Theo ist müde - nicht die Kälte, sondern der Wind hat ihn wachgehalten. Irgendetwas hat die ganze Nacht geklappert und sich akustisch in sein Zimmer übertragen. Ich hab nichts gehört.
Das Frühstück fällt frugal aus: viel haben wir nicht mehr. Gut, dass ich gestern im "Mesochori" erneut zwei Brotscheiben gebunkert habe. :-)
Das Wetter ist eklig: Wind, Regen, Kälte, kaum Sonne. Aber immerhin (noch) kein Schnee, und so sind unsere Gastgeber wohl nach Chania ausgeflogen. Gegen zehn Uhr verlassen wir Komitades Richtung Osten, Plakias. Die Strecke kennen wir nun schon bis Rodakino. Gelegentliche Regenbogen verlocken zu Fotohalten, aber in den Windböen ist kein unverwackeltes Foto zu schießen, und durch die Windschutzscheibe des Autos wird das auch nicht so toll.
Nach einer Stunden Fahrt sind wir in Plakias, wo ich an der Uferpromenade parke. Vor über zwanzig Jahren habe ich mal ein paar Tage hier gewohnt, in der Pension "Panorama" oben auf dem Hügel, ein echter Palast der Winde im Windloch Plakias. Das seinem Ruf natürlich auch heute gerecht wird, wo die ganze Südküste vom Wind durchgeschüttelt wird. Aber wer will heute schon an den Strand?
Der Ort ist weniger ausgestorben als gedacht, aber die Bevölkerung hat sich natürlich hinter die schützenden Mauern und Fenster der Häuser zurückgezogen. Wir belassen es bei einem kurzen Ründchen zum Anleger, an den das graue Meer anbrandet, dann flüchten wir vor dem winterlichen Wetter ins Auto und aus dem Ort.
Ein Abstecher zum Kloster Prevelis? Bei Klöstern brauch ich Theo nicht fragen, die hält er für verzichtbar, und wir wissen auch nicht, ob das Kloster geöffnet sein wird. Also fahren wir - plötzlich unter Sonnenstrahlen und Regenbogen - durch die Kourtaliotiko-Schlucht nach Spili. Von hier wollen dann durch das Amari-Tal und am Kloster Arkadi vorbei (dem wird Theo nicht entkommen, denn da war ich noch nicht) an die Nordküste.
Es ist Mittag, als wir in am westlichen Ortseingang von Spili parken. Dass der auf 400 Metern Höhe gelegene Ort in der Saison Ziel von Busladungen mit Tagesausflüglern ist, erkennen wir schnell an den entsprechenden Parkhinweisen und -räumen. Ausflügler sind heute am Samstagmittag zwar keine da, aber Spili präsentiert sich uns immerhin als halbwegs lebendiges Landstädtchen.
Wir suchen natürlich den bekannten Brunnen mit den 25 Löwenköpfen, und finden ihn in der Ortsmitte nahe der Mitropolis-Kirche. Venezianisch soll er sein, und vielleicht hat man es bei der letzten Restaurierung etwas übertrieben - sehr neu wirken die gereihten raubtierköpfigen Wasserspeier.
Der ganze Ort ist vom Wasserreichtum geprägt, üppig wächst das Grün, leuchten die Orangen. Im Hochsommer bestimmt eine erfrischende Oase, aber jetzt im Januar zieht uns die feuchte Kälte schnell in die Knochen. Es gibt ein volkskundliches Museum, das wir aber nur halbherzig suchen, denn inzwischen haben wir Hunger. Ein Souvlakibude ist neben der Kirche, und sie ist auch geöffnet. Mhh, eine richtige Taverne wäre uns lieber, und war da nicht eine geöffnet wo wir das Auto geparkt haben? Auf dem Rückweg entpuppt sich alles Gastronomische als geschlossen oder nur mit Getränkeausschank. Dito das Lokal an unserem Auto, wo mich wegen der Kälte inzwischen schon die Aussicht auf ein belebendes Heißgetränk locken kann. Aber nein, was Essbares muss auch sein. Also fahren wir eben (ja, man wird faul, aber es ist kalt) zurück in den Ort und genehmigen uns in der Souvlakibude jeder eine umfangreiche Gyropitta. Dazu ein kaltes Bier für Theo, (*bibber*, aber Tee oder Kaffee gibt es hier leider nicht, und so verzichte ich lieber), so gestärkt nehmen wir die Weiterfahrt in Angriff.
Zunächst westlich wieder aus Spili hinaus, dann abbiegen Richtung Gerakari. Es geht bergan bis auf eine Passhöhe auf über 850 Metern. Die Landschaft wird kärger und einsamer, passend dazu scheint der spärliche Regen in Schneeflocken überzugehen. Das Außenthermometer des Autos warnt mit einem Plöng vor Eisglätte. Hoppla, es hat nur noch 2° Celsius! Nun erwischt uns der kretische Winter doch noch...
