Von Kabiren und Mördern

Am Sonntag leihe ich bei Kyrkos einen weißen, noch recht neuen Citroën C3 für drei Tage. Theo hatte darauf bestanden, nicht den kleinsten Wagen zu nehmen, und ich kann den ursprünglichen Preis von 35 auf 30 Euro am Tag herunterhandeln, da wir den Wagen für mehrere Tage mieten werden.

 

Verwundert konstatiere ich auf dem Weg zum Verleiher an der Paralia eine lange Menschenschlange vor einem Büro neben der Piräus-Bank. Ein Impfaktion in der Bankfiliale? Aber nein, da liege ich falsch: das sind alles ungeimpfte Reisewillige, die für die Rückkehr mit der Fähre am Mittag oder Abend einen (negativen) Schnelltest benötigen, den sie dort machen können. Kann aber dauern. Was bin ich froh, dass mir als Doppeltgeimpfter so ein Aufwand erspart bleibt, der das Urlaubsgefühl doch recht einschränken würde ...

 

Die einzige Tankstelle der Insel liegt oberhalb von Kamariotissa, auf dem Weg nach Chora. Wir lassen Benzin für zwanzig Euro einfüllen, das müsste erst mal reichen. Samothraki hat knapp 60 Kilometer befestigte Straße.

Unser erster Weg führt aber nicht weiter hinauf nach Chora, sondern entlang der Nordküste, nach Paläópolis (auch Paleopolis, Palaiopolis), das etwa sechs Kilometer entfernt von Kamariotissa oberhalb der Nordküste liegt. Dort befindet sich die wichtigste archäologische Stätte Samothrakis, das Kabirenheiligtum. Kabiren? Vorher nie gehört, klingt aber gut. Mysteriös. Sagenumwoben. Weil ich den Limnos-Text schon vorher geschrieben habe, und es auch dort ein Kabirenheiligtum gibt, möchte ich mich nicht wiederholen. Also bitte hier nachlesen (und dann hierher zurückkommen :-) ).

 

Das Wetter ist sonnig, aber nicht übermäßig warm. Wir stellen das Auto am Parkplatz rechts der Straße ab, wo auch eine kleine Kapelle der Agia Paraskevi steht. Wo geht es nun hin zur Ausgrabung? Rechts führt ein gepflasterter Weg leicht aufwärts in den lichten Wald, wir folgen ihm und stehen nach wenigen Metern vor einer Terrasse mit einem kleinen Museum. Von dort geht ein weiterer, etwas schmalerer und steilerer Pflasterweg aufwärts zum Ausgrabungsgelände. Zu steil für Theo, er verweigert und bleibt lieber an der Küste. Ich soll mir aber Zeit lassen. Das werde ich tun.

 

Oben am Eingang steht ein Tickethäuschen, aber der Eintritt ist heute frei: das letzte Septemberwochenende ist Tag des europäischen Welterbes (zumindest in Griechenland). Sonst hätte ich drei Euro bezahlt.  

 

Die nächste Stunde verliere ich mich in dem weitläufigen Gelände. Es zieht sich unter lichten Bäumen in mehreren Ebenen den Hang hinauf. Ganz unten befindet sich in einem Meer verteilter antiker Bauteile der Tempel der "Großen Götter", das Hiéron, von dem man fünf weiße Säulen wieder aufgerichtet hat. Der Berg Saos im Hintergrund bildet eine tolle Kulisse.

Dahinter liegen die Fundamente eines Rundbaus. Zwanzig Meter maß das Gebäude im Durchmesser und war damit bis zum Bau des Pantheon in Rom der größte Rundbau der Antike, der nach seiner Stifterin Arsinoi "Arsinoeion" genannt wird. Vermutlich diente es als Opferplatz und wurde auf den Fundamenten eines früheren Heiligtums gebaut. Die sogenannte "heilige Straße" führt von dort auf eine höhere Terrasse mit einem kleine, halbrunden Gebäude mit Zuschauerrängen. Weitere Gebäude, die im Initiationsritus der "Großen Götter" einen Rolle spielten, schließen sich an. An der höchsten Stelle stand das Ptolemaion, auch es benannt nach seinem Erbauer Ptolemaios II.

