Ai Stratis. Schwierige Geschichte

Von Montag bis Samstag pendelt die 20-Meter-Inselfähre "Aiolis" (transkribiert auch "Aeolis"), gerade mal ein Jahr jünger als ich, zwischen Agios Efstratios (kurz "Ai Stratis") und dem neuen Hafen in Myrina auf Limnos. Frühmorgens von der Miniinsel nach Limnos, mittags um halb drei zurück. Die Tickets bekommt man nur auf der Fähre, wo auch das Gesundheitsformular auszufüllen ist, das hier nur auf Griechisch vorliegt. Acht Euro kostet die Überfahrt pro Person, sie dauert zweieinhalb Stunden.

 

Ich hatte am Vormittag telefonisch ein Zimmer im Guesthouse von Julia Balaska reserviert, 30 Euro die Nacht. Und sah nun mit gemischten Gefühlen dem Inselzwerg entgegen: Was würde mich erwarten?
Aber jetzt oder nie, auch wenn es nur zwei Nächte dort sein sollten. Denn ich hatte Zweifel, dass ich dieser Ecke der Ägäis in der Zukunft wieder einen Besuch abstatten würde. Also auf nach Ai Stratis, angucken, und abhaken.

 

Die Fährbesatzung scheint mir aus echten Seebären zu bestehen, wettergegerbte Typen in karierten Hemden. Ich erklimme über steile Treppen das höchste Deck, werde dann sanft hinter das Steuerhäuschen zurückdirigiert, habe aber Platz genug, denn sonst strebt niemand zu solchen Höhen. Meine Mitpassagiere auf den unteren Decks sind einige Soldaten und männliche Zivilisten, eine ältere Frau und zwei Männer von der OTE. Keine Touristen. Keine Ausländer.

 

Pünktlich legt die "Aiolis" in einem faszinierenden Manöver ab: An einem Tau als Radius zieht sie sich vom Anleger weg, erst als die genug Sicherheitsabstand hat, wird das Tau vom Poller genommen. Der für die Leinen Zuständige hält respektvollen Sicherheitsabstand. Wenn das Seil reißt, fliegt es mit enorme Wucht und unberechbar durch die Gegend. Zwei Tage später werde ich sehen, dass die "Aqua Blue" es bei Starkwind genauso macht. Noch vor der "Blue Star Mykonos", die kurz nach uns gen Kavala aufbrechen wird, schlüpft die "Aiolis" aus dem Hafen. Kurz blicke ich dem modernen Schiff wehmütig nach.

 

Die "Aiolis" ist eine schmale, aber hohe Fähre. Entsprechend schaukelt sie, vor allem auf dem obersten Deck. Tapfer kämpft sie sich durch Wind und Wellen nach Ai Strati, wo sie nach zweieinhalb Stunden Fahrt ankommt. Ich bin trotz Anorak durchgefroren - die herbstliche Nordostägäis ist kein Sonnenparadies.

Die von der Spätnachmittagssonne angestrahlte Idylle, die mich am Hafen empfängt, vertreibt die trüben Gedanken: ein schnuckeliger Fischerhafen samt Enten, Kaikia und netzflickender Fischern, eingerahmt von  hübschen Nordägäis-Häusern mit den "türkischen Balkonen". Die stehen allerdings nur vorne am Hafen, an der Schokoladenseite, denn bei einem schweren Erdbeben am 20. Februar 1968 wurde der Ort zum größten Teil zerstört, zwanzig Menschen kamen ums Leben.
Die teilzerstörten Häuser wurden von den Obristen der Junta ohne Rücksicht auf Verluste abgerissen, der Ort wurde weiter hinten im Tal wieder aufgebaut, wo vorher die Exilante hausten oder die Gärten waren. Viele der ges(ch)ichtslosen, provisorisch wirkenden eingeschossigen Bauten haben bis heute überdauert. Manche von ihren Bewohner liebevoll mit Pflanzen und Farbe geschmückt oder aufgestockt, andere verlassen und ins Ruinöse übergehend.

