Frangokastello - unter Schafen

Der Wind pfeift am nächsten Tag ziemlich, aber eigentlich nur die Treppe hinab und durch den Flur, der Theos und mein Zimmer trennt. Komitades ist ein Windloch, hatte Anette erzählt, während in Chora Sfakion die Hitze stehen würde, ginge hier immer ein frisches Lüftchen. Hmm, von der stehenden Hitze träumen wir....

Aber das Wetter ist nicht so schlecht: es hat zwar in der Nacht geregnet, aber jetzt scheint die Sonne.

Und so fahren wir nach dem Frühstück nach Frangokastello, die Wandersachen im Kofferraum.

Frangokastello also, wo ich schon lange hinwollte. Beim letzten Mal sind wir abends, von Kallikratis kommend, durchgefahren, zu sehen war nichts mehr. Und vorletztes Mal haben wir es auch nicht geschafft. Theo ist neugierig zu sehen, wie sich der Ort (wenn man ihn denn als solchen bezeichnen kann) in dreißig Jahren seit seinem letzten Besuch entwickelt hat.

 

Ich werde aber auch die Augen aufsperren, um eventuell einem norddeutschen Winterflüchter aus dem Weg zu gehen, der sich im Januar in Frangokastello einquartiert hat , und dort die Metamorphose vom deutschen Touristen zum Vollzeitkreter vollziehen möchte. Da möchte ich ihn ungern stören, obwohl ich schon neugierig wäre, mir dieses virtuell recht engstirnig wirkende Wesen mal live anzusehen.

 

Durch die verschlossen wirkenden Dörfer Vraskas und Vouvas fahren wir nach Osten und biegen kurz vor Patsianos im spitzen Winkel nach rechts ab. Die Bergkulisse zur Linken, das breite Schwemmland vor uns, zieht sich die Straße schnurgerade durchs Flache. Die Gegend ist locker zersiedelt (immerhin 1.200 Betten soll es hier laut der Website von Hermann geben, aber an der Nordküste schafft das schon alleine ein Großhotel), in loser Reihung stehen Feriendomizile, ein Ortskern ist nicht auszumachen. Nach einer Neunzig-Grad-Kurve nach links geht es dann in dritter Reihe parallel zur Küste. Vorbei an einem Supermarkt (Theo erkennt das Haus daneben als sein damaliges Quartier wieder) steuern wir schließlich auf das Kastell zu, das unbeteiligt wirkend oberhalb einer zum Minihafen ausgebauten Strandlagune steht.

Das Kastell, dessen ursprünglicher Name "Agios Nikitas" war, wurde 1371 von den Venezianern erbaut, der Markuslöwe prangt noch über dem Südtor. Der Name "Frangokastello" als griechische Bezeichnung für eine Burg von Franken = Katholiken, in diesem Falle Venezianern, bürgerte sich später ein. Militärisch wirklich gebraucht wurde die Festung nicht, aber 1828 war sie Schauplatz einer blutigen Episode des griechischen Freiheitskampfes. 600 Griechen unter ihrem Anführer Hatzimichalis Daligiannis kämpften gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Türken, die Hälfte fiel, die andere Hälfte verbarrikadierte sich in der Burg und konnte durch ihr Ausharren schließlich den freien Abzug erstreiten. Die gefallenen Freiheitskämpfer sollen hier seither im Juni als "Drosoulites" (Tauschatten) in der Morgendämmerung umgehen, vermutlich eine Luftspiegelung.

 

Wir finden das Kastell jetzt eher prosaisch, wenngleich optisch durchaus beeindruckend wie es als breiter Riegel vor der dunkeln Bergkette (und im Hintergrund gucken jetzt auch weiße Gipfel der Lefka Ori heraus) und über dem Meer liegt. Es ist natürlich verschlossen, und dass hier im Winter auch Menschen leben könnte, darauf lassen nur die vor dem kleinen Bäckerstand gegenüber des Kastells geparkten und gelegentlich vorbeifahrenden Pickups schließen.

