Der Weg nach Kavala ist ganz schön lang, und es ist kurz vor neun Uhr abends, als ich dort aus dem Bus steigen kann. Den ganzen Tag war ich unterwegs: zuerst mit dem Flugzeug von Stuttgart nach Thessaloniki. Ausnahmsweise mal nicht mit den geliebten Aegean Airlines, sondern mit Eurowings, operated by Czech Airlines. Preiswert, eng, extrem trockene Luft und natürlich ohne Gratis-Mahlzeit. Na, zwei Stunden ist das schon zu verkraften, der Rest war in Ordnung.
Das Gepäck war schnell da, aber der Bus vom Flughafen zum KTEL Makedonia, dem großen überdachten Busbahnhof von Thessaloniki, hält sich nicht an den ausgeschilderten Fahrplan: der eine Bus (verspätet) fährt mir vor der Nase weg, der nächste fährt auch deutlich später als im Fahrplan ausgewiesen. Zwei Euro kostet die einstündige Rüttelfahrt im vollen Bus quer durch die Stadt, dann habe ich noch eine Stunde Zeit zum Ticketkauf und zur Ver- und Entsorgung bis um 18.30 Uhr der nächste Bus nach Kavala fährt. Es ist kein Expressbus, sondern er fährt über die Küste und braucht entsprechend eine halbe Stunde länger. Der Überlandbus ist gerade mal zu einem Drittel belegt, mein Sitzplatz ist am Fenster und der Nebenplatz leer. Eine bequeme Art zu reisen und so verschlafe ich prompt die Strecke bis hinter Asprovalta. Draußen ist es längst dunkel, es ist der 9. Januar 2020 und ich hoffe mal wieder auf Eisvogeltage.
Weil die Cousine dieses Jahr keine Zeit und Theo Angst vor der nordgriechischen Kälte hatte, bin ich solo unterwegs. Zum ersten Mal im Winter. Ein bißchen mulmig ist mir da schon, aber das Solo hatte auch Auswirkungen auf meine Reiseplanung: nur knapp zehn Tage bin ich unterwegs, und gut drei davon in Thessaloniki. Viereinhalb Tage möchte ich auf Thassos verbringen und jetzt bin ich auf dem Weg dorthin.
Thassos, wird sich jetzt fragen wer meine Website regelmäßig liest, Thassos? Was will Katharina denn dort? Sie mag doch keine grünen (im Sinne von waldreichen) Inseln und Thassos soll ja sehr grün sein. Richtig. Aber im Winter sind die Inseln ja alle irgendwo ein bißchen grün. Und da tut das ja auch gut. Sogar mir. Außerdem wollte ich nicht neun Tage in Thessaloniki verbringen. Also gucke ich mir das Eiland mal ganz unverbindlich an. Und jetzt bin ich auf dem Weg dorthin, mit Zwischenstation in Kavala.
Das preiswerte Hotel "Oceanis" liegt nur ein paar Minuten von der Busstation in Kavala entfernt, ein großer Kasten direkt an einer stark befahrenen Straßein zweiter Reihe an der Paralia. Ich bekomme als kostenloses Upgrade ein Zimmer zum Meer hin und muss erst mal die Heizung ausschalten, sonst schwitze ich mich in der Nacht zu Tode. Die Balkontüre muss ich am Morgen schließen - zu laut.
Hungrig mache ich mich nach der Ankunft erst mal auf die Suche nach einem Restaurant. Die Nacht ist kalt, nur wenig über null Grad. An der Paralia ist nichts los, das angestrahlte Kastro leuchtet kühl über der Altstadt. Von der Nikoloas-Kirche links rein, da ist in einem Durchgang ein Tsipouradiko mit dem schönen Namen "Gorgones kai Mangkes", und da kann ich natürlich nicht widerstehen und gehe rein.
Es ist gut belegt mit jungen Leuten, Studenten wohl, und ich muss man Sevi denken, meine derzeitige Griechischlehrerin, die aus Kavala ist und hier gut dazu passen würde. Wenn sie nicht in der Fremde ihr Brot verdienen müsste. Sevi hat mich mit Informationen über Kavala geradezu überschüttet, und ich hab mich dann gar nicht mehr getraut zu sagen, dass ich hier bestenfalls einen halbe Tag Zeit haben werde.
