Kleftiko

Die halbe Nacht haben zwei Typen sich laut nahe meines Fensters unterhalten. Ich bin zu schüchtern, sie um Ruhe zu bitten, schließe irgendwann genervt das Fenster und schwitze lieber.

 

Aber dafür geht es heute nun wirklich nach Kleftiko. Mit mir im Einer. Die Challenge gestern war die Bewährungsprobe, ich habe sie gemeistert. Juhu!

Unsere Gruppe ist weiter gewachsen: um David, einen älteren Engländer. Ich bin tief im Urlaubsmodus und reiche ihm die Hand zur Begrüßung. Er erfasst sie erst und schreckt dann zurück. Seine entspannte und langsam wirkende, aber trotzdem effektive Paddeltechnik wird mich unterwegs beeindrucken. Neu bei Petrinela sind auch drei Däninnen, die sich aber entgegen meinen bisherigen Erfahrungen mit Menschen dieser Nationalität eher abweisend verhalten und lieber für sich bleiben. Kein Problem. Vielleicht müssen sie sich auch erst akklimatisieren. Als Tagesgäste ist ein junges Paar unklarer Herkunft dabei, der Mann spricht Deutsch, die Frau nicht. Sie fahren im Doppel. Wir sind also eine richtig große Gruppe heute mit 15 Personen in 14 Kajaks, und so fahren heute zwei gleich Trailer nach Psathi an der Südküste hinter Kypos, wo der Trip beginnen wird. Der Wind hat sich weitgehend gelegt, der Himmel ist wolkenlos. Ein perfekter Tag.

Der kleine Strand dort ist steinig, es ist mühsam, die Kajaks zu Wasser zu bringen. Aber wenn so viele Leute mitanpacken, geht das schnell. Um Viertel vor elf sind alle im oder besser: auf dem Wasser, Kurs dieses Mal westwärts.

Die Küste ist hier nicht so spektakulär gefärbt wie im Osten, und auch nicht so hoch. Aber dafür gibt es viele Höhlen und Tunnels zu erpaddeln. Ein besonders große Höhle liegt westlich von Katergo.

Ein Eleonorenfalke zieht seine Kreis über uns.

Dann färbt sich die vertikale Küste in Kreideweiß, das schön mit den schwarzbrauen Felsbrocken kontrastiert, die den Ufersaum bilden. Es ist so schön.

 

Die erste Pause machen wir am Strand von Gerontas. Dieter übt die Rolle und macht die Bugfigur bei Lynne bevor er die zweite Hälfte der Kenterrolle mit Einstieg unter Wasser praktiziert. So ein fortgeschrittener Anfänger wäre ich auch gerne.

Danach lässt sich Lynne von einer der Däninnen eine spezielle Art des Wet Entry zeigen, bei der das gekenterte Kajak auf ein zweites gezogen und festgehalten wird und dann der Einstieg erfolgt. Sieht wackelig aus, ist es aber wohl nicht. Ich könnte ja auch etwas den Wet Entry üben, das habe ich diesen Urlaub noch gar nicht gemacht. Aber heute muss ich meine Körner sparen.

Kekse und Pasteli als Snack füllen erst mal die Reserven auf.

Wieder auf dem Wasser geht es unter dem filigranen weißen Felsenbogen mit schwarzem Dach durch, der direkt westlich von Gerontas liegt. Weiter unter der verwaisten Verladestelle des großen Pozzolan-Tagebaues durch, vorbei an den gigantischen Bojen für die Frachter.

 

Der Bootsverkehr nimmt zu: große und kleine Ausflugsboote überholen uns , Segelboote und Yachten. Wir nähern uns Kleftiko. Noch durch einen Tunnel, und als wir am anderen Ende wieder an Tageslicht kommen, befinden wir uns in der ersten der vier weißen Felsenbuchten.

 

Ein Wow-Erlebnis, auch wenn man nicht zum ersten Mal hier ist!

Die kreidehellen, hohen Felsenwände, das reflektierende klare Meer, die Buchten und der in der dritten Bucht liegende Doppelfelsenturm, dem man zwischen "tunneln" kann. Was für ein Vergnügen, hier seine Schleifen zu ziehen und durch labyrinthisch anmutende Tunnels zu kurven. Was sind wir doch für Glückskinder!

 

Es ist heute ganz schön Betrieb hier: dominiert wird Kleftiko von der 95-Meter-Yacht "O'Pari", die man für eine Woche mal eben für eine schlappe Million chartern kann. Ohne Spesen natürlich, und Dario merkt trocken an, dass da schon alleine eine Tankfüllung 40.000 Euro kostet. Gut, da bezahlt man für einen Tag in Kleftiko 143.000 Euro - sicher eine der teuersten Arten, diese wunderschöne Ecke zu erleben.