Theo zieht es nach Osten, Richtung Orthi-Ammos-Strand, und ich folge ihm. Viel Strand ist da gerade nicht vor der abgleitenden Steilküste. Aber wir sind ja nicht zum Baden gekommen.

Schön, dass die Sonne scheint. Die Wolkenschatten auf den dem grauen Bergriegel verstärken die Mauerwirkung, das Ausgesetztsein von Frangokastello. Doch immerhin 148 Einwohner hat der "Ort", von dem sich die Dörfer vor der Bergkette zu distanzieren scheinen.

Ich sehe mir dann noch die kleine Kirchenanlage an, die hier links der Straße liegt. Ist das Agios Nikitas? Nein, hier hat es keine Bodenmosaiken. Aber eine hübsche Anlage mit ihrer doppelschiffigen Kirche - ein Schiff oben spitz, das andere geschwungen - , den rotblühenden Tintenfisch-Aloen, den noch käferunversehrten Palmen.

Sie ist Agios Charalambos geweiht.

Theo ist schon wieder zurück zum Kastell, genießt die Sonne bei den Denkmälern für Stratis Deligiannakis und Hatzimichalis Daligiannis. Und vervollständigt die Reihe. Man sollte ihn in Stein meißeln. ;-)

 

Ich will aber unbedingt noch eine Runde um das Kastell drehen. Überquere den schilfbestandenen Flusslauf, hinterlasse meine Fußspuren im fast unberührten Sand des weiten Strandes. Aber es war jemand vor mir da, der Winterflüchter? Nein, eine Frau, die mich am ersten Häuschen am Ende des Strandes anspricht. Wir wären die ersten Touristen des Jahres, sagt sie auf Deutsch, und mein Mann (so so, Theo...) hätte sie so freundlich angelächelt (Theo wird vehement widersprechen, er war wohl nur sonnentrunken). Sie selbst und ihre Freundin seien keine Touristen, sondern Residenten in besagtem Häuschen. Eine offenbar wichtige Abgrenzung. Warum sind viele Leute so ungern Touristen? Ich bin es gerne, denn das heißt, ich kann zu meinem Vergnügen reisen. Gibt es etwas schöneres?

 

Egal, wir beide genießen Leben und Sonne, und ich denke jetzt auch nicht darüber nach wie man hier im Winter Depressionen bekommen kann. Da wäre ich doch lieber in einer lebendigen Stadt mit prallem Leben als in der Einsamkeit der Südküste, Tourist hin, Resident her.

So, und was nun tun mit dem angebrochenen Tag? Anette hatte uns empfohlen, nach Agia Marina zu fahren, und vor dort aus entlang der Küste zu wandern. Und weil wir bisher so wenig zu Fuß unterwegs waren, folgen wir ihrem Ratschlag und fahren ein paar Kilometer ostwärts. Die Wiesen sind unglaublich grün, und die Schafflut darin noch größer als im Norden. Dahinter die Bläue des Meeres: das Farbenspiel kann einen schon überwältigen. In unserem Rücken die düster-zackige Kette der Berge - wow!

 

Wir parken das Auto etwas oberhalb der Küste und gehen auf einer zunächst steinübersäten, später abgebrochenen Piste entlang eines Erosionshanges zum Kiesstrand von Agia Marina. Jenseits eines wasserführenden Bachbettes steht die kleine Kapelle mit einem hübschen Balkenfries, an ihr vorbei führt eine Piste vom Ufer weg. Wir bleiben aber am Strand, der sich mal regennass mit großen Pfützen, mal mit vom Meer geformten skurrilen Felsen präsentiert. Der Blick reicht entlang der Südküste, die Farbe der Berge wechselt mit der Ferne von Braungrau zu Blaugrau, und die Paximadia-Inseln sind auch auszumachen. Sagte ich schon, dass Kreta im Januar schön ist?

Wir begegnen keinem Menschen, dafür unzähligen blaumarkierten Schafe je weiter wir nach Osten gehen. Zwei verlassene Tavernen und ein einsamer Sonnenschirm am Strand lassen auf sommerlichen Betrieb schließen, in der zweiten könnte man sich sogar ein Getränk aus dem Kühlschrank genehmigen, Selbstbedienung, das Geld bitte in die Kasse werfen. Ich rufe, aber es ist niemand da. Wir sind nicht durstig, das Wetter ist ja nicht heiß, auch wenn ich einen leichten Sonnenbrand mein Gesicht spannen spüre. Schnell eincremen!

