Agia Irini und Samaria

 

Die Sonne ist beim Frühstück am nächsten Morgen kein Problem – die ist nämlich noch nicht aufgegangen. Es ist kurz nach sechs Uhr, um sieben fährt der Bus nach Chania, wir wollen mitfahren und oben an der Agia-Irini-Schlucht aussteigen und sie hinunter wandern. Die Bustickets gibt es an dem kleinen Schalter von der Bushaltestelle nach Westen, 2,70 Euro kostete die Fahrt pro Person. Die meisten Passagiere sind Wanderer, aber auch zwei Jungs sind dabei, auf dem Weg zur Schule. Einer von beiden verschüttet während der Fahrt Flüssigkeit aus einer Flasche und wird daraufhin vom Busfahrer lautstark zusammengeschissen. Dass er die Jungs nicht aus dem Bus wirft, ist eigentlich ein Wunder, schimpfend wischt er die Flüssigkeit – ich glaube, es ist nur Wasser – auf. Kleinlaut steigen die beiden Übeltäter kurz darauf aus, sie warten an der Kreuzung auf einen anderen Bus.

 

Die Fahrt geht wieder sehr langsam vor sich, mit Abstecher über Skafi – muss man wohl vorher telefonisch anmelden wenn man hier mitgenommen werden will. Bis der Busfahrer dann „Agia Irini“ ruft und anhält, ist es fast acht Uhr. Wir steigen nicht alleine aus, noch mehr sind schluchtwütig. Die anderen gehen allerdings zuerst in die Taverne am oberen Schluchteingang, frühstücken vermutlich. Wir suchen etwas herum, wo ist der Schluchteingang? Da überholt uns ein Mann auf einem Motorrad, es ist der Eintrittskartenverkäufer, der schnell die Schlucht „öffnet“ und uns zwei Schlucht-Tickets für je zwei Euro verkauft. Sieben Schluchtkilometer liegen vor uns, und wir sind ganz alleine unterwegs.

 

Frisch ist es in der schattigen Schlucht, und ich bin froh, meine dünne Windjacke eingesteckt zu haben, die ich nun anziehen kann. Die Mutter hat auf dergleichen verzichtet und friert etwas. Zum Glück ist sie nicht so eine Frostbeule wie ich. Und durch das flotte Gehen wird uns bald warm.

 

Jetzt, im Herbst, ist die Schlucht logischerweise nicht mehr blühend und grün, sondern nur noch grün (Bäume) und grau (Steine). Oleanderbüsche säumen das trockene Bachbett. Der Weg ist völlig problemlos zu finden, wegen großer Steine muss man gelegentlich etwas aufpassen wo man hintritt. Ab und zu gibt es Höhlen in der Felswand, Verstecke der Partisanen im Zweiten Weltkrieg. Und es hat wasserführende Brunnen. Später eine Ikonostase, ein paar verwitterte Heiligenbildchen in einem Felsenloch.

Faszinierend einige knorrige Bäume und bizarre Felsenformationen. Ansonsten ist die Schlucht eher unspektakulär. Etwas erinnert sie uns an die Imbros-Schlucht, wobei wir hier wesentlich einsamer sind. Erst als wir nach etwa zwei Stunden an einem der netten Picknickplätze rasten, überholt uns eine einzelne Wanderin. Später kommen uns einige Wanderer entgegen, die die Schlucht hinaufgehen. Das ist wohl deutlich weniger anstrengend als ich gedacht habe, und da man meist im Schatten läuft, droht auch kein Hitzschlag.

Weiter unten wird die Schlucht dann doch recht eng, man muss auch mal die Hände zu Hilfe nehmen um über eine Felsenstufe zu klettern. Harmlos aber trotzdem. Dann wird die Schlucht weit, und wie in der Imbros-Schlucht ist der Boden mit unbequemen großen Kieseln bedeckt, man muss schon auf den Weg achten.