Ich bestelle einen Tsipouro (choris glykániso - ohne Anis) mit Mezé und bekomme ein Karäffchen Tsip, Wasser, Eis, Brot und einen Teller mit einer geräucherten Makrele und Zwiebeln. Schmeckt ausgezeichnet. Wenn nur nicht ständig die Türe auf- und zuginge - ich sitze am Eingang. Was ist das überhaupt für ein Geläuf? In der Passage vor dem Lokal sind auch Tische und Stühle, beschirmt von Heizstrahlern. Aber nur Hartgesottenen sitzen draußen. Hartgesottene Raucher. Ah, das ist neu: tatsächlich werde ich in diesem Januar kein Lokal erleben, in dem noch geraucht wird. Die Strafen für die Wirte wurden drastisch erhöht, und das mag keiner riskieren. Vielleicht noch in den abgelegenen Ecke Südwestkretas, aber hier nicht mehr. Finde ich gut! Also nicht die Strafen, aber die rauchfreien Tavernen.
Die Makrele schmeckt nach mehr und ich ordere noch eine Runde. Dieses Mal begleiten Gavros, gebratene Fischchen, den Tsip. Auch gut. Acht Euro 80 werden als Zeche fällig, und müde sinke ich kurz vor Mitternacht ins Bett. Um wenig später von lautstarken Geräuschen aus dem Nebenzimmer geweckt zu werden, die auf heftige sexuelle Aktivität schließen lassen. Puh, muss das sein?
Zum Glück ist dann irgendwann doch Ruhe und ich muss nicht noch meine Ohrstöpsel suchen, Souvenir an die letzte Übernachtung in Rafina.
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Der riesige Frühstückssaal im Hotel ist leer, ich bin zunächst der einzige Gast am umfangreichen Buffet. Keine Saison in Kavala. Meine Fähre nach Thassos fährt erst um 14 Uhr ab, so habe ich den Vormittag Zeit, mir Kavala anzusehen. Mein Gepäck kann ich solange an der Hotelrezeption deponieren.
Die Sonne verwöhnt mich, aber im Schatten ist es kalt. Es hatte um null Grad in der Nacht.
Zuerst gehe ich entlang der Paralia Richtung Altstadt. Hier hantieren zahlreiche Fischer an ihren Netzen, vertäut liegen einige große Boote der Schleppnetzfischer (Trata). Wenig später tuckern sie peu à peu hinaus, immer ein kleines Boot im Schlepptau.
Am Hafen möchte ich zuerst mein Fährticket kaufen, aber ich werde auf später vertröstet: Für die Mittagsfähre gibt es Fahrkarten erst ab zwölf, halb ein Uhr. Huch, muss ich mir Sorgen machen?
Über mir ragt nun der Burgberg von Kavala empor. Er liegt auf einer Halbinsel, Panagia genannt.
Das große neoklassizistische Gebäude links ist nur eine Schule, weiter rechts erstreckt sich die beigefarbene Mauer des Imaret, eine Art Multigebäude aus Moschee, Koranschule, Bad und Saal zur Armenspeisung. Es wurde 1817 von Muhammad Ali Pascha erbaut, der 1770 in Kavala geboren wurde und ein Dynastie begründete, die bis 1953 Ägypten regierte. Heute beherbergt es ein Luxushotel. Sieht wirklich hübsch aus mit den niedrigen Kuppeln und den zahlreichen kleinen Schornsteinen. Ich passiere es, als ich mich auf den Weg zum Kastro mache. Gegenüber ist ein Laden mit originellen Souvenirs geöffnet. Wer schon immer mal einen Fisch oder einen Seeigel aus Stoff haben wollte, wird hier fündig. Sonst ist die Altstadt verwaist. Ich kann in aller Ruhe die schönen Häuser mit ihren hölzernen Balkonen bewundern und muss nur ab und zu aufpassen, dass ich nicht in die Hinterlassenschaften von Hunden trete.