Preiswerter geht es als Tagesausflug, ob nun mit dem Segelboot, Katamaran oder Mini-Motorboot. Die kleineren Schiffe können auch tiefer in die Bucht hinein, laden ihre Fracht in Schlauchboote und karren sie durch Felsenbögen. Vorsicht, Schwimmer haben Vorfahrt! Und die Bootsleinen nicht übersehen!

 

Rod gibt einen schmalen Sandstrand im Schatten des Steilfelsens der dritten Bucht als Platz für den Lunch an, aber wir sollen jetzt zuerst einfach mal noch Kleftiko im Kajak erkunden wenn wir möchten. Na, das machen wir doch gerne, und sind erstaunt, wie weitläufig die früheren Seeräuberverstecke sind.

Das letzte Mal haben wir auf einem flachen Felsen am Kanal der westlichsten Bucht pausiert, schattenlos und glitschig im Ausstieg. Warum wir damals nicht auch auf dem Sandstrand Rast gemacht hätten, frage ich Rod, der inzwischen die unvermeidliche Tischplatte aus einem Versteck geholt und auf sein Kajak geladen hat um sie zum Strand zu transportieren. Der Strand sei nicht immer da, ist die verblüffende Antwort. Die Modellierung der Landschaft hier ist nie abgeschlossen. Hoffentlich fallen keine Steinbrocken hinab.

 

Als sich alle müde geguckt und gepaddelt haben, ziehen sie die Kajaks an Land. Immer wieder ein hübsches Bild, die bunten Kajaks nebeneinander. Und hier besonders. Ich würde auch mit dem Charterer der "O'Pari" nicht tauschen wollen. Zumindest nicht jetzt im Moment. :-)

 

Während wir uns am Lunch stärken, legt erst die "O'Pari" ab, und allmählich folgen ihr die meisten Ausflugsschiffe. Es wird stiller in der Bucht.

Danach folgen die obligatorischen Rollen-Übungen - manche bekommen gar nicht genug davon, kopfüber im Wasser zu hängen.

Um Viertel nach drei machen wir uns dann auf den langen Rückweg. Roy bringt aber erst seine Drohne an den Start und wir bekommen den Auftrag, wild durch Kleftiko zu paddeln um ein paar schöne Bilder abzugeben. Das klappt leidlich, hier Roys Film.

 

Das Meer liegt jetzt sehr ruhig da, wir bleiben zunächst nahe der Küste. Als einige Paddler durch einen schmalen Felsenkanal fahren, glaube ich ihnen folgen zu müssen. Allerdings muss man direkt nach der Passage eine schnelle Rechtskurve drehen um nicht auf den Felsen festzusitzen. David fährt vor mir und ich sehe das zu spät und bleibe prompt auf dem Felsen hängen. Nur kurz, mit etwas Geruckel kann ich mich losmachen. Aber da ist die Truppe schon auf und davon und ich habe alle Paddel voll zu tun um den Anschluss nicht zu verlieren. Hey, könnt ihr nicht mal warten? Keine Spur, nur Lynne ist noch in meiner Nähe. Und dann platzt noch die Blase an meiner rechten Hand, das Meerwasser darin brennt heftig. Egal, dranbleiben! Nur die Harten kommen in den Garten.

Erst auf der Höhe der Verladestelle von Gerontas bremst Rod die entfesselt scheinenden Paddler und ich kann aufschließen. Danke, warum nicht früher?

 

Der Rückweg zieht sich, schon lange kann man unseren Startpunkt bei Psathi erkenne, aber er nähert sich nur langsam. Allmählich bin ich schon etwas k.o. und als Rod kurz vor dem Ziel vorschlägt, dass man noch bis zum nächsten Felsen weiter östlich paddeln könnte, wo es einen Felsenbogen geben würde, da winke ich ab und steuere in Gesellschaft von Roy und Rod das Ufer bei Psathi an. Verpasse so, dass Olivier dort kentert, während sein Freund Fabien es ihm (mal wieder) beim Aussteigen nachtut. Es ist Viertel nach fünf, wir waren wirklich lange unterwegs. 19 Kilometer zeigt Roys Tracking.*

 

Ich bin froh, dass ich das heute geschafft habe, und auch stolz auf mich. Und traurig darüber, dass meine Paddelsaison für dieses Jahr beendet ist. Ich hatte ja im Stillen gehofft, ich hätte nach dem jetzt 14. Paddeltag auf Milos allmählich die Nase voll von diesen Küsten (und Zeit für andere Inseln), aber das Gegenteil ist der Fall: Beim nächsten Mal will ich noch mehr. Die Kombination hier passt einfach: die geniale Vulkanlandschaft, die vielfältigen Paddelmöglichkeiten, der kompetente, immer souverän und Ruhe ausstrahlende Rod, die polyglotten, weltoffenen Mitpaddler, und auch Petrinela und das Kafenio.