Nach gut drei Stunden erreichen wir den unteren Schluchtausgang und stoßen dort auf die Snack-Bar „Oasis“, die uns mit dem Angebot „fruit salad“ ködert – eigentlich haben wir nämlich keinen Hunger, da wir noch nicht lange gevespert haben. Man sitzt sehr schön unter den schattigen Bäumen, in der auch einige Hängematten zum Nickerchen einladen, und ein Zopf Zwiebeln hängt – zum Vertreiben von Insekten und anderen Blutsaugern? Die Taverne wirkt neu, und der junge Besitzer ist zurückhaltend freundlich. Sein nicht minder freundlicher Hund, ein niederläufiger Jagdhund-Mix, hat mit echtem Hundeinstinkt sofort herausgefunden, dass meine Mutter Hunde lieber von der Ferne hat, und legt sich natürlich genau unter ihren Stuhl, die Schnauze an ihren Füßen, wohlig grunzend. Vorsichtige Vertriebsversuche quittiert er mit Ignoranz. Die Mutter flüchtet an der Nachbartisch, der Hund folgt ihr. Begleitet von seinem Hecheln löffeln wir unseren Obstsalat (mit Kaktusfrüchten – gewöhnungsbedürftig). Zum Glück kommen irgendwann andere Gäste, und der Wauwau verlegt seinen Aktionskreis.

 

Wir dösen noch ein wenig bevor wir uns auf den Weg nach Sougia machen, nun auf der Straße, irgendwo stand etwas von 5,5 Kilometern. Kaum haben wir das Tavernengelände verlassen, da haben wir auch schon einen Begleiter: den Hund. Schwanzwedelnd und glücklich wetzt er neben uns her, scheucht mal links ein paar Schafe auf, untersucht dann rechts interessante Spuren. Das Wandern mit Hunden sind wir in Griechenland durchaus gewohnt, nur ob dieser Vierbeiner auf seinen kurzen Beinchen auch den Rückweg wieder schafft? Wir hoffen darauf, dass er irgendwann zurückbleibt oder umkehrt, aber er macht keine Anstalten.

Wie wir noch überlegen was wir tun sollen, kommt von hinten ein knatterndes Geräusch. Es ist so ein offenes drahtgestelliges Fun-Car (Buggy?), in dem der Tavernenwirt sitzt. Er hat den Abgang seines Hundes bemerkt, und keine Lust, ihn in Sougia abzuholen. Bestimmt wäre es nicht das erste Mal. Wir treiben ihm den unwilligen Hund zu, und er hebt ihn in sein Fahrzeug auf den Beifahrersitz. Noch während er das Gefährt wendet hüpft der Hund wieder hinaus. Nein, er will nicht zurück! Wir gehen mit Hund auf den Besitzer zu, mit vereinten Kräften erwischt sein Besitzer ihn und packt ihn am Halsband. Schnell in die Karre und einhändig, mit der anderen den Hund haltend, fährt er davon, uns in einer Abgaswolke zurücklassend.

Auf der Straße ist das Gehen nicht sehr schön, vielleicht gibt es einen Weg im trockenen Flusstal, aber das ist auch recht anstrengend, und wer weiß wo der endet. Am Strandrand blüht blasses Heidekraut. An der nächsten Kreuzung steht eine Kapelle, aus dem Betonzeitalter, vom Mini-Glockenturm blättert der Putz. Trostlos. Ein paar hundert Meter entfernt wächst mitten aus einem Olivenhain phallusartig ein pagodenähnlicher Campanile – oder ist es eine Ikonostase? Die Größenverhältnisse sind aus dieser Entfernung schwer zu beurteilen, bemerkenswert ist der Turm auf alle Fälle.

Uns wird es nun so richtig heiß auf der Straße, mitnehmen will uns auch keines der spärlich vorbeifahrenden Autos. Die Straße führt schließlich auf die Hauptstraße nach Sougia, wenige Meter später kommen wir an einem Mahnmal für die Opfer der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkrieges vorbei. Viele Männer der Gegend wurden im Februar 1944 gefangengenommen und in das KZ Mauthausen gebracht, wo sie umkamen. Wir frieren trotz der Mittagssonne.

Gegen halb zwei Uhr sind wir wieder in Sougia – die richtige Zeit für eine gepflegte Siesta.

 

Später gehen wir an den Strand, wo immer noch die rote Flagge im Wind weht und vor dem Bad im Meer warnt. Inzwischen von so ziemlich allen ignoriert – es hat nämlich keinen Wind mehr, nicht von Norden, nicht von Süden, der schattenlose Strand ist brüllend heiß. Da hilft nur schnell ins Meer wetzen, das hat schlappe 26°C.