Der Weg zur Burg ist ausgeschildert. Vom Imaret aus wähle ich einen steilen Treppenweg und erreiche die ochsenblutrote Halil-Bey-Moschee mit einem Minarettstummel daneben und einem flachen blauen Gebäude gegenüber, der früheren Madrase (Islamschule). Beide Gebäude sehen sehr gepflegt aus, sie beherbergen jetzt einen Ausstellungsraum, eine volkskundliche Sammlung und Räume des lokalen Kulturvereines. Und beide Gebäude sind geschlossen. Macht nichts, bei dem sonnigen Wetter steht mir den Sinn sowieso nicht nach Ausstellungsbesuch. Weshalb auch die Residenz von Muhammad Ali Pascha unbesucht bleibt, die sich jenseits eines abgezäunten Parkes Richtung Südspitze der Panagia-Halbinsel befindet und die geöffnet wäre. Die benachbarte Kirche Kimissi Theotokou ist dagegen offen, aber neueren Datums.
Unten am Hafen hat gerade die "Nissos Chios" angelegt. Sie verbindet Kavala mit den ostägäischen Inseln und fährt bis Lavrio und Piräus. Kurz bekomme ich einen heftigen Anfall von Fernweh bevor mir der Verstand sagt, dass Thassos doch auch erkundenswert ist. Und sicher belebter als Ai Strati. Aber ich sollte mal wieder einen Anlauf darauf nehmen. Und warum nicht von Kavala aus?
Zunächst aber wandere ich durch die Gassen Richtung Kastro.
Die Festung wurde im 15. Jahrhundert auf den Resten einer früheren byzantinischen Oberstadt erbaut. Die Burg ist zur Besichtigung geöffnet, der Eintritt kostet zwei Euro 50. Ich gucke mir zunächst den unteren, nördlichen Teil der Anlage an. Hier gibt es ein Freilichttheater und von der Burgmauer aus hat man einen guten Blick auf die Stadt mit dem römischen Aquädukt, das 250 Meter lang die Stadt unterteilt. Es wurde im 16. Jahrhundert von Suleiman dem Prächtigen restauriert.
Auf der andere Seite reicht der Blick über den Bootshafen Richtung Weststadt und bis zum Gipfel des knapp zweitausend Meter hohen Pangeon, der trotz seiner Höhe schneefrei scheint. Aber er ist auch weit weg, so gut kann ich das nicht erkennen.
Dann geht es auf den Turm. Die Treppe ist teilweise sehr eng, und es dürfen auch nur wenige Leute gleichzeitig hinauf. Im Moment kein Problem, denn ich bin die einzige Besucherin. Das wird in den nächsten Tagen noch öfters der Fall sein und stört mich auch gar nicht. Vom Turm aus sieht man nun auch über die Panagia-Halbinsel und hinunter zur "Nissos Chios", die um halb eins wieder Richtung Limnos, Ai Strati, Lesvos und Co. in See stechen wird.
Meine Fähre geht ja erst um 14 Uhr und jetzt ist es Viertel nach elf. Ich hab also noch genug Zeit, mir die Gebäude der Festung im Detail anzusehen. Das Ganze ist nicht unbedingt spektakulär, aber mit dem grünen Gras überall gefällt es mir hier gut. Ich liebe den Blick über Dächer. Dahinter zeichnet sich Thassos schwach im Dunst ab. Und die Sonne tut gut.
Von der Burg gehe ich dann entlang der Stadtmauer Richtung Aquädukt. Anspruchsvolles Terrain für Autofahrer, die hier oft rückwärts durch die schmalen Sträßchen steuern müssen.
Von einem Stadttor biege ich nach rechts zum Meer ab, wo im Schatten einer kleinen Werft zwei Holzboote vor sich hin rotten. Kavalas Beitrag zur Verschrottung der Kaikia?
Das Aquädukt, Kamares genannt, das sich quer über die Straßen und Häuser spannt, zeigt aber, dass man hier schon auch sorgfältig mit alten Sachen umzugehen weiß. Es ist dreireihig, bis zu 52 Meter hoch und soll 60 Bögen haben, kleine und große. Ich zähle nicht nach. An der Südwestseite sind zwei Taubenschläge eingebaut, und auch sonst scheinen Tauben ihren Spaß am Gemäuer zu haben - sie gurren hier auf allen Etagen.
Ein Denkmal mit einem Löwen sitzt in einer gepflegten Grünanlage zwischen fruchttragenden Zitrusbäumen und ein Schild weist darauf hin, dass es 460 Kilometer bis Konstantinopel sind. Das alte Byzanz scheint hier im Norden näher als das moderne Athen.
War ich im Panagia-Viertel noch weitgehend alleine, so ändert sich das als ich bei der Nikoloas-Kirche auf die Fußgängerzone treffe.
