Schon am Morgen scheint die Sonne vom blauen Himmel. Von meinem Balkon kann ich auf die Terrassen des Nachbarhotel "Cavos Bay" hinübergucken, von wo das Geklapper von Frühstücksbesteck herüberklingt. Ist schon ganz gut belegt, das Hotel, und der Pool gefüllt. Aber ich bin zufrieden mit meinem "Daidalos". Frühstücke heute auch auf der Terrasse, und bekomme Komplimente fürs gestrige Tanzen von einer Frau der Wandergruppe, die sich schwäbisch anhört. Danke!
Ich bin heute etwas planlos. Würde gerne wandern, aber weiß nicht so recht wo. Es ist eher zu warm heute. Im Wald wandern finde ich eigentlich trotzdem doof. Aber vielleicht ab Kloster Mounte auf dem "Pfad der Elfen"? Walli war bei ihrer Suche nach Postkarten bislang nicht erfolgreich. Einen Geldautomat braucht sie auch, und so biete ich ihr an, sie nach Christos Raches zu bringen, von wo sie dann durch die Chalaris-Schlucht nach Nas hinab wandern kann. Wenn ich gewusst hätte, was das Angebot für Folgen für Walli haben würden, hätte ich es nicht gemacht. Oder vorher noch ein klärendes Gespräch über die Wegführung gemacht. Aber tatsächlich ist mir diese nach 14 Jahren auch nicht mehr so präsent. Und Walli schätze ich wandererfahren genug ein.
Ich nehme die östliche von den beiden Straßen nach Christos Raches, die zwischen den Stränden von Livadi und Mesakti abzweigt. Durch Agios Polikarpos hindurch - was war da immer in der Radiowerbung? Dann zeigt links ein Wegweiser zu Kloster Mounte, aber ich bleibe auf der Hauptstraße, die verwunden nach Christos Raches führt, wo ich Walli absetze und umdrehe. Ein Netz an Straßen und Pisten verbindet hier die Orte und Weiler, alles ziemlich unübersichtlich. Bergab verpasse ich die Abzweigung zum Kloster dann erst mal, muss wieder zurück. Wie so oft in Griechenland und speziell auf Ikaria beginnt die Straße breit und gut ausgebaut, geht aber dann irgendwann eine Schotterpiste über. So schlecht, dass ich sie nicht mit dem Mietwagen befahren würde, ist sie aber nicht.
Vorbei an einem kleinen Stausee - der Mirsonas-Bach wird hier aufgestaut - erreiche ich das Kloster Mounte, das im dichten Wald liegt. Es soll schon 1460 gegründet worden sein, der Name könnte sich auf das italienische "Monte" beziehen, oder auf den Namen einer chiotischen Familie, die Geld zur Restaurierung gab. Kirche und Gebäude scheinen mir wesentlich neuer.
Oberhalb steht ein Gedenkstein "zu Ehren der Unbeugsamen des Klassenkampfes", aufgestellt von der KKE in Erinnerung an die auf die Insel Ikaria während des Bürgerkrieges politisch Verbannten. Zehn- bis fünfzehntausend sollen es während der Jahre 1947 bis 1949 gewesen sein, die auf nur noch 8.000 Einheimische trafen: die Besatzung hatte auf Ikaria viele Opfer gefordert. Alleine in dem Dorf Karavostamos sollen hundert Menschen verhungert sein.
Natürlich galt ein Kontaktverbot zwischen Einheimischen und Verbannten, aber auf der weitläufigen Insel ließ sich das schlecht kontrollieren. Mikis Theodorakis schreibt in "Die Wege des Erzengels", dass die Exilierten sich selbst nur ein Verbot auferlegt hatte: nichts mit den ikariotischen Frauen anfangen. Was wohl gar nicht so leicht gewesen sein soll, denn einige Frauen wären den Verbannten geradezu nachgelaufen.
