Giali - die Glasinsel

Die Mondfinsternis ist vollkommen, das heißt: der Mond ist weg. Aber er ist schlicht hinter dem Berg versteckt, wenn nicht hinter den Wolken, die den frühen Morgenhimmel zieren.

 

Ausgerüstet mit unseren Wanderschuhen, Badesachen und Proviant stehen wir rechtzeitig um zehn vor sieben Uhr am Hafen vor dem Boot "Agios Antonios". Wortkarg werden wir hereingewunken. Drei oder vier Steinbrucharbeiter sind schon da, einige kommen noch. Bis auf einen tragen sie alle grün-neonfarbene Arbeitskleidung mit Reflektoren. Sie würdigen uns keines Blickes oder Grußes. Vielleicht bringen Frauen kein Glück im Steinbruch? Die Besatzung des Bootes besteht nur aus zwei Männern - einem Steuermann und einem Helfer, ich vermute, sie werden direkt von der Steinbruchgesellschaft ΛΑΒΑ/LAVA bezahlt.

 

Das Boot legt pünktlich ab, sieben Arbeiter sind an Bord. Kurs Giali, das mit seinen westlichen, weißen Bimsterrassen schnell breit vor uns liegt. Die Insel Giali ist 4,5 Quadratkilometer groß (Länge 5 Kilometer) und hat aus der Luft gesehen die Form einer liegenden Sanduhr - an den dicken Enden liegen die Hügel mit den beiden Steinbrüchen (182 und 179 Meter hoch, Bims im Westen, Perlit im Osten), die verbindende Landzunge ist schmal und flach, dort wird nicht abgebaut. Laut Census 2011 hat Giali 21 Einwohner, es gibt aber keinen Ort, sondern nur Unterkünfte für Arbeiter.

 

Wir halten auf den Anleger am westlichen Inselteil zu, wo ein langes Förderband mit Kran ins Meer ragt. Dort legen wir nach einer knappen halben Stunde Fahrt an. Der Helfer erklärt mir, dass das Boot um 15 Uhr wieder abfahren würde, wir sollten pünktlich da sein. Bezahlen soll ich später.

Die Arbeiter sind schon von Bord, und wir stehen etwas verloren am Anleger inmitten einer mondlandschaftähnlichen Szenerie. Wobei es auf dem Mond ja kein Meer und folglich keinen Strand gibt, hier aber schon. Der Himmel ist immer noch bewölkt, was die Szenerie nicht aufhellt. Es ist aber auch gerade mal halb acht.

Links erstrecken sich die breiten Stufenterrassen des aktuellen Steinbruchs, weiter rechts wurde der Abbau wohl eingestellt, die Terrassen verfallen und hinterlassen höchst bizarre Steintürme. Ob man da näher rankommt? Davor riesige helle Berge von abgebautem Bimsstein, garniert von Förderbändern. Die Dimensionen sind beeindruckend.

Wir gehen der Arbeitern nach zu einem hundert Meter entfernten Barackendorf. Alles ist dort ordentlich beschriftet, sogar der Müll wird getrennt. Weitergehen Richtung Steinbruch ist aber verboten. Schade, aber das hatte ich befürchtet. Also biegen wir nach rechts ab, an einer Gärtnerei vorbei kommen wir aus dem "Ort" heraus zu dünenähnlichen Sandinseln voller Strandlilien und Wacholder. Und dieser knorrige Baum, das hat hier etwas urzeitliches.

Nur einen Steinwurf von der Anlegestelle beginnt ein langer Sandstrand, der sich in einem weiten Bogen bis zum östlichen Inselteil mit Felsen und einem weiteren Steinbruch hinüberzieht. Dort gibt es Obsidian, das glasähnlicher Vulkangestein, das der Insel Giali (= Glas) seinen Namen gegeben hat. Später wollen wir hinübergehen. Erst mal freuen wir uns aber über eine Strandliege und zwei Stühle aus Plastik, die vor einer sehr improvisierten Strandhütte stehen und sich optimal als Frühstücksplatz eignen. Eine Ikonostase vervollkommnet das Ensemble.

 

Von hier aus beobachten wir, dass der Frachter "SDS Wind", der schon gestern den ganzen Sonntag hier vor Anker lag, sich nähert und am Kran hält. Seine Leinen werden von zwei kleinen Schleppbooten an riesigen Pontons befestigt, und dann dauert es noch etwas bis alles klar ist, aber irgendwann läuft das Förderband und belädt das Schiff mit Bimsstein. Das wird den ganzen Tag und bis zum Abend dauern - die zuständigen Arbeiter müssen wohl Überstunden machen. Auf marinetraffic werde ich die "SDS Wind" später auf ihrer Fahrt verfolgen, ihr Ziel ist die Toskana.