In einer Schleife um eine Nekropole  steige ich wieder abwärts in den südlichen Bereich. Hier, in den unscheinbaren Fundamenten eines Gebäudes mit quadratischem Grundriss - wohl ein Brunnen - wurden 1863 vom französische Vizekonsul im Osmanischen Reich, Charles Champoiseau, die Fragmente der weltbekannte Statue der Siegesgöttin Nike gefunden, die den Namen der Insel Samothrake weit über die Grenzen Griechenlands hinaus bekannt machte und immer noch macht. Die Suche nach Kopf und Arme blieb erfolglos, und so steht die zusammengesetzte Statue kopflos im Louvre, so wie auch ihre "Schwester", die Venus von Milos (sie immerhin mit Kopf). Allerdings ist mir nichts bekannt von Restitutionsforderungen der Griechen bezüglich der Nike.

Westlich erstreckte sich die lange Stoa, die Säulenhalle, und nördlich weitere, zum Teile spätere Gebäude, deren Fundamente sichtbar sind.

 

Insgesamt eine sehr eindrucksvolle Ausgrabung, die auch durch ihre schöne Lage besticht. Über einen Stunde hat mein Gang durch das Gelände gedauert, und Theo muss noch länger warten, da ich auch das kleine Museum besuchen möchte. Nach Vorzeigen meines digitalen Impfzertifikates darf ich hinein, bin aber schnell fertig, denn nur zwei kleine Räume  sind geöffnet. Am interessantesten ist die Videopräsentation eines animierten Spazierganges durch das Gelände. Wäre eventuell vor dem Besuch besser gewesen, ergänzt aber so gut das Gesehene.

 

Um Viertel vor eins bin ich wieder unten an der Straße, wo Theo sich so lange den Gattelusi-Türmen angenähert hat, die etwas östlich oberhalb der Straße stehen. Früher war hier der Hafen der Insel mit angrenzender Stadt, und der Apostel Paulus soll hier zum ersten Mal europäischen Boden betreten haben. Die Türme wurden aber erst viel später, im 15. Jahrhundert, von der genuesischen Familie der Gattelusio (auch Gateluzzi) erbaut, die damals auf Samothraki herrschte und von den Türmen aus das Meer Richtung Norden überwachen konnte. Auch in der Chora haben sie eine Burg erbaut, aber die werden wir uns erst übermorgen ansehen.

Wir streben nun weiter ostwärts. Auf Samothraki gibt es nur wenige Straßen. Die Hauptstraße ist die Küstenstraße, die aber nicht ganz um die Insel herumführt, sondern im Südosten von den Bergen unterbrochen wird. Von dieser Küstenstraße führen einige Stichstraßen ins Inselinnere, etwa nach Chora (hier hat es sogar mehrere Zufahrten), Karyotes und Therma. Wir lassen Therma (auch Loutra genannt) aber heute links (vielmehr rechts) liegen und fahren nach Ano Meria im Inselosten, wohin ebenfalls von der Küste eine Straße hoch führt. In der Streusiedlung soll es eine Taverne geben, wo wir zu Mittag essen wollen, aber die Straße wird zu schlecht, und der zentrumslose Ort sieht ziemlich verlassen aus. Also drehen wir um und parken im herbstlich gefärbten Wald am Beginn der Wanderung zu den Fonias-Wasserfällen. Ein paar Autos stehen hier, es wird also nicht ganz einsam. Gegenüber ist eine Taverne und an der Küste außerdem der Fonias-Turm, und so findet Theo Beschäftigung und Nahrung, während ich den Bachbett zum Fonias-Wasserfall hochsteige. Ich war skeptisch, ob der Bach und damit auch der Wasserfall im Herbst noch Wasser führen würde, aber nahe dem Parkplatz plätschert es munter über die hellen Kieselsteine. Müsste für Wasserfälle reichen.