Mikis Theodorakis, der dieses Jahr seinen hundertsten Geburtstag feiern würde, wäre er nicht 2021 (an meinem Geburtstag) hochbetagt gestorben, war gleich zweimal auf Ikaria im Exil: 1947 in Vrakades, und 1948/49 in Dafni. Vor allem über den zweiten Aufenthalt schreibt er ausführlich in seiner Autobiografie. Dreimal täglich musste sich seine in Dafni untergebrachte Gruppe zur Kontrolle im Nachbardorf Akamantra einfinden, was jeweils einen einstündigen Aufstieg erforderte. Theodorakis kam mit einer nicht ausgeheilten Lungenentzündung auf Ikaria an - vorher hatte er in Athen wochenlang im Untergrund gelebt, viele seinen Genossen waren verhaftet und hingerichtet worden. Was dieser Mann alles er- und durchlitten hat, ist wirklich unglaublich zu lesen. Und wie viel Glück hatte er, dies zu überleben und uns mit seiner Musik zu erfreuen und anzurühren... höhere Mächte, oder Schicksal?
Während des Bürgerkrieges dient das Kloster Mounte als Krankenstation, viele Tuberkulosekranke wurden hier gepflegt. Schwer, sich das jetzt in dem stillen und sonnigen Kloster vorzustellen, das wie ein verwunschenes Märchenschloss wirkt. Lange war es ein Nonnenkloster, aber inzwischen wird es nicht mehr bewirtschaftet, nur ein Papas guckt regelmäßig nach dem Rechten. Ein Auto ist im Hof abgestellt, aber offensichtlich schon länger: die Reifen sind platt, die Natur beginnt gerade, es zum umgarnen.
Die Kirche ist trotzdem unverschlossen. Drei Schiffe, weiße Decke über kariertem Fliesenboden. Sicher nicht aus der Gründungszeit des Klosters, und ein bißchen zu steril um gleich zu singen. Ich tue es aber doch, vielleicht kommt dann jemand? Nein, niemand. Nicht mal ein Katze lässt sich im Klosterhof blicken. Ich schlendere um die Kirche, betrachte den dürren Glockenturm und die grüne Umgebung. Das ist mir schon fast zu viel. Lieber lasse ich den Blick Richtung Meer schweifen. Und überlege, was ich nun tun soll. Auf der Piste weiterfahren und dann von Lapsachades zum Theoktisti-Kirche wandern? Ich fahre weiter, aber die Piste wird spätestens an der Abzweigung zu schlecht um guten Gewissens weiterzufahren. Nach Maratho ist die Piste auch nicht besser. Und ich hab eh keine Lust, im Wald zu wandern. So fahre ich über Kastanies nach Raches, und weiter bergwärts bis zur Abzweigung nach Vrakades. Diesen Ort, in dem Theodorakis in der Verbannung war, möchte ich mir näher ansehen. Die Straße überquert den oberen Chalaris, ein Wegweiser zeigt ins Bachbett. Gerne würde ich hier hinab wandern, aber heute ist das schon zu spät. Und wie komme ich dann zum Auto zurück? Ich könnte mich morgen mit dem Taxi herbringen lassen, und dann via Nas nach Armenistis gehen. Gefällt mir, der Plan.
Vor Vrakades zweigt links eine gute befestigte Straße ab, und ein großes Schild weist auf ein Theodorakis Museum hin. Ein Museum? Nix wie hin! Ich biege auf die Straße ein, die nach wenigen Meter in einen Feldweg übergeht (hier irrt Anavasi), und nach weiteren Meter in einen sehr schlechten Feldweg. Upps. Ich quäle den Panda vorsichtig darüber und weiter, kann aber weit und breit nichts erkennen was ein Museum sein könnte. An einer breiteren Stelle wende ich, und fahre zurück. Entdecke dann ein weiteres Schild mit "Museio Theodoraki", das auf einen noch schmaleren Feldweg deutet, der links abgeht. In der vorherigen Fahrtrichtung war es nicht zu lesen. Die Piste ist hier gerade breit genug, dass ich den Wagen an der Seite abstellen kann. Ob das der offizielle Museumsparkplatz ist? Auf dem Feldweg gehe ich hundert Meter vor bis zu einem Steinhaus, an dem der Weg endet. Mhh, und nun? Ist das das Museum? Kein Schild, nichts hilft weiter.