Wir haben reichlich Zeit und gehen nach dem Frühstück zunächst den Strand entlang nach Osten. Das Ufer ist sehr flach, im ockerfarbenen Sand zeichnet das Meer feine graue Strukturen, weiße Bimssteinchen liegen überall. Und zunehmend Müll hinter dem Uferstreifen je weiter wir kommen. Ganz am Ende, wo sich der Strand zwischen Felsen und Steilküste verliert, sogar eine tote Schildkröte. Klar, für die paar Badegäste räumt hier niemand auf, auf Giali hat man andere Prioritäten.

 

Wir queren auf die nördliche Inselseite hinüber, vorbei an ein paar ärmlichsten Baracken. Kein Mensch zu sehen, aber das Dutzend Katzen auf der Terrasse einer Baracke lassen darauf schließen, dass sie regelmäßig gefüttert werden.

Das Gestein, das hier aus der flachen Landzunge herausragt, ist mit interessanten, schwarz glänzenden Schichtungen durchzogen. Und auch auf dem Boden liegen nun abgeschliffene Brocken des dunklen Obsidians. Giali war in der Jungsteinzeit schon bewohnt, damals war Obsidian ein begehrter Rohstoff für Werkzeug. Allerdings war die Qualität hier nicht so gut war wie die des Obsidians von Milos, weshalb der Handel  eine geringere Rolle spielte.

Ich gehe trotz des Verbotes ein Stück auf der Piste durch eine kleine Schlucht. In der linken Felsenwand hat es einige besonders schöne Obsidian-Formationen, die silbrig in der Sonne glänzen. Der Inselosten scheint überhaupt anders zu sein als der Westen - im Westen hat es vor allem Bims, hier Obsidian, die Felsen sind mit niedrigen grünen Büschen und Kapern überwachsen. Ziegen gibt es auf Giali nicht mehr.

Gut, dass ich die Wanderschuhe an habe - das Terrain ist tief und sandig. Und dann kommt ein LKW über den Hügel, biegt um die Ecken nach Norden. Nein, es ist schon besser, hier nicht weiterzugehen. (Interessante Luftbilder von Giali gibt es bei tripinview).

 

Inzwischen ist es halb zehn Uhr geworden. Wir haben noch viel Zeit, und setzen uns an der Nordküste auf einige sehr unbequeme Steine im Schatten - trotz des teilweise bewölkten Himmel sticht die Sonne. Die schwarzen Steine sind rau, und wenn sie angeschlagen sind, scharfkantig. Man sollte ein paar der Brocken mitnehmen, aber sie sind schwer - das Kontrastprogramm zum leichten Bims.

Eine eigentümliche Stimmung hier, so abseits allen Touristentrubels. Ein Hauch Südsee, ein Hauch Endzeitstimmung, ein Hauch Verlassenheit.

Auch die nördliche Landzunge wird von einem Sandstrand gesäumt, er ist aber etwas gröber und steiniger als die Südküste, im Meer verteilen sich Felsplatten, alles ist wilder als an der flachen, ockerfarbenen Südküste. Und natürlich hat es auch hier reichlich Plastikmüll.

 

Wir kehren entlang der Küste und durch die Wacholderheide schließlich wieder zu der Strandhütte mit der Sonnenliege und den Stühlen in der Nähe des Anliegers zurück. Ist das beste Plätzchen um sich länger aufzuhalten. Zeit zum Baden. Die Bucht ist sehr seicht, man muss weit hinausgehen bis man gut schwimmen kann.

Trocknen in der Sonne, gut, dass sie sich heute immer wieder hinter Wolken versteckt, sonst wäre es hier, ohne Schatten, nicht auszuhalten. Der Barackenbesitzer sollte noch einen Sonnenschirm für seine Badegäste bereit halten. ;-) Und eine Kantina.

 

Irgendwann legt ein Schlauchboot an und wird an Land gezogen. Ein Paar, das von einem draußen vor der Insel Agios Antonios ankernden Segelboot kommt und Richtung Steinbruch verschwindet.