Natürlich machen wir auch wieder einen Abstecher zur Fährankunft, vorbei an dem Flakgeschütz aus dem Zweiten Weltkrieg. Es werden täglich mehr Samaria-Wanderer. Morgen möchte ich auch dabei sein.

Am Abend haben wir wieder die Qual der Wahl unter den zahlreichen Tavernen. Wir entscheiden uns für „Polyfimos“ - ob der Wirt einäugig ist? Nein, die Taverne heißt nach einer gleichnamigen Höhle östlich von Sougia. Man könnte hinwandern… Die Taverne befindet sich in einem großen Garten, und ist auch fast voll belegt. Ganz am Rande finden wir ein Platz, selbst die Vögel scheinen sich wohl zu fühlen dort, ein Vogelschiss befindet sich auf dem Tisch, und die Mutter entgeht nur knapp einem neuen Anschlag von oben. Das Essen – Tomatenkeftedes, Boureki und Hühnchen – ist oberlecker! Sougia – die kulinarische Hochburg Kretas – wir sollten verlängern. Na, ein Tag bleibt ja noch.

Morgen möchte ich in die Samaria-Schlucht.

 

Die Samaria-Schlucht also.

Eigentlich hatte ich gedacht, ich könnte mir diese Schlucht sparen. Tausende von Leuten jeden Tag dort, grauenhafte Vorstellung! Lang, aber nicht unbedingt anspruchsvoll. 1.300 Höhenmeter bergab, 18 Kilometer lang, sagt das Märchen. Muss ich das haben?

Nein, dachte ich lange.

Aber jeder Ahnungslose, dem du erzählst, dass du auf Kreta warst, fragt nach der blöden Schlucht. Was interessieren dann andere Schluchten? Und landschaftlich soll sie schon überragend sein. Hmmm. Als passionierte Wandrerin muss ich da wohl durch. Einmal, und gut ist. So wie Helgoland. Einmal im Leben reicht. Abhaken. ;-)

Also auch ich. Die Mutter meinte erst, sie ginge mit. Angesichts der 700 Höhenmeter abwärts zu Beginn der Tour an der Xykoskala und der 1.300 Höhenmeter insgesamt halte ich das für keine sooo gute Idee, da lassen später die Knie bestimmt ordentlich grüßen! Sie überlegt es sich anders, und ich werde alleine gehen. Sorgen muss sie sich deshalb keine machen, ich glaube, die Samaria-Schlucht ist der bestüberwachte Ort in ganz Griechenland! Nirgendwo anderes hat man einen Hubschrauberlandeplatz in Reichweite, Wärter, Aufpasser. Nicht, dass ich mir unbedingt den Fuß verknacksen möchte, aber wenn, dann wäre das der beste Ort Griechenlands dazu. Einsamkeitserfahrungen sind aber definitiv keine zu machen dort.

Ich stelle mich darauf ein: es wird lang und voll werden.

 

Von Sougia ist die Samaria-Schlucht am einfachsten zu durchwandern. Früh mit dem Linienbus hinauf, spät mit der Fähre zurück. Reichlich Zeit dazwischen, und früh genug sollte man auch oben sein um den großen Mengen zu entkommen.

 

Reichlich proviantiert (in der Schlucht gibt es nur Wasser, das aber gratis) und mit großer Trinkflasche stehe ich am Morgen um 7 Uhr am Tickethäuschen in Sougia. Erfahre, dass der Bus gar nicht mehr täglich bis Omalos fährt (obwohl doch laut unserer Unterkunft noch Hochsaison ist), aber heute schon. Glück gehabt! 4,20 Euro kostet die Busfahrt bis Omalos, oben auf dem Sattel muss man in den Bus von Paleochora umsteigen.

 

Der Bus ist fast voll, die zwei Schuljungs von gestern sind heute auch wieder im Bus, aber brav und getränkefrei. Einige Radfahrer haben ihre Räder in den Gepäckraum geladen, kein Problem. Nach Skafi muss der Bus heute nicht, wurde nicht bestellt. In Agia-Irini steigen erste Wanderer aus, kurz darauf sind wir in Seli, der andere Bus steht schon da, fix geht der Wechsel. Das Wetter ist toll, ganz klar, man kann schön auf die Nordküste hinunter sehen. Über die Omalos-Hochebene geht es nach Osten, überall Schafe, ein Buswrack am Straßenrand - tolle Gegend!