Das Haus ist niedrig und zweiteilig. Ein typisches Steinhaus für Ikaria, allerdings ohne die oft vorgesetzte Mauer zum Verbergen des herausscheinenden Lichtes. Sollte das das Haus sein, in dem Theodorakis 1947 leben musste, das "Haus des Skorpions"? Ich suche schnell im Internet und werde fündig: ja, das ist tatsächlich das Haus. Es sieht sehr gut erhalten aus, aber nichts, wirklich gar nichts weist hier auf Theodorakis hin. Liebe Ikarioten, das ist echt arm! Noch dazu im Theodorakis-Jahr! Ein wahrer Scheinriese, dieses Museum: vorne großes Schild, und dann wird es immer dürftiger.
Ich sitze etwas ratlos davor, entdecke dann, dass eine Türe unverschlossen ist, und betrete das niedrige Gebäude. In einen frisch renovierten Raum stehen ein dürres Regal, ein Tischchen und ein Schrank. Farb- und Putzeimer stehen herum, Lösungsmittel. Ok, man hat das Haus immerhin renoviert. Neugierig steige auf der Treppe in das obere, dunkle Stockwerk des Nebengebäudes, leuchte mit der Taschenlampe hinein. Schwierig, so ein Haus als Museum einzurichten. Aber ein paar erklärende Bild- und Texttafeln wären schon gut, und würde nicht die Welt kosten. Vielleicht kommen die ja noch, und ich bin nur zu früh dran? Dann würde ich aber empfehlen, das Schild an der Straße auch erst mal zu entfernen. Wobei: das Haus hätte ich ohne nicht unbedingt gefunden.
Die Aussicht über das Dörfchen Vradakes und die Nordküste bis zum Meer ist auch nicht schlecht. Ob Theodorakis das genießen konnte? Seine Vrakades-Erlebnisse beschreibt er leider nur kurz, wie ich inzwischen weiß. Ich suche auf meinem iPhone ein Theodorakis-Lied, finde "Ena to Chelidoni" aus "To Axion Esti", und spiele es in einem Augenblick des Innehaltens ab. Danke Meister, für diese berührende Musik und so viele mehr!
Zurück auf der Hauptstraße geht es nun nach Vrakades hinein. Vor 14 Jahren waren wir hier vor einer Windhose geflohen. Immer noch ein Erlebnis wie geträumt. Ein "geöffneter Landgasthof" wäre schön. Und den gibt es tatsächlich, hinter der Kirche. Ein schmales Haus, ein paar Tische draußen, und ein freundlicher Wirt, der in die Küche bittet als ich frage ob es etwas zu essen gibt. Seine Frau zeigt mir die Auswahl, ich entscheide mich für eine Portion frittierte Koutsomoures - gestreifte Rotbarben - und eine marouli salata vorab. Brot noch dazu, der Krug Wasser steht schon auf dem Tisch. Es ist jetzt so warm, dass ich einen schattigen Tisch ausgewählt habe. Ich bin der einzige Gast und werde schnell von einer Katze belagert. Der Wirt warnt, sie wären flink und aufdringlich. An meinen Salat hat sie aber keine Freude, bekommt später die Fischköpfe, was unweigerlich weitere bettelnde Vierbeiner anzieht. Immerhin besser als die Schnaken, die mich allnächtlich in meinem Hotelzimmer heimsuchen und meine Waden malträtiert haben. Die Stiche werden dick und jucken, wirklich unangenehm. Wo die Ikarioten doch sonst eher Distanz wahren.
Auch ohne einen einschläfernden Wein werde ich müde. Döse etwas vor mich hin. Halb drei ist es inzwischen. Ich werde gucken, ob via Kouniadi oder Proespera direkt zur Küste hinab fahren kann, und mir dann einen netten Badestrand suchen.