 

Der Uferweg endet bei einem Felsenriegel, hier müssen wir hinauf und einen widerspenstigen Zaun überwinden, ein totes Schaf rottet daneben vor sich hier. Nichts wie weiter, über die Felsen, viele Wege, keiner eindeutig, aber die Richtung ist klar. Ausgespülte Felsenbuchten, gefüllt vom türkisgrün-milchige Meer. Wieder fliehen Schafe.

Schließlich noch einen Pfad durch Felsen, ein letztes Drahttor, und bei einer Ansammlung ausgedienter Kloschüsseln erreichen wir wieder die Zivilisation in Form einiger blumengeschmückter Ferienquartiere und eines glücklicherweise mäßig interessierten Wachhundes. "Korakas" heißt die Strandsiedlung, und sie ist so verlassen wie die ganze januarliche Südküste. Die Taverne "Panorama" ist so geschlossen wie die Studios von "Katerina", "Poliyrizos" oder "Virgin Mary", es gibt keinen Minimarkt oder irgendetwas jenseits touristischer (und deshalb jetzt geschlossener) Infrastruktur.

 

Zum Glück hab ich das Geschenk des Bäckers von Anopolis dabei, wir verputzen russisches Brot und Sesamgebäck auf einer Bank oberhalb des Strandes sitzend.

 

Irgendwo hier befindet sich die Stelle, an der die kretischen Andartes um die Briten Stanley Moss und Patrick Leigh Fermor am 15. Mai 1944 mit dem entführten deutschen General Kreipe Kreta verließen und nach Ägypten übersetzen. Ihre Stiefel ließen sie am Ufer zurück, aber da Stiefel und Fußspuren mit Sicherheit eher nicht mehr zu sehen sein werden, sparen wir uns die Suche. Und auch wenn dieses Husarenstück der Generalsentführung (es gibt einige Bücher darüber, am aktuellsten das von Patrick Leigh Femor, erschienen im Dörlemann Verlag) sich gut zur Legendenbildung eignet, so war die Wirkung dieser Tat auf die deutschen Besatzer eher bescheiden, von den negativen Auswirkungen blutiger Vergeltungsmaßnahmen auf die kretische Zivilbevölkerung mal abgesehen.

Zurück zur Wintersonne in Korakas. Da kommt doch tatsächlich ein Auto, es sind deutsche Touristen auf der Suche nach Quartier und/oder Taverne. Nein, das sieht hier schlecht aus, und das müssen sie auch einsehen. Ich messe noch die Meerestemperatur: 17°, das ist etwas wärmer als in Elafonisi und eigentlich gar nicht so schlecht, aber ich hab ja keinen Badesachen dabei.

 

Den Rückweg gehen wir im Hinterland, eine wellige Piste, vorbei an giftgrünen Wiesen, silbrigen Olivenhainen, argwöhnischen Schafsfamilien. Wir kommen schließlich wieder an der Kapelle Agia Marina heraus und nehmen den längeren Serpentinenweg zum Auto zurück. Ein rot markierte Schafherde mit angeschlossenem großem Lämmerkindergarten kreuzt unseren Weg und weiß nicht wohin fliehen als ein Pickup die Straße herunterkommt. Die Lämmlein sind erst wenige Tage alt, und Touristen so wenig gewöhnt wie Autos. In wilder Flucht springen sie erst hierhin, dann dorthin, dabei bleiben wir ebenso stehen wie das Auto - don't panic! Schließlich Stampede hinab ins Tal.

Irische Landschaft?
Irische Landschaft?