 

Das sehe ich aber erst später. Ich folge der Beschreibung von Julia und einer hilfsbereiten Frau zum Democracy Museum am linken Talrand aufwärts, und rufe dort Julia Balaska an. Nun direkt links rein, wo der Jeep steht. Ein langes Haus in sehr gepflegter Optik, mehrgeschossig und am oberen Ortsrand. Die beiden OTE-Männer wohnen auch dort, der jüngere trägt hilfsbereit meinen Trolley hoch in den ersten Stock, wo sich mein Zimmer befindet. Julia, eine nicht mehr ganz junge Frau Typ Künstlerin, checkt mich mit dem Personalausweis ein, findet die Beschreibung meiner Augenfarbe dort mit "braungrün" nicht passend, und äußert Verlangen nach dem grünen Deutschland. Ähm ja, diesen Sommer mehr denn je nach Dauerregen und Sommerausfall.

Falls ich in das Museum wollte: dieses hätte morgen Vormittag geöffnet. Ja, sicher, gerne.

 

Mein Zimmer hat einen riesigen Gemeinschaftsbalkon mit Blick über den Ort und über das Tal, wunderbar. Interessant ist auch eine große Wandmalerei über dem Bett, die einen Petersfisch (zeus faber) zeigt. Die Ausstattung, obwohl hübsch, ist spartanisch und erinnert an vor zwanzig Jahren: weder gibt es WLAN noch einen Heißwasserkocher oder Geschirr, die Dusche wird sich nur mit Mühe ein Rinnsal heißen Wassers abringen lassen, das aber unvermeidbar das (kleine) Bad überschwemmen und auch ins Schlafzimmer rinnen wird, denn eine Abtrennung oder einen Duschvorhang gibt es nicht. Dass die Erfindung des Wandhaken sich an der Ostägäis noch nicht herumgesprochen hat, konnte ich schon auf Limnos feststellen. Mangels Platz stelle ich meinen Trolley auf eines der beiden Betten (mit unterlegten Plastiktüten), da bin ich inzwischen schmerzfrei.
Und breche zu einem Ortbummel auf, um einige Vorräte einzukaufen. Einen Bäcker gibt es auf Ai Strati - 270 Einwohner laut Census 2011 - nicht mehr, aber drei Minimärkte, die gerade die Frischwaren von der Fähre verstauen. Na, ich bin ja nur zwei Nächte hier, da lässt sich das alles improvisieren. Aber hätte ich das gewußt, hätte ich auf Limnos noch eingekauft.

Der Ortsbummel ergibt außerdem ein geöffnetes Restaurant namens "Veranda" mit einer großen, namensgebenden Terrasse mit Blick zum Hafen, eine einfache Pizzeria, und zwei unbesucht wirkenden Cafés. Außerdem eine große Kirche am Platz mit Gemeindezentrum, Krankenstation und Rathaus. Kurze Wege hier. Zentrum des Orts ist der kleine Fischerhafen, wo (ältere) Männer an der Arbeit sind: Netze flicken, Kaikia streichen, schwätzen. Gefällt mir.

 

Weniger schön ist die lange Hafenmauer, die die Sicht auf Meer völlig versperrt und deren betonstrotzende Brutalität man mit interessanter Graffiti versucht hat zu mildern, Stichwort urbanact. Auch das heftig betonierte Bachbett hat man verziert, hier aber mit weniger künstlerischem Anspruch.

 

Den Sonnenuntergang verbringe ich auf meiner Terrasse und entere dann früh die Taverne "Veranda". Auf dem Außenplatz werde ich übersehen, also gehe ich schließlich nach drinnen. Ob 2G oder nicht, das interessiert hier niemanden. Verschiedene Männerrunden verteilen sich im hallenartigen Gastraum mit offener Küche, nehmen mich mit mäßigem Interesse und distanziert zur Kenntnis. In meinem Rücken flimmert der Fernseher: Sport natürlich.

Der füllige junge Mann, der hier als Kellner fungiert, offeriert Fisch oder Fleisch, ich entscheide mich für Galeos, Hundshai. Skordalia hat er leider keine, zum Glück verzichte ich auf weitere Beilagen außer ein paar Tomaten, denn wenig später habe ich zwei große, frittierte Scheiben auf dem Teller, die meine Aufnahmekapazität fast übersteigen. Basic, aber essbar. Mit einem Viertel Weißwein und einer Flasche Wasser werden 13 Euro fällig.

Angesichts des nicht vorhandenen Nachtleben bin ich zeitig im Bett.

