beinamen als „älteste Stadt Europas“ eintrug. Den Höhepunkt seiner urbanen Entwicklung erreichte Poliochni in der Frühen Bronzezeit zwischen etwa 3200 und 2000 v. Chr.".
Mehr als ein paar Fundamente werden dort nicht zu sehen sein, und außerdem sind Ausgrabungen in Griechenland nach 16 Uhr sowieso geschlossen wenn es sich nicht um Weltwunder wie die Akropolis in Athen handelt. Aber über den Zaun gucken kann man vielleicht.
Nein, kann man nicht. Der Zaun isz zu hoch, und so sieht man nicht viel. Aber zu unserem Trost: auch wenn wir früher am Tag dagewesen wären, wäre die Ausgrabung wegen Bauarbeiten geschlossen gewesen. Übrigens liegt genau Limnos gegenüber auf dem türkischen Festland das antike Troja. Schon vor Jahrtausenden waren hier wichtige Handelswege.
Auf der Rückfahrt fahren wir uns in Romanou noch fast auf einem steilen Feldweg fest, weil Theo gerne die Windmühlen dort fotografieren möchte (am liebsten natürlich aus dem Auto). Sind aber nur drei steinerne Zylinder.
In Livadochori nehmen wir jetzt die nördliche Straße über Agios Dimitrios zurück nach Myrina. Die Straße ist gut ausgebaut und so fährt es sich hier wesentlich schneller als entlang der Südküste.Gegen 18 Uhr sind wir zurück in Myrina. Den Mietwagen stellen wir am alten Fähranleger ab. Es sind 116 Kilometer zusammengekommen, mehr als gedacht.
Zum Sonnenuntergang drehe ich noch eine Runde hinüber zum neuen Fähranleger und zur darüber auf einem Hügel liegenden Agios-Nikolaos-Kirche. Auf dem Weg fällt mir am Tourkikos Gialos ein Gebäude auf, das offenbar ein Spielzeug-Museum enthält. Dazu gehören auch große Tafeln an der Paralia, auf denen man einiges über Kinderspiele erfährt.
Weiter vorne plötzlich großes Geschnatter: zwei Dutzend Gänse marschieren die Straße entlang. Sie halten sich sonst auf einem Grundstück oberhalb des Hafen aus, und haben jetzt Freigang für eine Volta. Oder sind sie ausgebüchst? Zu ihrem Glück ist hier kaum Verkehr, denn ihre graue Farbe hebt sich nicht sehr deutlich von der Umgebung ab. Dazu muss ich anmerken, dass ich noch nie in vier Tage so viele überfahrene Tiere gesehen haben wie auf Limnos. Allgegenwärtig die Nebelkrähen, die sich am Roadkill delektieren (und womöglich selber Opfer werden wenn sie unvorsichtig sind). Vögel, Kaninchen, Katzen, Unidentifizierbares - ob der Limnier extra noch Gas gibt, wenn er ein Tier vor der Motorhaube hat? Diese vielen Gänse hier wären aber doch ein recht großes Kaliber.
Die Agios-Nikolaos-Kirche blickt hinüber zur Burg und zum alten Fähranleger, wo heute wieder die "Adamantios Korais" übernachtet. Gegenüber am neuen Anleger liegt immer noch das Tankschiff. Der Berg Athos hüllt seinen Gipfel heute in Wolken, und insgesamt ist der Sonnenuntergang wenig spannend. Und kaum ist die Sonne weg, wird es kalt. Wer die Nordostägäis im Herbst besucht, sollte keine zu hohen Erwartungen an warme Temperaturen haben.
So verkrümelt sich das halbe Dutzend Sonnenuntergangsgucker schnell, und ich wünsche mir ein Heißgetränk statt des Radlers aus der Dose. Immerhin ein paar schöne Scherenschnitt-Fotos gibt der Küstenverlauf her. Ist nicht Kap Vani, aber sieht ein kleines bissle so aus.
Von der Fischsuppe am Mittag sind wir am Abend immer noch satt. Ein Tsipouro mit Mezedes würde aber noch reingehen. Irgendwie werden wir aber nicht so richtig fündig: zu voll, zu jung, zu laut, zu windig. Nach einer Runde durch die halbe Stadt landen wir schließlich wieder am alten Hafen im "To Kastro". Auch dort flimmert zwar Sport über einen großen Flachbildschirm, aber wir können ihn halbwegs ignorieren. Drei frittierte Fischlein, ein paar Oliven, Taramas und Tomaten - ja, geht in Ordnung. Müde geht es ins Bett. Den ganzen Tag mit dem Auto herumfahren ist auch anstrengend. Wenn auch nicht so erfüllend wie eine gepflegte Wanderung. Die gibt es hoffentlich morgen.