 

So um zwanzig nach acht Uhr hält der Bus dann am Schluchteinstieg, ein Dutzend Leute steigen aus. Es sind deutlich weniger Leute am Parkplatz als ich befürchtet habe. Keine Ahnung wann hier die Massen eintreffen. Egal, ich werde nicht auf sie warten, bin laufhungrig! Fünf Euro kostet der Eintritt, ich habe Karte Nummer 47.120 – die Zahl der diesjährigen Besucher von oben bis heute? Auf der Rückseite des Tickets ist der Wegverlauf eingezeichnet, mit Toiletten und Wasserstellen. Die Länge bis zum unteren Tickethäuschen am Schluchtausgang ist mit 12,8 Kilometern angegeben (im MM-Führer stehen 14,3 km), von dort bis Agia Roumeli sollen es noch zwei Kilometer sein. Also sagen wir mal fünfzehn Kilometer insgesamt. Auf etwa 1.300 Meter über Meereshöhe liegt der Tourbeginn, enden wird er bei Null – logischerweise.

Die Sonne klettert gerade über die östliche Bergkette, dunkle Silhouetten. Auf der anderen Seite ein steiles Tal – der Beginn der Samaria-Schlucht?

Ansonsten hat das Tickethäuschen noch eine umfangreiche Sammlung an Verboten im Angebot. Was man in der Schlucht alles nicht darf: Stöckelschuhe verbieten sich eh (Flip-Flops nicht?), offenes Feuer und Campen dito. Natürlich darf man auch nicht jagen, Äste absägen, mit dem Hämmerchen die Steine abklopfen und am Stock gehen (das darf man dann gerne die Tage darauf). Ob auch Trekkingstöcke verboten sind? Ich sehe wenige Leute mit, einen hab ich aber gleich vor mir, das erste Stück der Xyloskala wandern wir parallel. Sonst ist sind keine Leute da.

Xyloskala, die sagenumwobenen Holzleiter also, die gar keine Leiter ist. Von „engen Serpentinen“ ist im MM die Rede, und von einem steinigen Weg, auf dem aufpassen soll weil er von so vielen Wanderersfüßen glattgerutscht ist. Ich hatte ihn mir steiler vorgestellt, und schmaler, passe aber dennoch auf, denn rutschig ist es schon gelegentlich. Zum Gucken bleibt man besser stehen, was zur Folge hat, dass der bestockte Wanderer und ich uns ständig gegenseitig überholen. Irgendwann rupft er aber etwas Botanik ab (darf man bestimmt nicht), und ich enteile.

Das ganze Bergab-Wegstück liegt in einem lichten Kiefernwald, gelegentlich hat es Aussichtsplätze.

700 Höhenmeter hat man hier am Anfang der Tour zu überwinden, und nach einer Stunde Gehzeit spüre ich das in den Knien. Inzwischen bin ich von einigen sportlich ambitionierten Läufern überholt worden, die auch gerne die Serpentinen abkürzen. Eine Kleinfamilie mit vielleicht siebenjähriger blonder Tochter ist zügig unterwegs – Respekt! Später werde ich die Mutter die Tochter tragen sehen, immer noch in hohem Tempo…. Eine korpulente junge Frau habe ich überholt, die schon nach dreißig Minuten so aussah als ob sie nicht mehr weit kommen würde. Und zwei ältere Frauen in dünnen Stoffschühchen – aua! Insgesamt hält sich die befürchtete Massenwanderung aber sehr in Grenzen, eine angenehme Überraschung.

Ein Feld von Steinmännchen wächst nach einer Stunde rechts des Weges empor, muss ich auch eines bauen? Um wiederzukehren à la Trevibrunnen? Ich verzichte, und habe nach einer weiteren Viertelstunde den Talboden bei Agios Nikolaos erreicht. Dieser Schluchtabschnitt ist nicht so steil, und waldig, ein Bach fließt unten entlang, große runde Felsen darin, echt schön.

Das kommt die Raststelle Agios Nikolaos mit einem Brunnen, ein paar halbzahmen Kri-Kris und der namensgebenden Kapelle. Schon in der Antike soll es hier ein Heiligtum gegeben haben, ich kann mir das gut vorstellen: der Platz hat Ausstrahlung. Die Kapelle hat man gerichtet und abgestützt, drinnen sieht sie aber sehr spartanisch aus.