 

*

 

Ich hatte erhofft, am Morgen unten in der Küche, die zu Julias Wohnung gehört, jemanden anzutreffen, um mir heißes Wasser zu erbitten. Aber um neun Uhr ist niemand da, und so improvisiere ich mein Frühstück mit Nescafé aus mäßig heißem Wasser aus der Leitung. Geht auch.

Der Wind hat zugelegt und den zum Trockenen aufgehängten Badevorleger von Geländer geweht. Aber die Sonne scheint, und ich werde heute wandern gehen.

 

Zunächst werde ich aber dem Museio Demokratias, dem Demokratie-Museum, einen Besuch abstatten, das direkt nebenan liegt und das erste (und wohl auch einzige) Museum Griechenlands ist, das sich der neueren Geschichte in Verbindung mit Verbannungsinseln widmet. Gemäß Aushang täglich geöffnet von 9 bis 17 Uhr außer Dienstag und Sonntag. Es ist tatsächlich geöffnet, die freundliche Dame kontrolliert mein Impfzertifikat, ehe sie mir ein Faltblatt in die Hand drückt und mir die Reihenfolge durch die zweisprachigen Ausstellungstafeln - Griechisch und Englisch - erläutert.

 

Von den frühen 1930er Jahren bis 1943 und erneut von 1948 bis 1962 (!) war Agios Efstratios Verbannungsinsel für politische Andersdenkende. Es begann mit dem Metaxas-Regime und endete eben keineswegs mit dem Ende des Bürgerkrieges, sondern erst über ein Jahrzehnt später! Auch andere Verbannungsinseln - Anafi, Ikaria, Gavdos, Antikythira, Milos, Kimolos, Folegandros, Ios, Sikinos, Santorini, Amorgos, Naxos, Paros, Sifnos, Skyros und Alonnisos - werden erwähnt, Fotos gibt es einige von Anafi. Später konzentrierte sich die Verbannung auf wenige Inseln, Ai Stratis gehörte dazu. Es war aber wohl keine Gefängnisinsel wie Makronisos und Gyaros, wo systematisch gefoltert und getötet wurde.

 

Ein paar Zahlen: 1951 befanden sich über 3.000 Verbannte auf Ai Strati, 1952 waren es noch 2.000. 1953 wurde das Frauenlager auf der Insel Trikeri (beim Pilion) geschlossen und die Frauen (mit Kindern) wurden nach Ai Strati gebracht. 1955 sank die Zahl auf 950 und in den folgenden Jahren auf 470 (1959). Erst 1962 durften die letzten Verbannten die Insel verlassen. Diese Zahlen lassen sich heute aber kaum mehr überprüfen.

Die Verbannten lebten unter einfachsten Verhältnissen, oft nur in Zelten oder Bretterbuden, die gelegentlich von Regenfluten davon gespült wurden. Die Mangelversorgung, die schlechten hygienischen Verhältnisse und die widrigen Wetterbedingungen (etwas Blitzschläge) sorgten für etliche Todesfälle, aber die Verbannten organisierten sich, betrieben eine spärliche Landwirtschaft und Fischerei, sorgten auch für Kultur und führten etwa Theaterstücke auf. Unter den Internierten waren auch Giannis Ritsos, Tassos Livaditis, Kostas Varnalis und der jüngst verstorbene Mikis Theodorakis, wie mir die Dame von Museum auf meine Frage nochmal extra bestätigt, da der Name in den Ausstellungstexten nicht auftaucht.

 

Ich bin beeindruckt von der Ausstellung, die zwar nur wenige originale Exponate zeigt, aber die Geschichte und Lebensverhältnisse anhand von Zeugenaussagen, Fotos und vielen Dokumenten anschaulich und einfühlsam schildert. Viele der gezeigten Fotos hat Vassilis Manikakis gemacht, als Fotograf ein Autodidakt dokumentierte er das Insellleben 40 Jahre lang in 10.000 Negativen. Sein Sohn Vyronas hütet und ergänzt das Fotoarchiv bis heute. Ein paar Fotos kann man hier sehen.

