Über die nassgrüne Oberstadt

Es regnet als ich am Sonntagfrüh aufwache. Schade, gestern war das Wetter noch so schön.

Die Gruppe Männer, die in einem der anderen Ferienapartments wohnt, reist ab. Sie kommen vom Schwarzen Meer (offenbar sehr fischarm) und besuchen Thassos fast jeden Winter für ein paar Tage um zu fischen. Die letzten Vollmondnächte waren ergiebig. Ihre Beute können sie in Ilkas großer Gefriertruhe einfrieren (extra dafür angeschafft) und dann in Kühlboxen mit nach Hause nehmen. Zumindest die großen Fische, mit denen man renommieren kann. Die winterliche Ägäis als Urlaubsziel für Freizeit-Fischer - das war mir auch neu.

 

Ilka hat heute keine Zeit. Sie zeichnet mir aber den Weg auf, wie ich auf die Akropolis von Limenas komme. Denn bei dem Pisswetter werde ich mir mal die reichlichen antiken Überbleibsel in der Stadt und im nahen Umkreis angucken. Und melde für morgen Interesse an einem Mietwagen an. Mit dem Bus wird das nämlich schwierig, der fährt gerade nur frühmorgens in die Dörfer und mittags zurück. Ilka hat Kontakte und wird sich um ein Leihauto kümmern. Das Problem: die meisten sind über den Winter abgemeldet.

 

Ausgerüstet mit Wanderstiefeln, Schirm und Anorak ziehe ich kurz vor elf Uhr los, als der Regen schwächer zu werden scheint. Und kehre gleich wieder um meine warme Winterjacke anzuziehen: es ist kälter als gedacht. Widerliches Wetter. Soll ich meinen Wanderstock mitnehmen? Aber mit Schirm und Stock und Foto? Da bräuchte ich drei Hände. Ich hoffe, der Regen lässt nach.

 

Vorbei am düstereren antiken Sarkophag und dem kleinen Ausgrabungsgelände des Zeus-Hera-Tores - verwitterte Marmorstelen mit Reliefs in sumpfig-grüner Wiese - wandere ich entlang der alten Stadtmauer. Nächste Ausgrabung Silenen-Tor. Kaum erkennbar das verwitterte Relief der lüsternen Gestalt mit erigiertem und daher später abgeschlagenem Penis. Im tiefergelegenen Ausgrabungsfeld steht das Wasser. Jetzt weiß ich, warum Thassos so grün ist.

Ein rotes Backsteinhäuschen an der Straßenkreuzung - ein Ikonostase für den heiligen Dimitrios. Oder ist das schon eine Kapelle? Sieht aus wie ein Buswartehäuschen. Ich sinne über die sinnvolle Kombination von beidem nach ....

Wieder ein paar Meter zurück und dann die Betontreppe durch den höher gelegenen Ortsteil Richtung Burgberg. Die Einwohner haben sich vor dem Regen hinter ihre Mauern geflüchtet, es ist niemand zu sehen.

Ein grasiger Weg weiter aufwärts dann hinter einer Häuserreihe vorbei. Ein Stilleben aus ausrangiertem Gerümpel ziert einen Garten.

Der Blick zum Fußballplatz wird frei, dort spielen tatsächlich zwei Mannschaften auf einem brauen Untergrund, der einem Acker ähnelt. Die Rufe der Spieler dringen bis zu mir hinauf. Hinter dem Platz parken ein paar Dutzend Leihwagen, abgestellt während des Winters.

 

Oberhalb des Ortes quert der Weg nun nach rechts bis zum Parmenonas-Tor. Das sieht aus wie ein kleines Hünengrab: zwei große Steine als Pfeiler, ein mächtiger Klotz obendrauf. Das Tor steht in der antiken Stadtmauer, und auf deren äußerer Seite führt der Weg nun über grobe Stufen und nasses Gras steil aufwärts. Olivenbäume werfen ihr Frucht auf den Boden - die kleine schwarze Thrumba-Olive, die typisch ist für Thassos und auf keinem lokalen Salat fehlen darf. Sie wird erst spät und überreif geerntet und dann eingesalzen.

Der Regen hat nachgelassen, aber der Boden ist nass und stellenweise rutschig. Ich gehe vorsichtig, hätte meinen Wanderstock brauchen können. Auch warm ist es mir inzwischen. Hier geht man besser rauf wie runter. Eine Ritzung einer geflügelten Figur in einem Felsen - neu oder alt?