Das Erscheinen einer Tankstelle nutzen wir, um nochmals zu tanken, für 15 Euro sollte das nun bis Iraklio reichen. Der kalte Wind, der durchs geöffnete Fenster hereinbläst als ich den Tankwart bezahle, treibt uns weiter. Vor uns erscheint kurz ein Stück des Psiloritis aus den Wolken, schneebedeckt.
Im Amari-Tal gäbe es einiges zu besichtigen, aber wir sind nur auf der Durchreise und so belassen wir es beim schnellen Besuch des Denkmals in Gerakari. Das Dorf wurde im August 1944 von deutschen Besatzungstruppe als Vergeltung für die Kreipe-Entführung niedergebrannt, 36 Einwohner wurden erschossen.
Da wird es uns noch kälter und wir fahren schnell weiter. Wobei unser nächstes Ziel auch nicht gerade zur Gemütserwärmung geeignet ist: das Kloster Arkadi.
Auf einer kargen Hochebene, 500 Meter über dem Meer, liegt das festungsähnliche Gebäude, eine Holperstraße führt zum riesigen Parkplatz vor der Pforte. Und wir sind mal wieder in der privilegierten Lage, die einzigen Besucher zu sein. 2,50 Euro kostet der Eintritt zum Nationalheiligtum, ähm nein: -denkmal pro Person (zur "Wiederaufstellung des Klosters" - die Beschriftung auf der Eintrittskarte ist in Griechisch, Englisch und Deutsch, siehe auch bei Theo). Ein junger Mann verkauft uns die Tickets, aber im Kloster sollen auch noch Mönche leben. Die haben sich offenbar gerade zum Mittagsschlaf oder an den heißen Kaminofen zurückgezogen, und so treffen wir bei unserem Klosterbesuch nur die träge in einem Bogengang des Klosters wohnenden Klosterkatzen, die uns ob der Störung leicht indigniert angucken.
Zuerst aber geht es natürlich in die Kirche, ein doppelschiffiges Gebäude, im Stile der venezianischen Renaissance gebaut (die mich irgendwie immer an Gebäude aus Mexiko-Western erinnert). Für die wenigen Winterbesucher spart man Strom und Licht, das Interieur ist düster, kalt und gruftig. Kein Ort für ein warmes Gefühl.
Das Skelett der verkrüppelten Zypresse (echt, eine Zypresse? Sieht eigentlich nicht so aus) draußen, die verschlossenen und unbeleuchteten Räume der Seitengebäude (eigentlich wäre hier ein Museum) stimmen uns gefühlsmäßig auf den dramatischen Höhepunkt des Klosters ein: die dachlose Munitionskammer, in der sich am 9. November 1866 die von einer türkischen Überzahl belagerten Kreter in die Luft sprengten.
Solche Geschichten kennt zuhauf wer in Griechenland unterwegs ist, und sie hinterlassen bei mir keine heroischen Gefühle, sondern die Frage, ob Freiheit es wirklich wert ist, ihr alles unterzuordnen. "Freiheit oder Tod" - und wie frei ist man dann wirklich? Frei wovon?
Da fällt mir der Grabspruch von Kazantzakis ein: "Ich erhoffe nicht, ich befürchte nichts, ich bin frei". Ein Leben ohne Angst mag erstrebenswert sein, ein Leben ohne Hoffnung eher nicht, es sei denn man lebt völlig im Jetzt. Dann ist Freiheit aber unwichtig. Oder ist Freiheit sowieso erst im Tode zu erreichen? Freiheit UND Tod?
Gut, zurück nach Kreta, Arkadi. Ich drehe noch eine Runde durch das Kloster, treppauf, treppab, dann bin ich völlig durchgefroren. Warum habe ich Mütze und Handschuhe im Auto gelassen? Wo ist eigentlich Theo?
Der strebt schon wieder Richtung Ausgang. Klöster sind nicht sein Fall, auch wenn sich keine Mönche oder Nonnen blicken lassen. Ich folge ihm, hole mir aus dem Auto die vermissten Kleidungsstücke und gehe über den weiten Parkplatz - was hier wohl im Sommer los ist? - noch hinüber zum Beinhaus, in dem die Knochen der Kämpfer aufbewahrt werden. So makabre Gebein-Installationen habe ich auch schon öfters gesehen, aber hier ist alles zu und verschlossen. Es braucht auch nicht wirklich noch mehr Endlichkeitssymbole.
Schweigend fahren wir weiter nach Norden zur Küste hinab, verpassen irgendwo die direkte Abzweigung zur Nationalstraße, gurken durch öde Dörfer unter grauem Himmel. Kreta kann so kalt sein.