 

Zwischen Gänsehaut und Tränen lese ich mich gebannt durch die Bildtafeln. Wie wenige Griechen, und erst recht Touristen wissen von diesen Verbannungsinseln? Und ist nicht der Lack der Demokratie und der Menschlichkeit nicht noch immer sehr dünn? Berührt trage ich mich noch ins Gästebuch ein und verlasse erst nach einer Stunde das Museum, in dem ich (natürlich) die einzige Besucherin war.

 

Das Faltblatt enthält übrigens einen Ortsplan mit Spaziergang zu verschiedenen Stätten der Verbannung. Was ich blöderweise erst zuhause sehe.

Um elf Uhr rüste ich mich dann für eine Wanderrunde. Es gibt nur eine Sehenswürdigkeit, die bezüglich Ai Strati erwähnt wird, und das ist der Walloneneichen-Wald, der sich im Nordosten bei Avlakia befinden soll. Von einigen ganz schönen Stränden abgesehen, aber Bademöglichkeiten waren für mich noch nie ein Grund zu langen Wanderungen. Da muss schon noch etwas dazukommen. Und der böige Wind, der über die Insel pfeift, fördert die Badelust auch nicht gerade. Aber zum Wandern sollte der kein Hindernis sein.

 

Ich verlasse den Ort bergwärts, wo gleich rechts das langgestreckte Gebäude der Marasleios-Schule liegt - hier soll (oder sollte?) gemäß Inselplänen eine "Energie-Akademie" entstehen.

Darüber steht ein Telekommunikationsmast, an dem mein Zimmernachbar, der OTE-Mitarbeiter, zugange ist. Ich bin inzwischen schon so verschüchtert, dass ich mich nicht traue, den Masten samt Arbeiter zu fotografieren - wer weiß, ob der nicht militärisch genutzt wird.

Den Friedhof samt Kapelle, der gegenüber in einem gemauerten Rund auf dem Hügel gegenüber liegt, sollte aber unverfänglich sein. Die Inselbewohner scheinen langlebig zu sein.

 

Eleonorenfalken umkreisen mich rufend. Diese häufigen Gäste an der Ägäis, die spät im Jahr brüten und die Jungtiere erst im Spätsommer großziehen, gut versorgt durch kleine Zugvögel, haben an der Steilküste nördlich des Hafens sehr gute Nistmöglichkeiten. Ich mag diese brillanten  Flugkünstler.

Vom Friedhof führt eine Schotterpiste ins Inselinnere, der ich folge. Goldbraune Phrygana, durchsetzt mit Flecken nackter, steiniger Erde voller Erosionsspuren, aber auch grünen, unten gerade abgefressene Bäumen - es ist eine harte Gegend, die ich hier oberhalb eines flachen Tales durchwandere.

Zu Beginn kommt mir ein Mann mit einem Pickup entgegen, aber das war es dann auch für lange Zeit mit menschlichen Begegnungen. Ich öffne ein überdimensioniertes Tor samt Besitzerschild - hat was von einer Ranch im Wilden Westen, aber die Rinder fehlen. Jenseits liegt ein Kapellchen, Agios Georgios. Sieht nicht so aus, als ob ich es besuchen müsste.

 

Die Bäume werden mehr, es sind auch hier schon Walloneneichen, wie ich anhand der stacheligen Früchte feststelle. An einer Wegkreuzung halte ich mich links und erreiche nach einer knappen Stunde Gehzeit seit dem Friedhof einen Sattel, von dem aus ich auf die Ostküste hinab gucken kann. Und dort, auf einem großen, schrägen Plateau unterhalb einer Steilabfalls, liegt doch tatsächlich ein Wald!

Gut, es ist nicht das, was man sich unter einem mitteleuropäischen Wald vorstellt, aber für ägäische Inselverhältnisse ist es ganz ordentlich. Eine Piste führt hinab bis zu einem leeren, öden Ziegenpferch samt Hütte, dann beginnt ein schmaler Fußweg, der durch den lichten Eichenhain über Steine, Wurzeln und trockenes Laub sanft bergab führt.
Die Eichen tragen weniger Früchte als letztes Jahr auf Kea, aber 2020 war auch ein Mastjahr. Der Wind raschelt nur leise in den Bäumen (dieser Inselteil scheint fast windgeschützt zu sein, obwohl gen Nordosten ausgerichtet), herumliegende Knochen (von Tieren, hoffe ich) machen die Gegend in ihrer Verlassenheit leicht gruselig. Ziegen huschen in der Ferne davon, manchmal glöckchenklingend. Nach einer Viertelstunde treffe ich auf eine stein- und knochenübersäte Lichtung, auf der ich kurz raste. Der Blick auf den Steilhang über mir und die aufgewühlte blaue Ägäis unterhalb wird frei. Limnos in der Ferne ist allenfalls zu ahnen.