Die Nikolaos-Kirche ist seltsamerweise dem Stadtheiligen Paulus geweiht - Paulus von Tarsus ging 49 nach Christus in Kavala an Land und gründete im nahen Philippi die erste christliche Gemeinde Griechenlands. Das Gebäude wurde aber viel später als Moschee erbaut und erst 1926 zur Kirche umgebaut, den Glockenturm setzte man an die Stelle des Minarettes. Das Paulus-Denkmal aus Marmor und Mosaiken wurde erst im Jahr 2000 davorgesetzt - hierher soll Paulus seinen Fuß gesetzt haben .... ist die Schuhgröße überliefert?
Am Freitagmittag ist in der Innenstadt von Kavala der Bär los. Man genießt zwischen den Einkäufen die Sonne, den Kaffee und Gespräche unter Heizpilzen. Ich hab inzwischen Hunger und esse eine Gyropitta an einer der vielen Souvlatsidika. Schlendere dann noch vorbei am prächtigen Gebäude des Tabakhandels, erbaut 1910 im Stil des ottomanischen Neoklassizismus' (sowas gibt es), in dem sich heute ein Kulturzentrum befindet. Kavala war Zentrum des griechischen Tabakhandels, ein Tabakmuseum gibt es in Kavala auch noch, aber dafür fehlt mir nun die Zeit. Vermutlich nennt sich Kavala wegen des damaligen blauen Dunstes "die blaue Stadt".... ich kann sonst wenig blaues entdecken.
Ob Kavala wirklich die schönste griechische Stadt ist?, wie manche behaupten? Mhh, ich würde Chania den Vorzug geben. Und Ermoupoli. Oder Rhodos-Stadt. Daran kann auch das nahe Rathaus im neogotischen Türmchenstil nichts ändern, das um 1890 von einem ungarischen Tabakhändler errichtet wurde. Eher selten als schön.
Allmählich wird es Zeit, ins Hotel zurückzukehren und meine Sachen zu holen. Unterwegs fällt mir der schwarze Gedenkstein für 1.484 jüdische Bewohner Kavalas auf, die am 4. März 1943 von den nationalsozialistischen Besatzern deportiert und in Konzentrationslagern umgebracht wurden. Einfach fürchterlich. Traurig auch, dass das Denkmal zwei Wochen nach der Errichtung 2015 mit Farbe beschmiert und 2017 von Vandalen beschädigt wurde. Oder vielleicht ist der Ausdruck Vandalen hier falsch: rechte Idioten vermutlich. Die gibt es leider überall.
Nachdem ich im Hotel die Sonnencreme aus dem Trolley geholt und mir das Gesicht eingecremt habe, bin ich gerüstet für die Überfahrt nach Thassos. Als ich zum Anleger hinüber gehe, kommt die Fähre gerade an. Es ist die "Agios Panteleimon", eine dieser offenen Fähren mit der Ladeklappe vorne. Gibt es für diesen Schiffstyp einen speziellen Ausdruck? Typ "Landungsboot" sag ich immer, und weil sie keinen Kiel haben, sind sie nicht so seetüchtig wie "normale" Fähren. Heute weht aber kein Lüftchen.
Fließend findet der Passagierwechsel statt und nachdem ich mein Ticket für günstige fünf Euro erstanden habe, gehe ich auch an Bord. Höchst pünktlich um 14 Uhr legt das Schiff ab. Kavala mit Burgberg, Paralia und Bergen dahinter bleibt schnell zurück. Eine weiße Mauer vor den Bergen.
Ich mache es mir auf einem der Schalensitze auf der Sonnenseite des Decks gemütlich. Fahrtwindgeschützt, sonst wird es saukalt. Wir haben ja Winter, trotz der Sonne. Die Sitze sind etwas zu hoch um bequem zu sein. Es sei denn, man stellt seine Füße auf das Geländer, was aber ungünstig ist wenn jemand durch will. Was ständig der Fall ist.
Der Salon ist knallvoll, wie ich bei einem kurzen Erkundungsgang feststelle. Da wollen offenbar viele Leute zum Wochenende nach Thassos.
Wir passieren mehrere fischende Trata-Boote und zwei Ölplattformen. Ganz schön was los auf dem Meer hier.
Die grünen Berge von Thassos rücken näher. Ich bin gespannt was mich erwartet.
Erlebt im Januar 2020