Dann doch die Nationalstraße nach Osten. Ich brauche dringend einen Kaffee, und so biegen wir nach Bali ab. Ob es in dieser Ansammlung touristischer Infrastruktur irgendwo ein im Winter geöffnetes Lokal gibt? Ich fange schon an, dies zu negieren, als wir dank einer Leuchtschrift doch noch fündig werden. In dem ungemütlichen "Internet-Café Bali" treffen sich britische Residenten zum Fußballgucken (Liverpool spielt mit, und Kloppo guckt bedröppelt. Ist aber erst Halbzeit) und Einheimische zum Schwätzen und Zocken. Es riecht lecker nach Suppe, aber wir sind noch satt vom Mittag. Zwei große Elleniko samt Wasser gibt es für drei Euro, und dann schnell weiter nach Iraklio.
Wo wir kurz vor fünf Uhr am Hotel "Kronos" eintreffen und auch gleich einen Parkplatz finden.
Theo hatte hier ja schon zwei Nächte gewohnt und für die Rückreise prophylaktisch zwei Einzelzimmer reserviert. 48 Euro kostet das ansprechende (und beheizbare) Einzelzimmer mit gutem Frühstück, und wir sind froh, dass wir kein Zimmer zur Paralia hin bekommen haben: dort tobt der Wind inzwischen in Sturmstärke ungebremst heran, die Brandung tost. Kreta macht uns den Abschied leichter.
Nach zwei Stunden Pause im warmen Zimmer gehe wir dann in die Stadt hinein. Die Runde über den Hafen entfällt - es zieht dort zu sehr. Aber in der Stadt ist schon gut was los, obwohl es noch früh ist.
Der Morosini-Brunnen erstrahlt in voller Pracht. Theo will ins "Peninta-peninta" in der Marktgasse, und ich hab nichts dagegen, auch wenn die von mir präferierten Lokale hinter dem historischen Museum liegen. Da wir zeitig dran sind, bekommen wir auch noch einen Platz drinnen (nein, draußen unter den Heizstrahlern wollen wir nicht sitzen). Der Wintersalat vorab ist auch wirklich sehr lecker, die Keftedakia und der Hühnchen sind ok. Kuchen als Dessert und Ratschi aufs Haus sind obligatorisch, und so stürzen wir uns zufrieden ins Nachtleben.
Theo will mir unbedingt die Bar mit der opulenten Toilette zeigen. Wir müssen etwas suchen, und inzwischen drängt sich die kretische Jugend in den Gassen (Iraklio scheint deutlich jünger zu sein als Chania).
Aber Theo findet das Lokal namens "La Brasserie", wo wir wegen Vorbereitungen auf die Samstagabendunterhaltung - ein DJ erscheint wenig später und baut auf - nur einen Platz an der Bar einnehmen dürfen. Mia biera ke ena potiri kokkino krassi - neun Euro. Gehobene Preise. Natürlich gucke ich mir dann auch die von Theo hochgelobte Lokalität zur Entsorgung und zum Stylen im ersten Stock an. Definitiv anders, und mich beschleicht das Gefühl, dass das hier eine Schwulenbar ist. Was sich im Nachhinein bestätigen wird, aber Theo widerspricht meiner durch zwei kleine gleichgeschlechtliche Nippes-Paare untermauerten Theorie zunächst.
Unser letzter kretischer Abend im Januar 2016. Zehn schöne Tage liegen hinter uns.
Morgen werden wir nach dem Frühstück (sonntags in Buffetform) zum Flughafen fahren, wo Martin von "The Best Cars" unsere Fiat Bravo pünktlich und unkompliziert im Empfang nehmen wird (wir sind etwa 1.100 Kilometer gefahren). Danach werden wir das gähnend leere Flughafengebäude betreten (kein Dutzend Flüge verlassen an diesem Sonntag Iraklio) und innerhalb von drei Minuten unser Gepäck einchecken. Die Sicherheitskontrolle wird ähnlich schnell verlaufen.
Pünktlich um fünf nach elf Uhr wird unser Flieger zu einem wolkenverhangenen Flug über die Ägäis nach Athen abheben, wo Theo schnell zu seinem Weiterflug eilen wird, und ich vier Stunden Zeit haben werde ehe mein Flug via Thessaloniki nach Stuttgart abheben wird. Und auf dem Athener Flughafen wird der übliche Rummel eines Großstadtflughafens sein, keine Spur von Nachsaison.
Aber wir können uns vorstellen, unseren kretischen Winterurlaub zu wiederholen.
Es muss, obwohl es dort schön war, nicht wieder Chania sein.
Kreta ist ja groß und Eisvögel gibt es sicher auch anderswo dort.