Es ist halb drei am Mittag, und trotz des Gebäckvespers haben wir nun richtig Hunger. Ob das "Vatalos" auch schon nachmittags geöffnet ist? Theo möchte lieber Richtung Rodakino gucken, also biegen wir auf die Straße nach Osten ab. Was Luftlinie nur wenige Kilometer sind, erweist sich auf der Straße als endloses Geschlängel durch nette kleine Dörfer wie Skaloti, Argoules und Rodakino (Ano und Kato), die alle den entscheidenden Nachteil haben, dass es dort keine geöffnete Lokalität gibt. Immerhin eine schöne Gegend ist es. Wenn wir jetzt weiterfahren, landen wir in Plakias. Dort wäre vermutlich schon was offen, aber das ist uns jetzt definitiv zu weit. So drehen wir in Kato Rodakino um und versuchen unser Glück in Frangokastello. Aber natürlich ist das "Vatalos" auch geschlossen. Ob es wirklich abends offen hat? Es sieht so verlassen aus. Auch sonst Fehlanzeige. Wer sollte für die paar Einwohner und Residenten auch nachmittags öffnen und dazu noch kochen?

 

Immerhin, das Regenbogenwetter hat was, auch wenn es nur das Auge sättigt, nicht den Magen.

In Minimarkt kaufen wir ein paar Chips und Retsina als Notproviant, Theo besteht aber auf Besserem, und so landen wir schließlich - nachdem wir alle durchfahrenen Dörfer mit Argusaugen vergeblich auf offene Tavernen abgesucht haben - wieder in Chora Sfakion, wo die Taverne von "Nikos" am Ortseingang geöffnet ist. Vier Uhr ist es inzwischen. Das Speisenangebot ist ordentlich (bitte nichts vom Grill!), die Keftedakia (klassisch und Zucchini) samt Tsatsiki sättigen, sind aber kein kulinarisches Highlight und auch nicht wirklich preiswert. In der Provinz muss man eben Abstriche machen.

 

Von Westen her sehen wir in der Ferne die Fähre kommen, laut ANENDYK-Fahrplan verkehrt sie heute eigentlich nicht, aber wen schert das schon? Sie macht noch einen Halt in Loutro, und so haben wir Zeit, unsere Rechnung zu bezahlen, dann zum Hafen zu gehen und uns das Anlegermanöver im neuen Hafen anzusehen, das mit einem spektakulären Sonnenuntergang zusammenfällt.

Tatsächlich kommen auch zwei Touristen von der Fähre, im Hippie-Look. Ob sie auf Gavdos waren, oder in Agia Roumeli? Sie würdigen uns weder Blickes noch Grußes.

Schnell sinkt violette Schwärze über die Küste, Zeit, nach Komitades zurückzukehren. Weil Anette morgen zeitig nach Chania fahren möchte, bezahlen wir unsere Zimmer (zwanzig Euro pro Zimmer und Nacht sind sehr preiswert) und schwätzen noch etwas. Das Wetter soll morgen richtig schlecht werden, womöglich mit Schneefall auf der Askifou-Ebene. Wir müssen nach Iraklio für unsere letzte Übernachtung vor dem Rückflug (Pläne für Zaros hatte ich verworfen - da braucht man einfach mehr Zeit, und Kreta ist ja so elend groß), wollen entlang der Küste bis Plakias und dann über die Berge an die Nordküste.

 

Richtig hungrig sind wir ja nicht, aber wir sitzen später dann doch lieber im "Mesochori" in Chora Sfakion als in unseren unterkühlten Zimmer. Die Gästeschaft ist identisch mit der gestrigen, auch heute wird wieder Karten gespielt während über den Fernsehschirm ausgiebige Berichte über die Traktorblockaden in Nordgriechenland flimmern.

Der Speisezettel variiert auch nur geringfügig, insofern als die Tiefkühltruhe nur noch ein Loukaniko hergibt. Aber mir steht der Sinn eh nicht nach Bergen gebratenen Fleisches, ich begnüge mich mit einem Karotten-Kraut-Salat und partizipiere dezent an Theos Grillteller.

 

Draußen gibt sich das Wetter inzwischen alle Mühe, die Prognosen für morgen zu bestätigen. Es wird eine windklappernde Nacht.

Morgen treten wir die Fahrt nach Iraklio an. Hoffentlich schneefrei!