Es tut mir leid, dass ich Milos morgen verlassen werde.

Woran auch die nette Parea mit Roy, Lynne, Barbara, Dieter, Fabien, Olivier und Dario mit schuld ist. Beim Après-Kayak-Getränk im Kafenio Perros haben wir viel Spaß als Darios Freundin Abbey erzählt, wie sie und Dario sich auf Malta kennengelernt haben. Und dass Dario Saxofon spielt und sie immer einen Saxofonspieler als Mann haben wollte. Noch mal so jung sein und voller Träume.

 

Der Sonnenuntergang geht heute komplett an mir vorbei und es wird schon dunkel als ich mich von der Gruppe verabschiede mit der Drohung, dass mein neidischer Geist morgen mit ihnen im Kajak sitzen würde. Lynne fährt mich noch hoch nach Plaka, wo ich mich herzlich von ihr verabschiede und ihr eine gute Heimreise am Samstag und einen guten, virenfreien Winter in Yorkshire in diesen komplizierten Zeiten wünsche. Auf ein Wiedersehen auf Milos, vielleicht.

 

Meine Vermieterin Betty hat sich inzwischen gemeldet. Sie möchte wissen, wann ich denn morgen abreisen würde, da sie das Quartier schon mittags für die nächsten Gäste bezugsfertig machen möchte. Meine Fähre geht erst am 14.30 Uhr, da würde ein späterer Bus gut reichen, aber der um zehn vor Zwölf geht auch, ich hatte eh noch kaum Zeit zum Shoppen in Adamas. So packe ich nach dem Duschen schon mal meine Sachen zusammen eh ich hinab nach Tripiti ins "Ergina" spaziere, wo ich heute eine "Lasana Skopedo" essen - hausgemachte Pasta mit heftiger Knoblauchcreme. Da wird das Abstandhalten für Andere morgen kein Problem sein.

 

*

 

Ich bin schon früh wach, frühstücke zum letzten Mal auf dem schönen Balkon und packe meine Sache vollends zusammen.

Bis Betty um Viertel nach elf kommt, habe ich noch zwei Stunden Zeit, die ich für einen Bummel durch Plaka nutze. Vorbei am archäologischen Museum mit der bunten Café-Bar "Fatses" - die Tische noch so voll mit Gläsern und Tellern wie sie gestern Abend (oder heute früh?) verlassen wurden.

Es ist wieder warm heute, Südwindwetter. Soll ich noch nach Klima hinab? Ich biege in Tripiti Richtung Katakomben ab, nehme dann aber lieber den Weg rechts zum kleinen Profitis Ilias, vorbei am antiken Theater. Dann entlang eines Olivenhains und eines Ackers bis zu einer Mauer. Links entlang führt eine kurze Treppe hinauf auf die Rückseite des Kapellenhügels.

 

Die unscheinbare Kapelle liegt inmitten von mit dicker weiße Farbkruste verhüllten Säulen und marmornen Steinfragmenten und wird auf der Ostseite von einer waagrechten Kiefer eingerahmt. Vorne steht das minimalistisch-filigrane Glockengestell, das einen prima Vordergrund für die davonsegelnden Booten im windgekräuselten preußischblauen Meer gibt. Der Wind hat weiter aufgefrischt und kommt nun mehr von West.

Die Kapelle ist offen und so kann ich mit ein paar Kerzen die gute Weiterreise heraufbeschwören. Wer weiß ob man Kirchen auf Kythnos und Kea auch so mit Gott- und Menschenvertrauen unverschlossen lässt.

Links der Blick hinab nach Klima, rechts zur Nordwestspitze von Milos und weiter zu weißen Häuserkette von Plaka. In der Mulde davor, wo ich letztes Jahr noch vergeblich einen Weg zum kleinen Propheten gesucht habe, entdecke ich ein beschirmtes Areal mit niedrigen Mauern, Schutt- und Steinhaufen, in dem Leute arbeiten. Offenbar eine archäologische Grabung. Ist ja nicht so weit vom antiken Theater und der Fundstätte der Afrodite-Venus von Milos. Das möchte ich mir beim nächsten Milos-Besuch mal von nahem angucken.

