Zu fünft quetschen wir uns in Ws. kleinen Mietwagen – nicht bequem, aber es geht. An der Tankstelle Richtung Komitades muss W. das Auto erst mal mit einem Schlauch abspritzen – vor allem die Windschutzscheibe ist total eingedreckt. Dem dort angeketteten Hund gefällt das nicht, deshalb bekommt er doch auch einen Wasserstrahl ab, nur zu Erfrischung natürlich.
Eine Ikonostase der besonderen Art ziert eine der Kurven hinauf auf die Askifou-Hochebene: ein Motorradhelm auf einem Pfosten. Und reichlich Autoschrott abseits der Straße. Schön der Blick nach Komitades, ob wir es heute Abend noch in eine bestimmte Taverne dort schaffen?
Die Tunnels, die vor zwei Jahren im Bau waren und zu waghalsigen Ausweichmanövern der Fahrzeuge führten, sind inzwischen fertig. W. will dort altes Brot an Ziegen verfüttern. Nur dass da inzwischen schon grüne Haare drauf wachsen… Einmal dran schnuppern, dann erntet W. vorwurfsvolle Ziegenblicke: „Du willst uns wohl vergiften? Das kannst du selber fressen!“
Oben auf der Askifou-Hochebene biegen wir rechts ab nach Asfendou. Gelegenheit, ein typisch zerschossenes kretisches Verkehrsschild zu fotografieren – statt vor Steinschlag wird nun vor scharfen Schüssen gewarnt. Der Himmel ist immer noch grau, passend zur steinernen Einöde, in der wir uns emporschrauben. Plötzlich sehen wir direkt rechts von uns leicht über Straßenhöhe einen Geier fliegen. Vollbremsung. Schnell steigt der Geier, von der Thermik begünstigt, in die Höhe, so dass ich nicht erkenne kann ob es sich um einen Bart- (dunkler Kopf) oder einen Gänsegeier (heller Kopf) handelt.
Ein paar Meter weiter eine Schäferidylle – ohne Schäfer: eine Herde Schafe liegt unter einem Baum, sie lassen sich auch von uns nicht stören. W. kennt sowieso jedes kretisches Schaf im Nomos mit zweitem Vornamen, seine Sammlung mit Schaffotos muss er aber auch laufend ergänzen, folglich Fotostopp.
Den nächsten geplanten Halt gibt es in Kallikratis. Das ist ein eher zerstreut liegendes Dorf auf 750 Meter über Meer, das zuletzt dadurch in die Schlagzeilen kam weil es dort kein Wasser gibt – die Einwohner müssen ihr Wasser in Tanks in den Orten an der Küste holen. Deshalb gab es im Sommer 2010 eine Petition der Einwohner um das Wasserproblem zu lösen, hier nachzulesen. Und deshalb will W. hier eine ausgediente Zisterne fotografieren, und wir halten an.
Die steingraue Kirche mit ihrem verzierten Glockenturm gefällt mir sehr gut, in der Fassade gibt es – bisher in Griechenland selten gesehen - eine Sonnenuhr, und in der Kirche kann ich dann auch endlich meine Kerzen anzünden (am Morgen in Sfakia war zwar die Kapelle an der Bushaltestelle offen gewesen und ich hatte auch zwei Kerzen anzünden wollen, mangels Feuer - Nichtraucher, und keine Streichhölzer oder Feuerzeuge zu finden - blieben die Kerzen aber unangezündet).
Weiter geht die Fahrt nach Miriokefala (interessante Ikonostastia an den Ortsenden), wo vor der Käserei gerade einige Laibe Käse abgekärchert werden. Sieht irgendwie kriegerisch aus, was vermutlich auch am militaristischen Outfit des Kärchernden liegt. Wie der Käse wohl schmeckt?
Der Blick reicht von hier zu den kahlen Felsenhängen, vor denen das Dorf (oder ist es schon eine Stadt?) Asi Gonia liegt. Dort werden wir nachher noch hinkommen, sagt W., der die Route für heute ausgearbeitet hat. Bequem für uns, nur dass ich überhaupt nicht darauf vorbereitet bin, wo wir überhaupt hinkommen werden.
Lappa, oder heute Argiroupoli ist unser Tagesziel. Die Stadt der Avocados und des Wassers. Unglaublich grün und üppig präsentiert sich hier alles, Brunnen, Teiche mit Enten, Wasserleitungen, Wasserräder, man fühlt sich auf einmal in einer anderen Welt. Also plötzlich der „STS Train“, ein Gummiadler-Ausflugszug aus Georgioupoli vor uns steht, kriege ich zusätzlich noch einen Kulturschock. Upps, so nahe sind wir an den touristischen Orten der Nordküste, die mit den Dörfern des Südens und erst recht den kargen Bergen und Hochebene um Askifou, von wo wir kommen, so gar nicht zu tun haben scheinen.
Das Wasser soll man hier nicht verschmutzen, denn es versorgt Georgioupoli und Rethymno. Und in Kallikratis auf der anderen Bergseite haben sie kein Wasser – die Güter der Welt sind manchmal sehr ungerecht verteilt.
Inzwischen sind wir ganz schön hungrig geworden, und kehren in einem großen Restaurant ein, das sich über mehrere Terrasse, getrennt von Wasserleitungen und Wasserfällen (ganz schön laut, die Teile!) im Schatten üppigster Vegetation befindet. Auf der Speisekarte steht Kokoretsi, seit einem österlichen Mahl auf Paros haben wir das nicht mehr gehabt. Ich nehme aber lieber Kolokithokeftedes, meine griechische Lieblingsspeise, und das ist auch gut so, denn die Kokoretsisportion ist derart üppig, dass die Mutter sie alleine nicht schafft (dito W. und U.). Trocken ist der Innereienspieß leider auch, wir packen die Reste ein für einen potentiellen hungrigen Hund.