16 Euro bezahle ich für das Mittagsmahl. Die befestigte Straße endet in Kouniadi, an Pisten habe ich für heute genug und drehe um. Der ginstergelbe Duft vom Straßenrand erfüllt die Luft und berauscht mich nahezu. Vor dem Bachbett des Chalaris geht links eine Straße nach Proespera ab. Die serpentinenreiche Straße bleibt gut außer auf dem kurzen Abschnitt durch den Ort selbst. Innerorts sind die Gemeinden für den Unterhalt der Straßen selber zuständig, und viele nutzen das als quasi natürliche Verkehrsberuhigung. Hier ist nichts, was zu Anhalten veranlassen könnte, ich kurve einfach weiter, erreiche Kato Proespera, das nur eine Kreuzung mit einer riesigen neuen Wasseraufbereitungsanlage zu sein scheint, und damit die Küstenstraße nahe Nas. Ob ich dort baden kann? Nein, denn es führt von der Straße zwar ein Fußweg hinab, aber die Straße ist zu weit oberhalb. Jetzt will ich es bequem und nicht die Wanderstiefel anziehen müssen.
Ich werde an einen der beiden Strände östlich von Armenistis fahren. Der östlichere Mesakti ist der einladendere: ein weiter, heller Sandstrand, an dem sich die wenigen Badegäste locker verteilen. Noch stehen hier keine Sonnenliegen samt Schirmen, ein Holzhäuschen beherbergt eine Einrichtung zum barrierefreien Einstieg ins Meer (Seatrac). Das sieht man jetzt häufiger an populären Stränden Griechenlands. Würde mich interessieren, wie gut sie genutzt werden. Das Meer hat eine wunderbare helltürkise Farbe, es geht flach hinein und ist nicht annähernd so kalt wie in Nas vorgestern. Erstaunliche 22 Grad zeigt mein Badethermometer an, da kann ich es auch mal länger drin aushalten. An diesem Spitzenwert dürfte vor allem die Seichte der Bucht schuld sein, ich werde ihn in diesem Urlaub nicht annähernd wieder erreichen. Aber im Mai ist Baden im Meer auch nur Beiwerk. Warmbader sollten nicht vor Juni kommen, wenn es zum Wandern zu heiß wird.
Gegen halb sechs bin im "Daidalos" zurück und stelle fest, dass Wallis Balkon noch unberührt ist. Da ist sie aber lange unterwegs. Es wird sechs, dann halb sieben, sieben, und von nebenan ist nichts zu hören. Es wird doch nichts passiert sein? Ich fange an, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Aber sie ist eine erwachsene Frau, und wir haben doch gestern erst darüber geredet, dass man beim Wandern eigenverantwortlich und mich Bedacht unterwegs sein muss. Erst recht wenn man alleine wandert. Aber passieren kann immer etwas.
Ich habe beschlossen, heute zum Abendessen nach Christos Raches hochzufahren, aber möchte erst Wallis Rückkehr abwarten. Es wird ja schon bald dunkel. Um halb acht schicke ich eine besorgte SMS an sie: Ob alles in Ordnung sei? Die Antwort kommt postwendend: Nein. Sie käme gerade aus der Schlucht bei Nas, sei klatschnass, und fix und fertig. Ob ich sie abholen könne? Natürlich! Ich schnappe Handy und Autoschlüssel, springe in den Wagen und sause nach Nas und weiter auf der Straße zum Schluchtausgang hinter Nas. Dort würde sie warten.