 

Eine griechische Flagge weht an einem dünnen Mast auf einem Felsen über mir. Das letzte Stück ist ziemlich ausgesetzt und zum Glück mit einem Gelände gesichert. Die Oberstadt ist erreicht. Wobei: die erstreckt sich über mehrere Kuppen, und das grüne Gras bedeckt, was man hier vielleicht sehen könnte. Außer der Aussicht hinab nach Limenas, die ist von hier aus toll. Der Fährhafen, der alte Hafen (leer) und der Fischerhafen (der antike Kriegshafen) reihen sich aneinander. Gut, der Ort heißt ja auch eigentlich Limenas Thassou, was man mit "Hafen von Thassos " übersetzen könnte. Welcher auch immer da gemeint ist.

Vielleicht könnte der Verschönungsverein von Limenas hier mal eine Bank aufstellen? Oder sonst ein edler Spender?

Ich klettere über den Hügel auf der Suche nach dem Pan-Heiligtum. Es ist zu nass um den Reiseführer herauszuholen, der Regen hat wieder eingesetzt. Schließlich finde ich es direkt am Weg, der Richtung nächster Hügelkuppe nach Norden führt. Eine halbkreisförmige Nische, in einen Felsen des Hügels gehauen (oder Natur etwas ausgebaut) und mit einem verwitterten Relief versehen. Rechts kann man darauf mit etwas Mühe eine sitzende flötenspielende Figur mit Hörnern erkennen: Pan. Davor etwas vierbeiniges, eine Ziege vermutlich. Alles andere kann man noch nicht mal erahnen. Trotzdem hübsch.

 

Auf den nächsten Hügel liegen die Fundament des Athene-Tempels. Großflächig und mit dicken Steinklötzen. Pfützen dazwischen, aber der Regen hat tatsächlich ganz aufgehört. Hat bestimmt imposant ausgesehen, so über der Stadt. Thassos war eine reiche und mächtige Insel. Lang ist es her.

Jetzt ist auch der Blick auf den östlichen Stadtteil von Limenas frei.

Ich esse im Stehen mein belegtes Brot. Schon ungemütlich heute.

 

Der Weg führt über den nächsten Hügel, wo Mauerreste der byzantinischen Burg stehen. An der mächtigen Außenmauer eines Tores wurden antike Überbleibsel verbaut, darunter ein antikes Grabrelief. Der Zahn der Zeit hat daran genagt, aber ein Paar, ein Kind und ein Pferd sind noch gut zu erkennen.

 

Die Festung wurde über der antiken Akropolis samt Apollontempel errichtet. Alles ist jetzt mit Kiefern bewachsen, so dass ich von antiken Resten nichts mehr erkennen kann. Auch von der Burg stehen nur noch Fragmente: Türme, Mauern, Gewölbe. Grün in schwarz heute, statt grün in Weiß. Sieh aus wie Schwarzwald, nicht wie Griechenland.

Nun geht es abwärts. Der Weg ist rutschig, und ich setze mich zum ersten Mal unfreiwillig auf den Hintern. Nix passiert.

Rechts am Wegrand steht eine kleine Kapelle, dem Propheten Ilias geweiht. Eigentlich wäre jetzt eine SMS nach Köln fällig, aber der traurige Zustand und die mangelnde Höhe des Gotteshauses verbieten das. Die Türe ist offen, das Mobiliar nach außen geräumt. In Kerzenhalter sprießen die Spitzen frischen Grases. Gras statt Kerzen - Thassos ist die grüne Insel. Das Interieur ist aber doch gepflegt, wenn auch die Ikonostase nicht alt ist. Wieso hat der Prophet diese Kapelle hier fernab jedes Gipfels bekommen?

 

Danach versperrt ein umgestürzter Baum den Weg. Folge der Unwetter im Herbst? Man kann ihn leicht überklettern, und dann liegt das antike Theater vor mir. Nein, es ist kein Amphitheater, dieser Ausdruck wird zwar fälschlich gerne für Freilufttheater oder ähnliches verwendet, gilt aber eigentlich nur für runde oder ovale Spielstätten: άμφι/amphi bedeutet beide oder doppel. Also ein doppelseitig-rundes Theater.