Weiter möchte ich nicht, und ich steige auf dem gleichen Weg wieder aufwärts, und auch auf der Piste.

An der Kreuzung beschließe ich aber, eine Schleife weiter nach Süden zu machen.

So eine richtig gute Idee war das nicht, denn schon nach wenigen Metern liegt die Schotterpiste, die zunächst in weitem Bogen nach Osten führt, im vollen Wind. Der Wind würde Staub von der Straße blasen, wenn da denn noch welcher liegen würden: Längst ist alles blankpoliert.
Bäume sind hier Mangelware, und auch den Dreschplatz, den ich vorsichtig wegen der dahinterliegenden Hügelspitzen samt vermuteter militärischer Einrichtungen fotografiere, scheint vom Sturm zerblasen. Eine unwirtliche Gegend, und ich muss mich nun immer wieder richtig gegen den Wind stellen.

 

Eine natürliche, grabähnliche Öffnung im Boden, zum Schutz eingezäunt, eine erodierte Felsenwand links - Agios Efstratios ist vulkanischen Ursprungs, was aber selten so interessant aussieht wie etwa auf Milos oder Nisyros. Links kann ich nun nochmals auf das Waldplateau von Avlakia schauen: wirklich eine geschlossene, grüne Fläche.

 

Nach der nächsten Kehre liegt dann wieder das weite, flache Tal des einzigen und Inselhauptortes Agios Efstratios vor mir. Dornen und Stein, darüber der Wind. Ich kann mir vorstellen, wie lebensfeindlich das für die Exilierten war. Für Steinhühner ist es aber ein Paradies - Ai Stratis ist Vogelschutzgebiet, gehört zu Natura 2000. Immer wieder flattern die Tiere einzeln oder in ganzen Schwärmen vor mir auf. Auch die zu den Kormoranen zählende Krähenscharben brüten an den hiesigen Küsten, und die Mittelmeer-Mönchsrobbe findet in den Meereshöhlen Rückzugsorte.

 

Links ein auch in meiner Terrain-Karte namenloser Hügel mit Gebäuden, eine befestigte Straße führt hinauf. Vor mir weitere Gipfel, darunter der Profitis Ilias mit Masten und Gebäuden. Nein, kein Ziel für mich auf dieser Insel.

Inzwischen macht mir das Wandern auf der holprigen Piste nicht mehr so viel Spaß. Es zieht sich, der Wind nervt, und ich fühle mich beobachtet. Vermutlich bin ich seit Stunden in den Fernrohren gelangweilter Soldaten, die sich über die Abwechslung freuen. Hier Wochen oder Monate verbringen zu müssen - auch eine Art Verbannung. Aber was tut Mann nicht alles für die Verteidigung des Vaterlandes gegen den Feind im Osten ....

 

Die Piste führt nun über den Rücken des Megali Petra wieder zum Ort hinab. Es wird baumreicher und belebter, Ziegen betrachten mich skeptisch und fluchtbereit. Ich werde Zeuge, wie erst eine, dann eine zweite in eleganten Springpferdmanier berührungslos über einen meterhohen Drahtzaun setzte, der vermutlich genau aufgestellt wurde, um diese Geländeübertritte des Viehzeuges zu verhindern.

Gegen halb drei bin ich wieder zurück im Ort, streife die Gärten, die die beiden betonierten Bachbetten säumen. Aus den Dimensionen und den Berichten aus dem Museum kann ich mir vorstellen, dass sie im Winter von reißenden Fluten gefüllt werden.

 

Nach knapp vier Stunden schließt sich meine Wanderrunde wieder. Meine Tracking-App hat eine Gesamtdistanz von 12,6 Kilometern aufgezeichnet, bei drei Stunden in Bewegung und einem Höhenunterschied von 200 Metern. Das war weiter als gedacht. Und gut, dass ich die Runde nicht noch weiter nach Süden ausgedehnt habe - die Füße tun mir weh.