Und dort steht sie dann auch, mitgenommen und notdürftig trockengelegt. Fünf Stunden hat sie durch die Schlucht gebraucht, ist zweimal gestürzt und mehrmals komplett nass geworden. Erst im Laufe des Abends und des nächsten Tages wird mir (und auch ihr) klar, was passiert ist:
Von Agios Dimitrios ist sie auf dem markierten Wanderweg in die Chalaris-Schlucht hinabgestiegen, und von dort im Flussbett oder daran entlang abwärts. Das Problem: einen markierten Wanderweg entlang des Baches gibt es nur flussaufwärts, abwärts aber nicht. Zumindest wenn man nicht Canyoning betreiben will, was sich alleine und ohne passende Ausrüstung nicht empfiehlt. Vor 14 Jahren sind wir von Agios Dimitrios oberhalb der Schlucht gen Nas gewandert. Dieser Weg ist auch in der Karte eingezeichnet. In der festen Überzeugung, dass der Weg unten entlang geht, hatte Walli aber nicht auf der Karte geguckt, und dann auch bald keine Markierungen mehr gesehen. Zurück wollte sie nicht, und irgendwann konnte sie es auch nicht mehr, weil sie über die Felsen nicht mehr zurück kam. An dem Punkt, an dem der Weg nach Proespera den Bach quert und man nach Westen aussteigen kann, war sie aber wohl noch nicht so verzweifelt, dass sie diesen Notausstieg gewählt hätte. Oder sie hat ihn gar nicht wahrgenommen. Dann ist sie gestürzt und hat sich die Rippen geprellt oder vielleicht sogar angebrochen. Ging außerdem auch mehrmals komplett baden, so dass alles nass war. Sie traf zwei Frauen, die im Bachbett wild campierten und meinten, das Schlimmste hätte sie jetzt überstanden. Dem war offenbar nicht so, denn es wurde schlimmer. Und kein Netz und Handyempfang, und keine Möglichkeit zur Umkehr mehr! Eine Horrorvorstellung, und sie war der Panik nahe. Hat diese aber erfolgreich bekämpft und sich zäh durch die Schlucht hinab gekämpft. Ich glaube nicht, dass ich das geschafft hätte - ich bin nicht so beweglich wie sie, und meine Bandscheiben hätten das auch nicht mitgemacht.
Zum Glück ist alles gut ausgegangen!
Nach einer Dusche gehen wir ins "Paschalia" essen. Vielmehr esse ich - Walli lädt mich wegen ihrer "Rettung" mit dem Auto ein - sie hat kaum Appetit. Die Linsensuppe schmeckt ihr noch, während ich die folgenden Gemista alleine esse. Der Schock und die Schmerzen machen sich allmählich in ihrem Körper und Seele breit und werden sie auch in den nächsten Tagen noch massiv beschäftigen und beeinträchtigen. Reden darüber hilft, und ich stelle mich gerne als Ansprechpartnerin zur Verfügung.
Es ist müßig, darüber zu diskutieren, ob das leichtsinnig oder dumm war. Fehler passieren, auch ohne Leichtsinn und Übermut.
Allerdings habe ich nun zu viel Respekt, morgen die Schlucht ab Profitis Ilias hinab zu wandern. Auch weil ich noch nicht genau weiß, was bei Walli schiefgegangen ist. Vielleicht ist der Wasserstand im Fluss besonders hoch zu Zeit?
*
In der Nacht ist ein böiger Südwind aufgekommen. Irgendwo im Haus schlägt wiederholt eine Türe oder ein Fenster. Mehrmals gehe ich hinaus, schließe Fenster und verbarrikadiere Türen, aber das richtige ist nicht dabei. Irgendwann schlafe ich trotzdem ein.
Der Südwind hält an. Beim Frühstücke rede ich kurz mit Christina, der Wanderführerin der Gruppe, erzähle auch von Wallis gestrigen Erfahrungen. Sie wollen heute auch durch oder entlang der Schluchten wandern. Ich habe mich dazu entschlossen, die Wanderung von vor 14 Jahren zu wiederholen. Praktisch, wenn man die eigenen Touren im Internet nachlesen kann, was ich heute Nacht gemacht habe. Mama und ich sind damals einen Fußweg westlich von Armenistis hoch, dann über Agios Dimitrios zur Chalaris-Schlucht und oberhalb (oberhalb!) nach Nas. Ob wir dann noch am Ende in die Schlucht hinabgestiegen sind und an der Straßenbrücke herausgekommen sind, weiß ich nicht mehr. Ich glaube aber, ja.