Das Theater ist seit Jahren wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Am Fischerhafen werde ich ein Schild sehen, dass die Schließung bis 31.12.2015 vermeldet. Aus dem 5er hat schon jemand einen 6er gemacht, und jetzt ist 2020 und man ist immer noch am Renovieren. Heute aber nicht und so klettre ich über den Zaun und schlendere über das Gelände. Um im Sommer hier Ausführungen zu veranstalten, waren Sitze aus Holz eingebaut worden. Die sind inzwischen morsch (Ilka hatte mich vor dem Betreten gewarnt) und weitgehend entfernt, nur noch die nackten Gestänge stehen da. Ein Kran überragt das Ganze, im Bühnenraum liegen große Steine unsortiert wirkend herum. Das wird noch eine Weile dauern, bis hier wieder Theater gespielt werden kann. Schade, denn die Kulisse - Limenas mit dem Fischerhafen - ist toll.

 

Neben dem Eingang klettere ich wieder über den Zaun und wandere entlang der hier gut erhaltenen Stadtmauer abwärts. Ich bin noch niemandem begegnet, und so flüchten ein paar weiße Ziegen als sie plötzlich aus ihrer Einsamkeit gerissen werden.

Es ist halb zwei vorbei, als ich bei der Agii-Apostoli-Kapelle die Küste erreiche. Das Meer ist eisgrau und gischtete weiß an die Felsen am Fuße der kleinen Kapelle. Evraiokastro = Judenburg heißt das niedrige Felsenkap, warum auch immer.

Auf der leicht schrägen Fläche oberhalb der Kapelle mischen sich Gras, Moos und Steinplatten, und bei dem Versuch, den Weg zur Kirchentüre abzukürzen, rutsche ich zum zweiten Mal aus und setze mich auf den Hintern. Nix passiert, schnell hochrappeln. Und flutsch - zwei Schritte später hebt es mich wieder aus. Dieses Mal falle ich auf die Hände, reiße mir ein Loch in den linken Handschuh und in die rechte Hand. Aua! Die Hose ist nass, die Hand blutet. Ich flüchte mich - vorsichtig - vor die Kapelle, aber die ist verschlossen. Gut, immerhin kann ich meinen Rucksack hier im Trockenen abstellen und ein Pflaster heraussuchen. Danach umkreise ich vorsichtig die hübsche Kapelle, die mir so feindlich gesinnt scheint. Auch sie wurde auf antiken Fundamenten gebaut und neben zwei senkrechten Säulen liegen hier viel reichlich alte Teile herum. So eine reiche antike Geschichte - reich im doppelten Wortsinn - aber heute hat man auf der Insel wohl kein Geld mehr.

Draußen tuckert eine rote Fähre hinüber nach Keramoti.

 

Über eine Felsentreppe erreiche ich den Strand östlich des Fischerhafens. Der Boden ist mit Brocken und Kies aus Marmor bedeckt, eine Strandbar gibt es auch. Sieht aber jetzt alles überhaupt nicht einladend aus. Ein paar Kaikia liegen unter den Bäumen am Ufer, und drei Männer hantieren mit etwas. Die Mülltonnen sind gesäumt von Katzen. Das Ganze deprimiert mich jetzt. Winterseiten einer Insel. Zumindest wenn die Sonne nicht scheint.

Weiter vorbei an dem Metochi vor zum Fischerhafen, wo ein paar Bötchen dümpeln. Die große grasgrün-nasse Agora lasse ich links liegen und strebe dem archäologischen Museum zu. Das soll laut Aushang heute bis 15.30 Uhr geöffnet sein, und es ist kurz vor halb drei. Eine Stunde sollte reichen.

 

Das Museum hat tatsächlich geöffnet. Eine in eine dicke Strickjacke gemummte Frau verkauft mir das Ticket für zwei Euro und zeigt mir, wo der Museumsrundgang beginnt. Eine zweite Frau, nicht weniger warm gekleidet, ist für die Aufsicht zuständig und wird ab und zu gucken, ob ich noch da bin. Ich bin - wenig erstaunlich - die einzige Besucherin. Ob heute überhaupt schon jemand da war?