 

Ab hier geht es zunächst immer wieder das Bachbett querend, dann etwas weiter oberhalb des Tales, das hier lieblich wirkt. Ein zehnbeiniger Steinetransport kommt mir entgegen – zwei Mulis und ein Treiber, wo die Steinplatten hin sollen?

Die erste Rast lege ich an der Quelle Vrissi ein. Wasser braucht man in die Samaria-Schlucht wirklich nicht mitschleppen! Es schmeckt köstlich. Der weitere Weg geht immer sanft bergab an der Talflanke entlang, Blicke auf die Gipfel im Osten werden frei.

Das Gehen macht Freude, ich fühle mich auch keineswegs bedrängt von anderen Wanderern, nur an wenigen Stellen stauen sie sich etwas auf. Außer einem jungen Paar und einer alleinwandernden Frau habe ich übrigens keine griechischen Schluchtwanderer bemerkt.

Nach zweieinhalb Stunden bin ich an einer Übersichtstafel „You are here“ und habe ein gutes Drittel des Weges bewältigt. Nun ist man wieder am Talboden, und die alte Siedlung Samaria ist nicht mehr weit. Obwohl es auch hier nichts zu kaufen gibt, ist es doch der vollste Rastplatz in der ganzen Schlucht. Die Wächter und anscheinend auch ein Arzt haben hier ihre Station, aus einem Funksprechgerät kommen Meldungen. Ein verfressenes Kri-Kri bettelt um Futter, ich beschließe, mich mit einer der mitgebrachten Dosen Cola zu belohnen. Bisher war alles weit besser als erwartet. Und nun soll ja der richtig steile Teil der Schlucht kommen. Ich bin gespannt.

Über die Brücke wieder auf den Weg, vorbei an der Kapelle Christos, die sich an den Felsen drängt. Die schluchtnamensgebende Kapelle Ossia Maria liegt auf der anderen Schluchtseite, ist beschildert, aber ich geh nicht hin. Nachdem an der Raststelle so viel los war, gehe ich nun fast alleine.

Der Wald wird dünner und weicht den zunehmend senkrechten Felsenwänden. Der Talboden ist ein steingrauer Fluss aus Geröll, mitten drin, wie eine Insel oder ein rettender Anker, ein hoher Baum. Oder ist es der Schluchtwächter? Denn jetzt wird es enger in der Schlucht, die Wände höher, bedrohlicher. Das beeindruckendste Stück der Schlucht, ich hatte es mir nicht so grandios vorgestellt!

Die Schichtung des Gesteins ist faszinierend, die Simse weiß bestäubt als läge Schnee. Einzelne Bäume und Büsche klammern sich an die Felsen, manche Stellen soll man wegen drohenden Steinschlages schnell passieren (warum manche genau dort rasten muss ich nicht verstehen).

Links am Hang huscht etwas, es ist eine Kri-Kri-Geiß mit Kitz, schnell verstecken sie sich im Gebüsch weil hinter mir, sich laut unterhaltend, Wanderer kommen. Schade!

 

Der Bach ist auf einmal wieder da, wo war er denn vorher? Improvisierte Lattenstege verhindern, dass man sich nasse Füße holt.

Nun ist alles nur noch Fels, die Schlucht mag am der „eisernen Pforte“ enger sein, am höchsten hinauf wächst sie hier, lässt mich unten im Schatten. Von der Wärme des Tages ist nicht viel zu spüren, hier herrschen angenehme Temperaturen.

Ich versuche, mit dem Fotoapparat irgendwie die Höhe optisch einzufangen, aber keine Kamera vermag das. Helles Gestein wechselt mit dunklem, eine Wand wie Marmorkuchen. Einschüchternd auch.

 

Dann wird die Schlucht wieder etwas weiter, hat Platz für mehr Wasser, Büsche und große Felsenblöcke. Ich finde mich in Gesellschaft einer Griechin und eines Holländers, wir gehen zusammen. Öfters queren wir den Bach, von dem ich mir gut vorstellen kann wie er nach heftigen Regenfällen zum reißenden Fluss wird und diese Schlucht in millionenjahrlanger Arbeit gebildet hat. Dann geht der Weg etwas oberhalb weiter, Naturpflastersteine.