 

Nach einer Mittagspause bummele ich dann durch das vom Erdbeben zerstörte Viertel oberhalb des Hafens. Eine Kirche soll das Beben überstanden haben, ob es das kleine, schiefergedeckte Kapellchen mit der niedrigen Kreuzkuppel und dem witzigen Extratürmchen ist, das versperrt und zugewachsen im Gelände steht? Es ist Agios Vassilios geweiht, und soll demnächst restauriert werden. Hoffentlich fällt sie nicht vorhe rnoch ein.

Da das Wetter morgen schlechter werden soll - sogar von Regen ist die Rede - werde ich heute die Badesaison beenden, und steuere dazu den Ortsstrand an. Er liegt westlich des Hafen, hat feinen grauen Sand und präsentiert sich sehr gepflegt, mit Umkleidehäuschen, Dusche, Toilette. Liegen und Schirme sind aber längst abgeräumt.
Leider hat sich just die Sonne verzogen, aber nun gibt es kein Zurück mehr. Ich muss mich etwas überwinden, denn auch das Meer ist kalt geworden: nach den 22 Grad Wassertemperatur zu Urlaubsbeginn auf Samothraki sind es nun nur noch 19 Grad. Das wird ein kurzes Bad, und schnell ziehe ich mich wieder um. Denn jetzt müsste ja gleich die "Aiolis" von Limnos kommen, und das möchte ich natürlich nicht verpassen.

Das Schiffchen legt an und bietet mir genau das Lokalkolorit, das ich an solchen kleinen Häfen so mag:
eine Frau wird von ihrem Mann empfangen (der hat ein große Spiegelreflexkamera dabei und fotografiert auch), eine ältere Frau an Krücken wird vorsichtig von Bord geleitet. Ein kleiner Tankwagen fährt rückwärts von, die Autos der Minimärkte fahren an Bord, um die frische Ware direkt dort einzuladen.
Und dann wird ein Militäranhänger von Bord geschoben und an einen LKW angekoppelt, von einem halben Dutzend Soldaten, die teilweise auch an Bord waren. Nachschub für die hiesigen Militärposten? Oder eine streng geheime Waffe? Das Fotografieren dieses Vorganges wird mir am Abend den Ärger mit der Polizei samt Verlust der Fotos einbringen, den ich hier schildere, und der mir die Insel nachhaltig vergällen wird. Aber davon ahne ich jetzt noch nichts. Noch ist meine Welt in Ordnung.

Ich gucke mich - erfolglos - nach Alternativen zur Taverne "Veranda" um, kaufe dann im Minimarkt unten am Dorfplatz noch etwas fürs Frühstück morgen ein. Also Abendessen wieder im Stammlokal, mit der appetitverderbenden Unterbrechung, die mich die Hälfte des georderten Kebabs samt Krautsalat übriglassen lässt. Weil das Procedere den anderen Gästen - ob sie solche Erfahrungen auch schon gemacht haben? - nicht verborgen bleibt, fühle ich mich auch noch bloßgestellt. "Kleine Verbrechen" - irgendwie war das im Film lustiger.

Dabei könnten die Spione doch einfach in die Hafenwebcam gucken. Aber nein, da sieht man nur den Fischerhafen (und da bewegt sich kaum etwas).

 

Früh bin ich im Bett, grollend.

Gegen halb zwölf legt die "Aqua Blue" auf dem Weg nach Lavrio an. Die frühere "Ierapetra L" hat etwas Verspätung, aber sie fährt. Sonst hätte ich morgen ein echtes Problem, denn übermorgen Abend geht mein Flugzeug ab Kavala in die Heimat.

 

*

 

Der Wind hat zugelegt in der Nacht. Lärm und Telefonate in den Nachbarzimmern in den frühen Morgenstunden: die OTE-Männer wollen mit der "Aiolis" nach Limnos zurück, aber diese wird nicht fahren. Zumindest nicht um 6.30 Uhr.

Ich liege wach im Bett bis halb neun. Dann kann ich bei marinetraffic sehen, dass die "Aqua Blue" sich in Lavrio pünktlich auf ihren langen Weg zur nördlichen Ägäis gemacht hat. Ohne Halt bis Ai Strati, siebeneinhalb Stunden soll sie gemäß Fahrplan bis hierher brauchen. Und jetzt wird der Wind auch wieder weniger.