Gleich im Eingangsbereich steht ein riesige Kouros-Statue. Die aus Alyki? Der Jüngling mit langer Lockenpracht und ohne  Gesicht - vermutlich bei der Bildhauerarbeit abgebrochen - trägt einen kleinen Widder auf dem Arm, was ihm etwas biblisches verleiht. Der gute Hirte - ein Plagiat?

 

Dahinter beginnt dann der Rundgang, der sich spiralförmig nach oben durch das Gebäude schraubt.

Es sind sehr schöne und interessante Exponate, die Beschriftung ist gut und ausführlich und meist dreisprachig: Griechisch, Englisch und Französisch. Die Ausstellungsführung ist nicht chronologisch und ich empfinde sie nicht immer als schlüssig. Manche Nischen sind nicht gut ausgeleuchtet, die Exponate schlecht zu erkennen. Und es ist kalt im Museum. Saukalt. Offenbar gibt es keine Heizung.

Das Museum wurde in seiner jetzigen Form 2010 eröffnet und man hat sich da wirklich sehr viel Mühe gegeben, die herausragende Stellung der Insel Thassos in der Antike zu dokumentieren. Deshalb ist das Museum ja auch im Winter geöffnet. Kein Selbstverständlichkeit angesichts der bescheidenen Besucherzahl, da kann man das Haus nicht auch noch beheizen. Die Kälte kriecht mir zunehmend in die Knochen und ich hab Verständnis, dass die Aufseherin irgendwo unten an einem Ofen sitzt und nur jede Viertelstunde mal guckt ob ich schon irgendwo festgefroren bin.

Noch lese ich mich durch hellenistische und römische Exponate, lande bei frühbyzantinischen Stücken, um dann plötzlich wieder in die Antike zurückgeworfen zu werden.

Wirklich ein sehenswertes Museum mit wunderbaren Stücken!

 

Um Viertel nach drei bin ich aber doch zum Eiszapfen mutiert, und die Aufseherin weist mich darauf hin, dass das Museum demnächst schließt. Die Ärmste friert sich hier schon den ganzen Tag den Hintern ab und kann es sicher kaum erwarten, endlich ins warme Heim zu kommen. Ich lasse sie nicht länger frieren, werfe nur einen schnellen Blick auf den überschaubaren Museumsshop. Nichts was ich unbedingt haben müsste. Da ist die Ticketverkäuferin schon gegangen, die Aufseherin schließt die Türe hinter mir.

Ich brauche jetzt auch etwas Warmes, werfe aber noch einen Blick auf die benachbarte Hauptkirche Agios Nikolaos, wo aber gerade ein Beerdigungsgottesdienst stattfindet. Im Januar wird gestorben - den Eindruck hatten wir schon vor zwei Jahren auf Kreta. Ich werde mir die niedrige, schiefergedeckte Kirche ein anderes Mal ansehen und suche zwecks Erwärmung lieber das Café Angelica auf, wo ein heißer Bergtee meine Betriebstemperatur wieder ansteigen lässt. Ein edel-chices Café mit gehobenen Preisen und freundlichem Personal, am Sonntagnachmittag gut besucht.

Danach fühle ich mich gerüstet, entlang der betonnüchternen Uferpromenade nach Westen bis zum Fährhafen zu gehen. Die rotgestrichene Fähre "Agios Rafail" kommt gerade an, eine Handvoll Autos und ein Dutzend Menschen gehen von Bord. Nicht viel los hier.

 

Gegenüber vom Fährhafen ist die Busstation. Einen gedruckten Fahrplan suche ich vergeblich, aber es gibt ein handschriftliches Blatt, das schwer zu entziffern und mit seinen Abkürzungen ziemlich kryptisch ist. Dazu noch frühmorgendliche Abfahrtszeiten, wo auch immer. Vielleicht sollte ich das Mietauto gleich für zwei Tage nehmen wenn ich noch was von Thassos sehen will.

Durch das Hinterland - weitläufige Straßen mit zahlreichen Abzweigungen - kehre ich in mein Quartier zurück, kaufe in einem geöffneten Mini-Markt noch ein paar Kekse und mache es mir gemütlich.

 

Zum Abendessen bin ich wieder im "Tavernaki", wo ich heute die Soutzoukakia Smyrneika ausprobiere. Auch mit Reis statt Kartoffeln ist die Portion so üppig, dass ich danach übervoll heimwanke und nie wieder etwas essen mag. Bis zum Frühstück morgen.

Die Wetterprognosen sind gut.