Die letzte Quelle ist in Christos, ein schön schattiger Rastplatz mit vielen Tischen und Bänken. Ich will nochmals rasten, aber die Wespen sind derart zahlreich und aggressiv, ich habe das Vesper noch nicht richtig ausgepackt, da sitzen schon die ersten im meinem Rucksack, krabbeln über das Brot, wollen an die Salami. Da fülle ich nur schnell die Wasserflasche und sehe zu, dass ich weiterkomme!

 

Der Gegenverkehr nimmt zu, untrügliches Zeichen dafür, dass ich mich der Sideroporta, der eisernen Pforte nähere. Der „Lazy Way“, der faule Weg von Agia Roumeli bis zur Pforte und wieder zurück wird weniger ambitionierten Wanderern oft empfohlen. Aber wer nur bis zur Sideroporta geht, der hat nur einen minimalen Eindruck von dieser überwältigenden Schlucht! Wenn, dann schon bis Samaria und dann zurück – das geht auch nur mäßig bergauf und liegt weitgehend im Schatten. Da muss man aber etwas mehr Zeit einrechnen, ab besten in Roumeli übernachten und früh am Morgen los.

 

Die eiserne Pforte also, die engste Stelle der Schlucht, an der die Felsenwände nur etwa drei Meter auseinander sind – da hat es nun richtig viele Leute. Foto ohne geht nicht, aber die Menschen sind als Vergleichsmaßstab ganz nützlich. Ja, hat was!

 

Dahinter wird die Schlucht schnell breiter, niedriger, waldiger. Und es wird deutlich wärmer. Noch eine Holzbrücke und zwanzig Minuten, und ich bin am offiziellen Schluchtausgang kurz vor dem alten Dorf Roumeli – oder was davon übrig ist. Etwa viereinhalb Stunden nachdem ich bei Xyloskala die Tour begonnen habe. Zur Belohnung gibt es die zweite Dose Cola, immer noch schön kühl aus meiner Kastellorizo-Minikühlbox. Die Griechin ist auch zufrieden, sie war etwa im gleichen Tempo unterwegs. Nun sollen die beiden gnaden-, da schattenlosen Kilometer bis Agia Roumeli kommen. Wer es nicht weiter schafft kann ab hier einen Bus nehmen. Kommt nicht in Frage, und ist auch nicht nötig – es läuft immer noch super. Ich könnte noch viel weiter, hatte mich auf länger eingestellt.

 

Ein Hubschrauber fliegt über die Schlucht - hat ein Wanderer gesundheitliche Probleme und wird aus der Schlucht geholt, oder ist es nur ein Rundflug? Aufpassen sollte man dennoch in der Schlucht, und sich vorher fragen ob man auch trainiert genug ist für die Tour. Ein Spaziergang ist die nämlich nicht, auch wenn sie mir überraschend leicht fiel!

Die hübsche Kapelle Agia Triada lasse ich links liegen, oben in der Felsenwand gibt es noch eine Höhlenkapelle, dreieckig mauert sie ein Felsenloch zu. Rechts vorne liegt das türkische Kastell, von hier führt ein Weg hinauf. Wenn nicht das nahe Meer so locken würde, würde ich noch einen Abstecher hinauf machen. Später vielleicht. Dann, gegen halb zwei Uhr, erreiche ich Agia Roumeli und starte gleich zum Strand durch, Taverne ist später. Die „Daskalogiannis“ liegt schon am Anleger und reißt die Klappe auf.

Vier Stunden hab ich nun bis zur Abfahrt des Bootes (wobei ich die „Samaria“ nehmen werde, die „Daskalogiannis fährt nach Sfakia).

 

Die Zahl der Leute, die sich in Agia Roumeli aufhalten, ist noch überschaubar. In den nächsten Stunden wird ein kontinuierlicher Fluss von Wanderern durch das Dorf ziehen und die überdimensionierten Tavernen füllen.

Der graue Kieselstrand ist von der Sonne schon auf heftige Temperaturen angeheizt, ich beschließe, in meiner verschwitzen Unterwäsche ins Wasser zu hüpfen und danach den trockenen Bikini anzuziehen. Das türkisgrüne Wasser ist ein Traum, Wellen hat es auch keine – selten hat ein Bad im Meer so gut getan. Das Sonnenbad wird zum Sonnengrill, lange halte ich es an dem schattenlosen Strand nicht aus. Ich könnte mir ja Liege und Sonnenschirm zur Belohnung gönnen, aber das wäre mir schnell auch zu heiß.