Auf der unbewohnten kleinen Antonios-Insel gibt es nur ein Kapelle. Trotzdem hat ein Ausflugsboot dort angelegt. Mit dem Fernglas können wir sehen, dass ein Grill aufgebaut wird. BBQ auf Agios Antonios - auch ne Idee.

Später am Mittag ziehe ich dann doch nochmals los um mir den Steinbruch näher anzusehen. Ich gehe durch die westliche Barackensiedlung. Es gibt eine Kantine, wo ein Mann zugange ist, und eine Ebene weiter oben verlassene Gästehäuser. Dort sieht es aber recht verwildert aus.

Die Piste, auf der ich mich ab hier verbotenerweise aufwärts bewege, besteht auf eine Kies-Sand-Mischung, und ist schwer zu begehen. Der Regen hat tiefe Furchen eingegraben, ein beladener LKW dürfte hier nur schwer fahren können.

 

Das Ganze hat etwas von einer Winterlandschaft: weiße Bimssteinberge, weiße Pisten. Nur die Förderbänder wollen nicht so recht Skiliften gleichen.

Ich komme schließlich zu dem Punkt, wo der Steinbruch wie eine große Schüssel unter mir liegt. Darin lange Förderbänder wie eine riesige Spinne, und ein Bagger wie eine Ameise. Menschen sind nicht zu sehen, die Abläufe sind weitgehend automatisiert.


Rechts ragen die hellgrauen Erosionstürme empor, ein tolles Motiv. Das frische Grün, das den Steinbruch einsäumt, bildet einen hübschen Kontrast. Und die Farbe des Meeres an der Küste. Für eine so steinige Insel ist Giali abseits des Tagesbaus erstaunlich grün - es gibt aber auch Auflagen zur Renaturierung bzw. Wiederaufforstung (daher die Gärtnerei).

Plötzlich beginnt es, leicht zu regnen. So leicht, dass man das Gefühl hat, die Regentropfen kämen gar nicht auf dem Boden an, nur die Luft wird feucht. Und gleichzeitig präsentiert sich der Himmel in schönstem Weiß-Blau. Aber es wird der letzte Regen für diesen Urlaub bleiben.

Irgendwann werden die Bims- und Perlitvorkommen erschöpft, die Hügel abgebaut sein. Bis nach 2100 soll es aber noch reicht, Giali hat immerhin das größten Bimssteinvorkommen Griechenlands.

Ich steige wieder zu unserer "Strandhütte" hinab. Noch ein letztes Bad, abtrocknen in der Sonne. Dann packen wir unsere Sachen zusammen. Der Helfer des Bootes winkt uns schon um Viertel vor drei, dass wir kommen sollen. Pünktlicher Feierabend ist gewünscht: schon vor drei Uhr, als der letzte Arbeiter da ist, wird der Bootssteg hochgezogen.

 

Die Arbeiter sitzen jetzt um den Tisch im Bootsinneren, einer hat sofort ein Tavlibrett geholt. Zwei spielen, die anderen nehmen lebhaft teil. Wieder werden wir ignoriert.

Unter dem Förderband durch und vorbei am Frachter geht es zurück nach Mandraki. Die Rückfahrt dauert nur zwanzig Minuten. Und als ich den Kapitän nun nach dem Preis für die Überfahrt frage, möchte er nur zehn Euro für uns beide zusammen. Vermutlich ist die Mitnahme von Passagieren nicht erlaubt, und zur Abschreckung wird deshalb ein hoher Preis genannt.

Ich bedanke mich herzlich, und dann setzten wir uns ins Hafencafé auf ein Radler. Die "Agios Antonios" fährt dann sofort wieder nach Giali zurück - für die Spätschicht? Scheint aber außerplanmäßig zu sein.


Es gibt Hafenkino: die zahlreichen Tagesausflügler versammeln sich zur Rückfahrt, ein Zweimaster unter türkischer Flagge legt an (von diesen stattlichen Holzschiffen unter türkischer Flagge sind jetzt einige auf den Dodekanes unterwegs), und da kommt Erich Hänßler mit seiner Wandergruppe. Sie sind von Pali über die Panagia Evangelistria hierher gewandert, und müssen nach einer Einkehrpause noch heim nach Pali. Der Bus fährt aber erst um halb sieben, und das einzige Taxi kommt nicht von Nikia. Was Erich den Stoßseufzer entlockt "Im nächsten Leben werde ich Taxifahrer auf Nisyros! Und du, Katharina, darfst dann umsonst mitfahren!" Guter Plan zur Wiedergeburt. :-) Vorerst müssen sie aber zu Fuß die vier Kilometer auf der Straße nach Pali marschieren, oder unterwegs auf eine Mitfahrgelegenheit hoffen. Schwierig für eine Gruppe mit fünfzehn Leuten.