Als ich gegen halb zehn Uhr loswandere, ist Walli gerade wach geworden. Sie sieht mitgenommen aus. Nein, sie will nicht zu einem Arzt oder einer Krankenstation. Wenn die Rippen angebrochen sind, könne man eh nicht viel machen. Nicht tief Luftholen, Husten oder Lachen. Heute einfach mal viel Ruhe, dann passt das schon.
Auf der Straße gehe ich nach Westen bis zur Abzweigung, an der rechts die Ferienapartments der Villa Dimitris liegen, und links eine rotgewandete Puppe auf einen Imker und seine Produkte hinweist. Die Straße führt nur bis zur Kapelle des Heiligen Savvas hinauf, dann wird sie zum Feldweg, dem ich bergwärts folge. An dessen Ende finde ich eine Trampelpfad durch das hohe Gras. Schopflavendel blüht hier auch, und Mohn, Lupinen, Zistrosen. Wunderschön! Nur der Himmel ist grau geworden. Und der böige Wind ist auch noch da. Ich bekommen einen heftige Niesattacke. Heuschnupfen vermutlich, was auch immer hier gerade fliegt. Ich habe noch eine Tablette dagegen und werfe sie ein.
Nach einem Stück auf dem Trampelpfad über verfallenen Terrassen stoße ich bald wieder auf eine Piste, auf der ich bis zur Straße Armenistis-Agios Dimitrios gelange. Inzwischen bin ich in lichtem Kiefernwald angelangt. Zahlreiche Kiefern zeigen einen weißen Überzug, dessen Flocken auch auf dem Boden liegen. Es handelt sich offenbar um einen Befall mit Marchalina hellenica-Läusen, der für die Honiggewinnung aber gewollt ist. Bislang kenne ich das von Kreta, aber auch auf Ikaria wird Pinien-Honig verkauft. Im Englischen mit "pine tree honey" korrekt, im Deutschen dann der obligatorische Übersetzungsfehler: es handelt sich um Kiefernhonig, aber Pinienhonig klingt natürlich auch besser. Wie bei vielen Baumhonigsorten handelt es sich um Honigtau-Honig, der aus den Ausscheidungen von Baumläusen gewonnen wird, den die Bienen dann einsammeln. Klingt jetzt nicht so richtig lecker .... und sieht auch nicht schön aus. Unter Umständen können die Bäume durch den Laus-Befall so geschädigt werden, dass sie eingehen. Ja, wie so vieles hat auch das zwei Seiten.
Unter solchen Gedanken erreiche ich Litani, das eine Art Vorort von Agios Dimitrios ist. Wenn man die waldige Streusiedlung als Ort bezeichnen möchte. Ein Schild weist auf den Weg zur Chalaris-Schlucht hin, ich gehe aber noch etwas weiter auf der Straße bis zu einem zweiten Schild, das ebenfalls nach rechts zeigt. Ein überwachsenes Autowrack hinter einem Zaun bewirbt sich um den Titel der naturnahesten Rostlaube auf Ikaria. Könnte gute Chancen haben.
Der Weg führt durch einen schmalen Durchgang, und kurz darauf bin ich an einem Hühnerstall an oberen Rand der Chalaris-Schlucht. Gleich vier Wegweiser zeigen zweisprachig die Möglichkeiten auf:
20 Minuten nach Raches und Agios Dimitrios - da komme ich her. Zur oberen Chalaris-Schlucht und nach Fragma (= Damm - das ist der Chalaris-Stausee) - vier Stunden. Ein Schild weist nach Proespera (jenseits der Schlucht), zur unteren Chalaris-Schlucht und nach Nas in eineinhalb Stunden - das ist mein Weg. Ein Weg ohne Zeitangabe führt in die Chalaris-Schlucht hinab - den hat Walli gestern genommen. Was vermutlich ein Fehler war. Oder vielmehr der, unten dann nicht umzudrehen.
Ich überlege kurz, ob ich einen Abstecher in die Schlucht machen soll, verwerfe den Gedanken aber. Eineinhalb Stunden nach Nas, das reicht mir heute.