Die gute Nachricht löst die Schockstarre, die mich gestern Abend befallen hatte. Ich frühstücke lauwarmen Kaffee, Croissant aus der Tüte, und Kekse, packe dann gemächlich meine Sachen zusammen.

 

Dann drehe ich eine kleine Runde zur hüttenähnlichen Kapelle des Agios Minas östlich des Ortes auf einem Hügel. Hier steht auch eine Gedenktafel für die 55 Menschen, die während ihrer Verbannung auf der Insel starben. Im nördlichen Tal war ihre Siedlung. Ich hab keine Lust, mir die Übrigbleibsel anzusehen.

Es ist zwar erst Mittag, aber dennoch habe ich Lust auf einen Tsipouro mit Meze. Den bekomme ich im "Veranda". Ansehnlich die Mezedes mit Gurken, zwei sehr salzigen Fischen, zwei Chicken Nuggets, Oliven und Käse, alles gerade mal für drei Euro . Solche Beiträge sind nicht geeignet, den 50-Euro-Schein klein zu machen, damit ich mein Zimmer bezahlen kann. Julia hatte abgewunken, als ich mit dem großen Schein gekommen war. Mein Fährticket habe ich schon auf Limnos gekauft (und auch hier kein Ticketbüro gesehen). Zum Glück ist das Postbüro im Universalgebäude an der Platia geöffnet, und dort kann man wechseln und ich Julia bezahlen. Kommt es mir nur so vor, oder ist sie auch reservierter geworden, gegenüber der vermeintlichen Spionin?

 

Die "Aiolis" hat am Mittag doch noch ihre Route nach Limnos aufgenommen, militärisch beladen, wie ich aus der sicheren Ferne feststelle.

 

Es hat tatsächlich angefangen zu regnen, gießt bald in Strömen. Den Nachmittag verbringe ich auf dem Zimmer, starre auf die nasse Terrasse. Irgendwo auf ihrem Weg zwischen Euböa und Ai Strati ist das Signal der "Aqua Blue" bei marinetraffic eingefroren. Sie wird doch nicht gesunken sein? Nein, natürlich nicht, aber so kann ich ihr Näherkommen leider nicht verfolgen.

Um Viertel vor drei ziehe ich trotz Regen ungeduldig zum Hafen hinunter.
Im Wartehäuschen sitzen bereits einige Leute und drei weitere gesellen sich dazu. Und auch der Mann, der für das Anlegen der Leinen zuständig ist. Er telefoniert mit dem Schiff: es hätte eine halbe Stunde Verspätung. Daraus wird wenig später eine Stunde. Das Schiffsignal bei marinetraffic ist immer noch eingefroren. Ich bald auch, es ist kühl geworden, so ohne Sonne. Immerhin der Regen hat aufgehört.

 

Die drei junge Leute, zwei Frauen und ein Mann, die warten, sind offenbar Lehrer hier auf der Schule. Pflichtjahr/Agrotiko in der Verbannung? Es gibt hier mehr Schüler als man vermuten könnte. Die Grundschule liegt am Ortsende, unterhalb des Museums.

 

Es ist gerade 17 Uhr vorbei, als die "Aqua Blue" im schmalen Ausschnitt zwischen Felsen und Hafenmauer sichtbar wird. Und gleich wieder verschwindet, als würde sie vorbeifahren. Über zehn Minuten später hat sie gedreht und überragt nun plötzlich ganz nahe die graffitiverzierte Mauer. Aber bis sie sich in die weite Hafenbucht eingefädelt, gedreht und angelegt hat, vergehen weitere zehn Minuten. Abe nur fünf vom Öffnen der Klappe bis zum Ablegen. Mit nun eineinhalb Stunden Verspätung legt die "Aqua Blue" wieder ab.

Bis Kavala werden es drei werden.

Ich kann nicht sagen, dass ich mit Wehmut nach Ai Strati zurückblicke. Es überwiegt die Erleichterung, weg zu sein.

Man muss nicht alle Inseln mögen. Manche Inseln mögen einen auch nicht.

Ai Stratis scheint dazuzugehören.