 

Der Bach Fonias (= Mörder) bildet, von den Saos-Bergen kommend, drei Wasserfälle mit mehr oder weniger großen Becken (vathra/Plural vathres), in denen man sogar plantschen kann. Der unterste, "Fonias" genannt,  ist nun mein Ziel, geschätzt eine Dreiviertelstunde Fußweg entlang dem Bachbett im wunderschönen Platanen- und Eichenwald.

 

Gleich am Anfang muss man über eine kurze Felsenplatte, hier wurde sogar ein Seil gespannt um die Querung zu erleichtern. Auch wenn der Weg nur wenig Höhenmeter ansteigt, muss man doch immer wieder über Stock und Stein, er ist also weder senioren- noch kinderwagengerecht.

Der Wald und die Farne am Boden haben schon eine leicht goldene, herbstliche Färbung. Der Bach flüstert munter über die Steine, einmal muss man ihn überqueren.

 

Das Tal wird dann enger und die Wände steiler, und am Ende stürzt der Fonias-Wasserfall 15 Meter tief in ein großes, von Steilwänden gebildetes Becken und füllt es mit grünem Wasser. Um die Kaskade richtig gut zu sehen, muss man rechts neben ihr einen steilen und glatten Felsen hinaufklettern. Ein Schild erinnert an einen hier 2002 tödlich verunglückten jungen Mann. Ab hier, so warnt mein MM-Reiseführer, solle man vorsichtig sein und natürlich festes und geeignetes Schuhwerk tragen. Was wohl nicht alle Besucher tun, weshalb es immer wieder zu Unfällen komme.

Ich will auch gar nicht weiter, setze mich an den Rand des Felsens oberhalb des Falles und genieße die Aussicht auf den Wasserfall und sinniere über seinen Namen "Mörder". Ein Touristenpaar kommt von oben, sie sehr vorsichtig auf den rutschigen Felsen. Hat aber auch nur Turnschuhe an - da tun mir schon vom Zugucken die Füße weh.

Dann kommt eine Gruppe junger Griechen von unten, steigt hinter mir vorbei aufwärts. Mhh, vielleicht sollte ich doch noch bis zum nächsten Wasserfall gehen? Ich folge ihnen mit etwas Abstand, habe längst meinen Wanderstock ausgepackt, der mir an der nun folgenden steilen und über glatte Felsen führenden Passage Halt und Unterstützung gibt. Etwas später gabelt sich der Weg: rechts geht es zum Kleidosi-Wasserfall,  zwei Stunden ab dem Parkplatz werden dafür veranschlagt. Zu weit für mich heute. Also biege ich nach links ab, wo der Weg in wenigen Minuten und verhältnismäßig einfach zum Wasserfall von Gerania führt. Der ist nur klein, führt aber in ein großes, flaches Becken, das im Gegensatz zu dem des Fonias-Falles gut zugänglich ist. Sieht zauberhaft aus!

 

Blöderweise habe ich sowohl meine Badesachen als auch mein Badethermometer vergessen. Ob ich nackig ein Bade nehmen soll? Die griechische Parea habe ich vorhin überholt, aber sie kommen nun von hinten nach. Ich ziehe die Stiefel aus, strecke die Füße ins Wasser. Boah, ist das kalt! Da verzichte ich doch leichten Herzens aufs weitere Eintauchen. Die jungen Griechen - drei Männer, zwei Frauen - sind härter im Nehmen. Und sie haben in kluger Voraussicht schon die Badekleidung unter dem Wanderzeug. Am flachen Ufer des Becken vor einer Felsenwand entledigen sie sich ihrer Klamotten und waten vorsichtig ins kalte Bassin. Die drei Männer plantschen bald fröhlich, während die Frauen sich nach einem zögerlichen und raschen Eintauchen schnell wieder an Land begeben.

 

Inzwischen ist noch ein Schweizer Paar eingetroffen. Wie ich später sehen werde, sind sie mit einem Tandem auf der Insel unterwegs, das sie am Parkplatz abgestellt haben. Auch hier dauert es, bis sie im Wasser sind. Sie kommen vom oberen, vom Kleidosi-Fall, wo man gut baden könne.

 

Aber für mich wird es Zeit zur Rückkehr, es ist schon Viertel vor drei, und ich will Theo ja nicht endlos warten lassen. Meine SMS an ihn, dass ich noch etwas Zeit brauche, ist mangels Empfang nicht rausgegangen.