Der schmale Pfad führt durch Kiefernwald, und ist manchmal etwas ausgesetzt. Der Boden ist mit Kiefernnadeln bedeckt und etwas rutschig. Mit Wanderstock aber kein Problem. Gelegentlich muss ich umgefallene Bäume überwinden. Es sieht nicht so aus, als wären die erst in den letzten Tagen umgestürzt. Offenbar hat man es hier nicht so eifrig mit der Pflege der Wanderwege, oder man hatte noch keine Zeit dafür. Es ist mir aber auch heute noch kein weiterer Wanderer unterwegs begegnet, und das wird auch so bleiben.
Nach zwanzig Minuten erreiche ich die nächste Wegkreuzung. Hier könnte ich erneut in die Schlucht hinabsteigen, sie queren und nach Proespera weitergehen. In meiner Karte ist der Weg nicht eingezeichnet, und es steht keine Wanderzeit auf dem Schild. Von Proespera nach Nas müsste ich aber wohl auf der Straße gehen, und das würde sich ziehen. Nein, möchte ich nicht.
An manchen Stellen wird nun der Blick in die Schlucht frei. Dort ist sie meist breiter, und man kann wohl einen Weg entlang finden. Es gibt aber auch schmale Stellen, in denen nur das Wasser Platz hat. Keine Ahnung, ob der Fluss nun viel Wasser oder wenig hat - das hängt ja außer von vorangegangen Regenfälle vor allem vom Stausee ab. Der sah am Sonntag gut gefüllt aus. Sollte Ikaria weniger unter den winterlichen Regenausfällen der letzten Jahre leiden als andere Ägäisinseln? Möglicherweise.
Wenig später komme ich aus dem Wald heraus und habe nun schon die Bucht von Nas im fernen Blickfeld. Ich bin weit oberhalb, aber schon fast über dem Ende der Schlucht, wo die Straße auf einer Brücke eine Haarnadelkurve bildet. Eine letzte Möglichkeit, hinunter zu steigen, aber ich bleibe auf dem oberen Weg, der nun an Weinbergen und über blühende Wiesen zum Örtchen Nas führt. Weit oberhalb, auf einer Art Aussichtsterrasse mit vereinzelten Häusern. Noch einmal habe ich die Wahl des Weges: in eineinhalb Stunden oberhalb nach Armenistis, oder zuerst nach Nas hinab. Ich wähle zweiteres, steige über steile Wege und Treppen hinab. Und setze mich dann auf einer der Treppen ungewollt auf den Hintern, als mein Fuß auf einem Steinchen keinen Halt findet und abrutscht. Nichts passiert, aber Hinfallen kann man auch auf betonierten Treppen - den Wanderstock habe ich da schon weggepackt.
Es ist ein Uhr vorbei, als ich wieder vor dem Wasserhindernis am Strand von Nas stehe. Am Strand scheint heute niemand zu sein. Werktag, keine Sonne und ordentlich Wind, da geht niemand ans Meer.
Mit den Wanderstiefeln werde ich den Landweg ausprobieren, und klettere über die glatten, aber trotzdem griffigen hellen Felsen hinab. Das letzte Stück führt aber über einen schmalen, hohen und ausgesetzten Felsen. Und unten sind wieder stark die Windböen spürbar, die ich in der Schlucht kaum gemerkt habe. In der Hocke könnte es gehen, aber ich traue mich nicht, ohne Halt und abwärts. Bin halt ne Schisserin.
Dann doch durch Wasser. Heute bin ich besser auch präpariert.
Links der Treppe ist ein breiter, flacher Felsen. Dort stelle ich meine Sachen ab und ziehe mich um. Die Badeschuhe habe ich auch dabei. Nur keine wasserdichte Verpackung fürs iPhone. Hätte eine Plastiktüte mit Zipper nehmen können, wie ich sie für diverse Utensilien dabei habe, aber leider habe ich daran nicht vorher gedacht. Bleibt es eben hier und es gibt keine Fotos vom Tempelrest. Egal.
Im Bikini bekleidet ist es kein Problem, durch den gestauten See zu waten, und auch die Fortbewegung am Strand geht mit Schuhen. Dort ist tatsächlich niemand, auch ein Zelt, das ich am Sonntag noch gesehen hatte, ist weg.