Von der Taverne noch ein klitzekleiner Verdauungsspaziergang zu einer Kapelle, die mich wegen ihre Bauweise an die Provence erinnert. Eine antike Säulentrommel steht links des Einganges, macht sich dekorativ. Lappa war bei den Griechen und auch später bei den Römern eine wichtige Siedlung, man könnte sich hier stundenlang etwas ansehen, aber der Tag ist schon fortgeschritten. Schnell noch ein Foto von den braun-violette Bananenblüten, die schon fast obszön aus den grünen Bäumen hängen.
Über Asi Gonia, Widerstandsnest gegen die Türken und Deutschen – entsprechende Büsten der Freiheitskämpfer zieren den Platz - fahren wir wieder hinauf durch steinig-öde Gegend nach Kallikratis.
Durchqueren nochmals eine Schafherde, die die Brotreste vom Mittagessen bekommt, sich aber bei unseren Brot-werfenden-Gesten erst mal in Sicherheit bringt. Kaum sitzen wir im Auto, kommen die Tiere ganz schnell angerannt.
W. und U. wollen in Kallikratis Honig kaufen und auf einen Abstecher im Kafenio vorbeigucken. So kehren wir nacheinander in zwei Kafenia ein, die nur wenige hundert Meter auseinanderliegen.
Im ersten in Pipilida gibt es den Honig und was zu trinken, dort befindet sich auch ein Mahnmal für die Opfer des Zweiten Weltkriegs, als die deutschen Besatzer unter dem Jagdkommando Schubert hier am 8. Oktober 1943 etwa 30 Menschen hinrichteten (s. Kreta-Wiki -> Kallikratis) und die Häuser abbrannten. Davon erzählen auch Ariadni und Nikitas im zweiten Kafenio. Ich fühle mich beklommen, und bedauere, nicht annähernd genug Griechisch zu verstehen um mich mit Ariadni unterhalten zu können. Natürlich spendiert sie uns Raki, W. als Fahrer bekommt nun aber keinen mehr, denn nachher müssen wir die wilde Serpentinenstraße zur Küste hinunter.
Auch das Alltagsleben ist hier sehr hart, es gibt ja kein Wasser. Im Winter treibt man die Schafherden hinunter an Meer, zieht ihnen nach, in einem Tagesmarsch zu Fuß, der am frühen Morgen beginnt. Wie anders ist doch Kreta abseits, und wie wenig ahnen wir Reisenden davon….
Wir müssen uns beeilen, es wird bald dunkel! Im letzten Tageslicht fahren wir die Serpentinenstrecke hinab nach Patsianos, die erst seit wenigen Jahren asphaltiert ist. Ich hab ja schon einige wilde Kurvenstraßen gesehen und bin sie auch selbst gefahren, aber die hier gehört schon zu den heftigsten. Die Mutter kann gar nicht hinabsehen. Als W. auch noch rückwärts fährt, um eine Ziege zu fotografieren, ertönt vierstimmiger Protest aus dem Wageninneren. Zum unserem Glück entzieht sich die Ziege ihrem drohenden Foto und wir uns damit dem drohenden Absturz.
Ursprünglich war geplant, zum Schluss nach Frangokastello zu fahren und dort zu Abend zu essen. Aber es ist schon dunkel, und satt sind wir auch noch vom späten Mittagessen. So komme ich auch in diesem Urlaub nicht nach Frangokastello, und ein Halt in Komitades bei A. und G. bleibt auf der Strecke. Man kann nicht alles haben, und der Tag war überreich an Gesehenem. Herzlichen Dank an U. und W.!
Wir sitzen noch lange bis in die Nacht in Chora Sfakio im Café von Despina bei einem oder zwei Glas Wein. Unser letzter Abend hier am Rande der Weißen Berge. S. hat es besser, vor ihr liegen noch zwei Wochen Urlaub, und U. und W. als Teilzeitresidenten sowieso. Vermutlich wird es länger dauern bis wir hier wieder herkommen, weil es ja so viele andere verlockende Inselziele gibt.
Aber kommen möchten wir immer wieder.
Morgen fahren wir um elf Uhr mit dem Bus bis Vrissi, steigen dort nach halbstündiger Wartezeit um in den Bus nach Iraklio, wo wir am frühen Nachmittag eintreffen werden, gerade noch ein Zimmer im Hotel Lena ergattern werden, und durch Iraklio bummeln werden. Das Abendessen im Aυλη του Δευκαλιωνα wird wie immer gut und preiswert sein, und die Nacht im Hotel dank startender Flugzeuge laut. Auch am Flughafen in Iraklio wird sich nicht wirklich etwas geändert haben, Gedrängel und Hektik.
Der Flug über die Ägäis wird Blicke auf Santorin, Folegandros, Milos und Serifos offenbaren, später auf Piräus und Salamina. Die kroatische Adria entlang werde ich Dubrovnik ausmachen können, und Split.
Vor dem Landeanflug auf Stuttgart wird der Pilot über unserem Heimatort eine Extrarunde um die Stiftskirche drehen. Alles scheint unverändert, und wir haben so viel gesehen in den letzten zwei Wochen… Kythira und Kreta – unvergesslich!
In Erinnerung an Ursel.
Wir werden dich nie vergessen.
Oktober 2011