Da kommt die Fähre „Samaria“ von Sfakia.

Ein wenig Abhängen bei einem Frappé in einer Taverne, immer noch drei Stunden Zeit. Agia Roumeli entwickelt sich mit steigender Sonne und Tagestemperaturen mehr und mehr zu einem Backofen, kein kühles Lüftchen sorgt für Erfrischung. Mein Fährticket erstehe ich am Schalter mitten im Ort, niemand will hier einen Namen wissen. 7,70 Euro bezahle ich.

Ich suche und finde die Dreiradruine, die am östlichen Ortsrand einigen Schafen als Schatten- und Heuspender dient. Beim „Campingplatz“ (der keiner ist) setze ich mich in den Schatten eines Baumes und gucke aufs Meer. Gavdos ist ganz nahe heute, das Meer glatt.

Mir geht es gut, ich bin stolz auf mich, und immer noch euphorisiert. Da stört mich auch eine SMS nicht, wieder eine Inselvollzugsmeldung. Muss wohl alleine sein, das ist das Traurige beim Alleinreisen: niemand, mit dem man das Erlebnis unmittelbar teilen kann.…

 

Nur dieses heiße Roumeli schafft mich – schlimmer als die Schlucht! Zur Türkenburg will ich nun natürlich nicht noch hinauf, von Agia Roumeli ist der Weg viel steiler als von Palea Agia Roumeli. Schattenlos sowieso. Also wieder in eine Taverne, Kaltgetränk und Tsatsiki, lecker. An den Nachbartischen spricht man Deutsch und Österreichisch, redet über Kos und Kreta. Eine Gruppe wartet auf Nachzügler, die Reiseleiterin verteilt Tickets und Anweisungen.

 

Ich schlappe vor zu Anleger, wo es schon vielen Leuten ähnlich geht wie mir – keine Lust mehr auf Roumeli. Setze mich in den Schatten einer Mauer und beobachte. Kurz nach fünf Uhr dürfen die Passagiere dann schon auf die Schiffe, das ist nett. Deutlich mehr gehen nach Sfakia, aber doch auch viele nach Sougia und Paleochora. So voll wie vor zwei Jahren sind beide Schiffe aber nicht.

Pünktlich um halb sechs gehen die Klappen hoch, legen die Fähren ab. Ich bleibe auf der Landseite, freue mich auf die Fahrt entlang der mir noch unbekannten Küste.

Agia Roumeli bleibt ausgestorben zurück. Der Strand wird von steiler Küste abgelöst. Kleine Strände hat es da zwischendrin, nur mit dem Boot zu erreichen. Andere mit waghalsigen Wanderungen.

Bienenstöcke – von was leben die Bienen hier denn? Oder nur leere, subventionierte Kästen? Ein Berggipfel über der Samaria-Schlucht. Kleine Schluchten, Kapellen am Rande. Tierähnliche Felsen im Meer. Diese schöne Küste im Abendlicht.

Sougia in Sicht schließlich, noch eine Viertelstunde. Fünf Busse stehen heute da, mindestens. Rekord der letzten Tage.

Kurz vor halb sieben legt die „Samaria“ an, viele verlassen mit mir das Schiff, besteigen zügig die wartenden Busse. Die Mutter wartet. Es war sehr heiß heute auch in Sougia, sie hat dem Tag weitgehend im kühlen Zimmer verbracht. Die Samaria-Tour hätte sie sicher auch gut geschafft. Na, wir haben ja noch die Aradena-Schlucht auf dem Programm, da ist sie ganz wild drauf seit sie vor zwei Jahren von der Brücke hineingeguckt hat.

Die „Samaria“ legt schon wieder ab, weiter nach Westen. Morgen fahren wir wieder mit ihr, nach Sfakia.

 

Am Abend wieder die Lokalwahlqual. Ich würde gerne noch das „Livikon“ ausprobieren, die Mutter will lieber ins „Rebetiko“. Sie gewinnt.

Das Essen ist wieder so gut. Schrieb ich schon, dass man in Sougia bestens essen kann? Natürlich wieder Tsikudia aufs Haus, und Kuchen.

Wenn nicht Sfakia und die Aradena so locken würden… und liebe Bekannte… wir würden noch bleiben.