Wir wissen schon, warum wir lieber in Mandraki wohnen.

Unter den zwei Dutzend Länderflaggen, die am Hafen wehen, fehlt übrigens die deutsche und die Schweizer. Absicht oder Versehen?

Am Abend würden wir gerne in der "Fabrika" essen, aber wir sind heute etwas früh dran (wir haben Hunger!), und das Lokal sieht zu aus. An der Platia Ilikiomeni wäre Platz, aber zu "Irini" wollen wir ja nicht mehr. So landen wir schließlich wieder im "Panorama". Leider ist das Essensangebot heute nicht so groß, aber mit Gigantes, Hühnersuppe und Käse-Gemüselasagne werden wir satt.

 

Sollen wir unseren Aufenthalt auf Nisyros noch verlängern? Langweilig würde es uns nicht, aber ich habe ja auch Pläne auf Kalymnos. Und morgen (Dienstag) besteht die Möglichkeit, ohne Umsteigen von Nisyros nach Kalymnos zu fahren - das ist nicht jeden Tag möglich. Also lassen wir es dabei. Morgen um kurz nach elf geht die "Dodekanisos Express" nach Kalymnos. Die Tickets (€ 20,50 pro Person) holen wir uns gleich noch im Büro von Diakomichalis an der Hauptgasse in Mandraki.

 

 

*

 

Nach dem Frühstück ist noch etwas Zeit für einen Spaziergang auf der Straße nach Loutra. Die Strecke geht entlang der Küste und ist etwas über einen Kilometer lang. Vorbei geht es an einem Music-Club, der die Saison schon lange beendet hat, einem militärischen Unterstand, einer kleinen Palmenallee, und zwei Ikonostasia.

Loutra selbst ist kein Ort, sondern besteht aus einem kleinen Hafen mit kleinen Fischer- und Motorbooten, dahinter an der Uferfront zwei breite und hohe Gebäude. Das rechte, graue, ist innen weitgehend ausgebeint und verfallen, im linken, weißen befinden sich die Thermalbäder, die auch heute noch in Betrieb sind. Das Thermalwasser soll gegen Rheuma, Arthritis, Hautkrankheiten und Kreislauferkrankungen helfen. Die Türe ist offen, in einem Saal sitzt einer Frau, vermutlich die Bademeisterin. Öffnungszeiten gibt es auch, und ein kleines Café rundet das Angebot ab.

 

Ich umrunde das Gebäude mit Becken und Zuleitungen dahinter, teste die Temperatur einer kleinen Quelle, die ins Meer fließt (bestenfalls lau), und sehe mir den leicht vermüllten Kiesstrand an. Fazit: die fetten Jahre von Loutra sind definitiv vorbei. Ein noch größeres Kurgebäude gibt es bei Pali, bei der Panagia Thermiani, die wir uns vor fünf Jahren angesehen hatten. Es gab verschiedene Pläne für den riesigen Natursteinbau, aber wie der aktuelle Stand ist, weiß ich leider nicht.

Inzwischen ist es Zeit für den Rückweg. Im Hotel gibt es selbstverständlich eine Quittung, und ich sage dem freundlichen Herrn Haritos noch, dass uns der Aufenthalt in seinem Hotel gut gefallen hat. Von dem süßen, jungen Jagdhund, der auf der Terrasse angebunden ist und sich über jede Streicheinheit freut, verabschiede ich mich dann auch noch. Zu Fuß geht es dann zum Hafen, wo die "Dodekanisos Express" fast pünktlich anlegt.

Nisyros war eine meiner Lieblingsinseln, und ist es geblieben.

Ich werde wiederkommen.

 

Zunächst aber geht es - via Kos - nach Kalymnos.

Beim Zwischenhalt in Kos-Stadt sehen wir die Reihe Flüchtlingszelte entlang der östlichen Paralia, sehen die kaputten Schlauchboote und die auf einem Haufen liegenden Schwimmwesten. Im Oktober werden es noch mehr Flüchtlinge werden, beim schlechter werdenden Herbstwetter werden die Überfahrten dramatischer, und die Zahl der Ertrunkenen wird steigen.