 

Vom Kapellenhügel gibt es einen ordentlich freigelegten, teilweise sogar gepflasterten Fußweg, der hinüber nach Plaka führt, unweit der anderen Betty's Studios. In einem Haus sind zwei schwarze Mühlsteine eingemauert, vermutlich aus dem harten vulkanischen Gestein der Mühlstein-Mine am Chondro Vouno im Inselosten. Mit der benachbarten Obsidian-Fundstelle bei Demenagaki steht diese Ecke auch noch auf meiner To-Do-Liste.

Verschwitzt bin ich um elf Uhr wieder im Quartier, springe flugs noch unter die Dusche ehe Betty kommt. Sie hat zur Putzverstärkung ihren Mann mitgebracht, muss ja alles corona-hygienischen Bedingungen genügen. So sind die Handtücher in durchsichtige Plastiktüten verpackt und nicht nur auf den meisten Tavernentischen, sondern auch in jedem Fremdenzimmer steht ein Fläschchen mit Desinfektionsmittel. Corona ist eine ziemliche Umweltsauerei, stelle ich nicht zum ersten Mal fest.

 

Ich bezahle den Rest meiner Zimmermiete (60 Euro waren als Anzahlung fällig), verabschiede mich von Betty, ihrem Mann, ihrem Studio und Plaka und ziehe meinen Trolley auf der Straße hinab zur Bushaltestelle an der Straßenkreuzung gegenüber der Krankenstation.

 

Es ist noch etwas Zeit, und ich komme mit zwei deutschen Touristinnen - Mutter und Tochter - ins Gespräch, die auch auf den Bus warten. Sie sind erst gestern auf Milos angekommen und von ihrer Griechenlandpremiere begeistert. Während der Busfahrt hinab nach Adamas kann ich sie mit reichlich Tipps versorgen und auch gleich noch den Autoverleih Happy Car von Katerina empfehlen.

Dort kehre ich nach dem Fährticketkauf - das Fahrgastformular hab ich mir schon zuhause ausgedruckt und ausgefüllt, bekomme aber trotzdem noch eines - auf ein Schwätzle mit der Namensvetterin ein - es gibt gemeinsame Bekannte in Köln, die sich diesen Herbst nicht auf Flugreisen an die Ägäis getraut haben. Sie sind da in guter Gesellschaft, wie mir Katerina erzählt, viele Stammgäste sind dieses Jahr ausgeblieben. Milos mag zwar sicher sein, aber die Anreise ist doch vielen suspekt.

 

Danach noch ein kleiner Einkaufsbummel - überall werden Masken hochgezogen sowie ich die fast immer leeren Läden betrete. Ein paar Salzkapern wandern in meine Tasche und etwas Proviant.

Die Flotte der Ausflugsboote scheint auch heute noch komplett im Hafen versammelt. Der Wind garantiert keine kotzfreie Ausflugsfahrt, und ich überlege, wo die Kajaker heute wohl unterwegs sein werden. Rod hatte etwas von Emborios gesagt, aber tatsächlich sind sie an der Nordküste ab Mandrakia unterwegs - oneway, denn gegen den nun heftigen wehenden Westwind ist kein Anpaddeln.

 

Zur Stärkung gönne ich mir bei "Angeliki" noch ein Ekmek. Wieder steht der gewünschte Galaktobureko nur auf der Karte, aber nicht auf dem Tisch. Der Himmel hat sich eingegraut und drückt sogar ein paar Tropfen heraus. Irgendwie ein passender Abschied von Milos.

Ich schlendere zum Anleger vor, wo ich im Warteraum mein Gepäck deponiert habe. Die "Dionysios Solomos" mit ihrer charakteristischen Silhouette ist etwas verspätet, erst um zehn vor drei Uhr ist sie in Sichtweite. Eine Schar Maskierter geht von Bord, nicht weniger Maskierte betreten manierlich und auf Abstand bedacht die Fähre. Mein Trolley steht auf Anweisung des Stewards alleine auf weiter Flur im Bauch der Fähre - wer will schon nach Kythnos?

Ich geh aufs Deck und beobachte das Verladen der Trailer. Das dauert, und erst um zwanzig nach drei legt die "Dionysios Solomos" ab. Vier Stunden maskierte Fahrt liegen vor mir, via Sifnos und Serifos. Aber die Wiederkehr nach Milos ist schon in Planung. So weit man sich in diesen Zeiten noch Planen traut.

 

Zuerst aber Kythnos. In die Wehmut über den Abschied mischt sich, wie so oft, die Neugier auf Kommendes.