Abwärts ist die glatte Stelle oberhalb des Fonias-Falles noch tückischer, aber dank Stock und Wanderstiefeln bewältige ich sie rutsch- und unfallfrei. Im Bach kann ich jetzt Wasserfrösche entdecken.

Gegen 16 Uhr bin ich wieder am Parkplatz. Theo sitzt entspannt in der benachbarten Taverne und hat mir die Hälfte einer umfangreichen choriatiki salata übriggelassen, die ich mir hungrig einverleibe. Er hat sich inzwischen den Fonias-Wachturm angesehen, dessen Ruine hier an der Küste an der Mündung des Fonias-Baches steht.

Mir steht der Sinn dagegen noch nach einem schnellen Bad im Meer, und zwar in Kipos, am äußersten Südosten am Ende der am Rand immer wieder abgebrochenen Küstenstraße. Die Ostküste besticht durch karge, nahezu baumlose  Landschaft, das Ufer ist grau eingeschottert. Am Straßenende gibt es eine weite Wendeplatte, an der wir das Auto abstellen und uns umsehen.

 

Das ist hier das Ende der Insel, und irgendwie sieht es auch so aus. Oder ist es paradiesisch? Kipos heißt ja Garten. Das Ufer ist weit und flach-grau-kieslig, es endet an steilen Felsenhängen. Die sanfteren Berghänge über der Straße sind kahl und mit staubbeiger, kaum wadenhoher Frygana überzogen. Dazwischen liegt, schon im Schatten der westlichen Bergausläufer, eine grüne Baumoase, die sich in ein ansteigendes Tal hineinzieht. Davor grasen Schafe in den letzten sonnigen Bereichen. Kein Haus, keine Bewirtschaftung, keine Schirme, alles Natur. Im Osten konturiert sich auf dem Meer klar und blaugrau die türkische Insel Tenedos, auf Türkisch Bozcaada.

Doch, das hat was.

 

Mein Bad im Meer wird zum Wettlauf mit den Sonne, die sich zügig hinter dem Berg entfernt und die Schattenbereiche schnell wachsen lässt. Ein paar andere Badegäste verteilen sich am noch sonnigen Uferstreifen, aber der Abstand ist groß genug um auf Badekleidung verzichten zu können. Um mich anschließend in der Sonne trocken zu lassen, reicht es aber nicht mehr, die Sonne ist weg und es wird schnell kühl. Vielleicht wäre es hier besser am Vormittag.

Auf der Rückfahrt will Theo unbedingt die abgebrochene Straße fotografieren, die sich die Natur peu à peu zurückholt. 2017 etwa bei schweren Unwettern mit Starkregen. Ein Bächlein überspült flach die Straße, sammelt sich in einer der für Samothraki typischen Straßenkuhlen, die man beim Fahren keineswegs unterschätzen sollte: bei zu hoher Geschwindigkeit droht Achsbruch. Jemand hat das Warnschild originell durch eine bombenähnliche Kugel ergänzt. Oder stellt sie eine der faustgroßen Mini-Melonen dar, die sich genau dort in einem Feld zwischen Straße und Strand wie geworfene Boule-Kugeln verlieren? Ob die noch wachsen? Und schmecken?

Zum Sonnenuntergang sind wir zurück in Kamariotissa und ziehen ein positives Fazit des Tages. Das ich mir auch nicht beim Abendessen versauen lasse, das wir im Psitopolio "Sta Karvouna" einnehmen. Zweimal Gyros mit Pommes, dazu Wein. Ich bin hungrig und mir schmeckt's. Theo ist mal wieder weniger zufrieden, und seine Laune wird nicht besser, als ich die Reste der großen Portion an die schnell wachsende Zahl hungriger Katzen verfüttere. Zwanzig Euro werden fällig, und danach brauchen wir noch einen Tsipouro in der Ouzeri gegenüber.

Und in der Heimat war ja heute Bundestagswahl. Es sieht nach einem Wechsel aus.

Und wir wechseln morgen die Inselseite.