Ich gehe hinüber zu den Resten des Tempels der Artemis Tavropolio (Tochter des Stieres) aus dem sechsten Jahrhundert vor Christus. Außer einer breiten Mauer zum Wasser hin sind aber nur ein paar Fundamente zu sehen, die außerdem von niedrigen Büschen und Macchia stark überwachsen sind. Hätte ich nicht viel verpasst.
Im Meer bade ich heute nicht - der ablandige Wind ist mir nicht geheuer. Also wieder durch den See, und umziehen. Dann hinauf in den Ort, der total still daliegt. Mittagspause. Auch die Taverne "Naiades" scheint geschlossen, aber man hat nur die Haupttüre zum Schutz vor dem Wind geschlossen, und winkt mich auf die Terrasse auf der windgeschützten Nordseite als ich mich am Eingang suchend umblicke. Es gibt heute gefüllte Zucchini. Perfekt, und einen Diplo dazu. Kein Kaltgetränk jetzt, sonst friere ich womöglich.
Die gefüllte Zucchini kommt mit Zitronensauce und Reis - perfekt! Der Kaffee bringt die müden Lebensgeister auf Trab, so dass ich die drei Kilometer Rückweg auf der Straße in Angriff nehmen kann. Kurz nach halb drei Uhr beende ich meine Runde in Armenistis. Zwölfeinhalb Kilometer sind es geworden, und jeweils 421 Höhenmeter auf und ab. Insgesamt war ich sechs Stunden unterwegs. Die Gehzeit von zweieinhalb Stunden und eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 4,7 Kilometern pro Stunde in Bewegung können aber nicht stimmen - da müssen die eingegebenen Pausenzeiten etwas verzerrt haben. Aber ich bin zufrieden mit mir und meinem letzten Wandertag im Inselwesten.
Walli ist nicht da, oder schläft im Zimmer. Nach einer Pause breche ich zu einem Ortsbummel auf: im Supermarkt möchte ich nochmals von den köstlichen Käsestengeln kaufen, die so praktisch als Proviant sind. Dazu noch diverser Krimskrams aus den kleinen Lädchen an der Straße hinab zum Minihafen: Seife, eine Stofftasche. Passt immer, ob als Mitbringsel oder für mich selber.
Vor dem Café Ikaros treffe ich eine der Deutschen von der Wandergruppe. Sie ist heute nicht mitgewandert weil es ihr nicht gut ging. Aber sie hat am Montag beim Panigyri mitgetanzt. Wir kommen ins Gespräch, über das Tanzen und die Gruppe. Da werde ich von einem Paar angesprochen: ob ich die Katharina von Nissomanie wäre? Die Deutschen folgen mir schon länger virtuell auf meinen Inselreisen. Das finde ich total nett, wenn ich meinen Follower - so heißt das wohl, auch wenn ich nicht bei Facebook oder Instagram poste - treffe. Letzten Herbst wurde ich zweimal angesprochen, ob ich die "Katharina von Nissomanie" sei: von meiner Zimmernachbarin Margrit auf Naxos, und von Helga auf der "Skopelitis". Aus beiden Begegnungen ergab sich erst ein intensiver Austausch und dann sogar gemeinsame Ausfahrten und Fährpassagen. Hier bleibt es kurz, aber ich freue mich immer über positive Rückmeldungen, und kann nicht so recht verstehen, dass manche eher Angst vor solchen Begegnungen zu haben scheinen.
Mit Walli, die heute einen ganz ruhigen Tag hatte um sich von gestern zu erholen, gehe ich am Abend ins neu geöffnete "Mouragio". Das Essen - Marouli-Salat, Gigantes, Gavros, Wein und Brot - ist ausgezeichnet. Frau isst wirklich gut in Armenistis. Und preiswert: 35 Euro werden fällig.
Dennoch werde ich morgen in den Inselosten umziehen. Da habe ich noch ein paar Wanderungen im Programm.